Verwirrung angesichts eines Gentests

Ich habe einen Gentest gemacht.

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Zu 68,5 % bin ich Nordeuropäer.

Zu 68,5 % bin ich keineswegs allein „Deutscher“, nein, ich bin Flame, Franzose, Pole, Lette, Litauer, Este und Russe, und zwar alles gleichzeitig. Früher war ich Germane, Gallier, Kelte, Hunne, Normanne, Römer und vielleicht sogar Mongole, aber das meiste davon habe ich vergessen, weil ich nun angeblich vor allem „Deutscher“ bin.

Zu 17,9% bin ich Skandinavier.

Zu 17,9% mag ich es noch ein bisschen kälter als andere, und ich liebe Fjorde, Berge und Seen, sowie das raue Meer. Meine Vorfahren befuhren die Weltmeere, zum Teil plündernd und brandschatzend, zum Teil aber auch ganz friedlich. Manche haben angeblich Amerika entdeckt. Heute bin ich Norweger, Schwede, Däne, Isländer, Finne und noch vieles mehr. Zu 17,9% diene ich den anderen 68,5% oft als Vorbild, wenn es um soziale Sicherheit und Bildung, allerdings weniger, wenn es um die Besteuerung von Alkohol und Lebensfreude geht.

Zu 5,1% bin ich aschkenasischer Jude.

Zu 5,1% gehöre ich zu einer jüdischen Diaspora, die seit tausenden von Jahren meistens auf der Flucht vor irgendetwas ist. Ich war überall und bin überall. Man hat mich beschimpft, verfolgt, ermordet und gelegentlich um meine Nobelpreise und meine überdurchschnittliche Musikalität beneidet. Man hat mir unzählige Weltverschwörungen unterstellt, gewiss war ich aber nie so grausam zu irgendjemandem wie meine Feinde es zu mir waren und auch immer wieder sind. Ich bin unzählige Male zu anderen Religionen übergetreten und unzählige Male habe mich in Alma Mahler verliebt. Ich habe die Wiener Schule begründet und die Relativitätstheorie erfunden. Wenn ich die meisten Verwandten treffen will, muss ich nach Israel, denn dort sind fast 50% mit mir verwandt. Ich bin aber auch Ukrainer, Argentinier, Uruguayer und sogar Costaricaner. Ich bin Opfer des größten Massenmordes in der Geschichte der Menschheit, aber mit mir zusammen wurden weitere ermordet, die es ebenso wenig „verdient“ hatten wie ich, Homosexuelle, Roma, Sinti oder einfach nur Kranke und Unbeugsame. Nichts wird schneller vergessen, als der Mord an mir, und wer ein Mahnmal an mich baut, wird von Arschlöchern der „Schande“ bezichtigt.

Zu 4.1% bin ich Engländer.

4,1% von mir kommen tatsächlich nur von einer Insel, vielleicht war ich Pikte, Ire oder Kaledonier. Einst habe ich die Weltmeere beherrscht mit der größten Seemacht, die die Welt je sah. Ich bin ein bisschen exzentrisch, aber mein Humor ist berühmt, ebenso meine trockene Art, die bei Alkoholgenuss auch in üble Randale umschlagen kann. Ich habe das Wasser des Lebens, den Whisky, erfunden, und allein dafür sollte man mir dankbar sein. Ich habe das Singen in Fußballstadien vielleicht nicht erfunden, aber auf jeden Fall populär gemacht. Ich habe große Schriftsteller und Theaterautoren, Schauspieler und Staatsmänner als meine Verwandten. Aber ich trauere auch einer großen Vergangenheit nach, und in dieser Sehnsucht nach alter Größe isoliere ich mich manchmal oder lecke die Stiefel meines großen amerikanischen Bruders. 4,1% von mir sind daher gerade von 86,4% von mir ausgetreten, obwohl 50% dieser 4,1% das gar nicht wollten. Das ist ziemlich verwirrend für mich.

2,1 % von mir sind Iberer.

Ich bin Katalane, Spanier, Baske und Vandale, und noch vieles mehr. Ich habe zum zweiten Mal Amerika entdeckt, obwohl es eigentlich schon das hundertste Mal war. Ich habe angebliche Hexen und Ketzer verbrannt und den größten Roman der Weltliteratur geschrieben. Ich habe mit den Faschisten kooperiert und gegen sie gekämpft, ich habe politisch Andersdenkende verfolgt und den Stierkampf zu einer Kunstform erhoben. Ich habe mit wilden und schönen Frauen und Männern getanzt und die Gitarre zu meiner Göttin gemacht. Ich stand an der Küste und schaute furchtvoll und sehnsüchtig aufs Meer. Ich rang ein Weltreich mit ein paar hundert Mann nieder und raubte sein Gold, das ich im Meer versenkte. Wenn ich spreche, versteht mich fast der gesamte Planet.

2,3% von mir sind Afrikaner.

Ich bin zur Hälfte Nordafrikaner und Nigerianer. Ich war stolzer Herr und niedriger Sklave. Ich bin wahrscheinlich der erste Mensch überhaupt. Ich bin der bevölkerungsreichste Kontinent dieses Planeten, und nicht nur die katholische Kirche will, dass ich mich noch weiter vermehre, denn je ärmer ich bin, desto reicher ist der Rest der Welt. Ich durchschreite stolzen Schrittes die Savannen und Wüsten, ich habe die Pyramiden gebaut und Salomons Schatz versteckt. Ich habe zahllose Kriege gegen mich selber geführt und mich zahllose Male ermordet und wiedergeboren. Ich weiß, was Hunger bedeutet, und ich kenne die alten Gottheiten, die die meisten schon vergessen haben, und auf denen alle Religionen basieren.

Was ich aber nicht verstehe ist dies:

2,3% von mir ertrinken genau in diesem Moment im Mittelmeer, auf einem kleinen Schlauchboot. Während der Rest von mir darüber streitet, ob man mich retten soll oder nicht.

Und noch etwas verstehe ich nicht: Warum verstehe ich mich so schlecht mit mir selber?

Anscheinend bin ich mir selber zuviel.

Moritz Eggert

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