The Art Spirit. Buchempfehlung.

The Art Spirit

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Jede Kunst kennt das, was man einen „wichtigen Text“ nennen kann, ein Buch, in dem es nicht nur um eine bestimmte ästhetische Detaildiskussion geht, sondern in dem die Grundlagen des künstlerischen Schaffens an sich diskutiert werden. Busoni gelang so etwas in der Gattung Musik mit seiner „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst”, aber natürlich gibt es vergleichbare Texte über Literatur, Architektur oder Bildende Kunst. Was aber ganz selten gelingt ist, dass ein Text, der sich vordergründig an eine bestimmte Kunstgattung wendet, so inhaltsreich, inspirierend und allgemeingültig ist, dass er auf jede andere Gattung ausstrahlen kann.
Durch einen Hinweis in einem Essay des englischen Schriftstellers Neil Gaiman stieß ich auf ein solches Buch, von dem ich im deutschen Sprachraum noch nie gehört hatte: “The Art Spirit” von Robert Henri.

Henri war ein amerikanischer Maler, der um die vorletzte Jahrhundertwende wirkte und eine Art Bindeglied zum französischen Impressionismus darstellte (Henri hatte in Frankreich studiert und war sehr von der europäischen Ästhetik beeinflusst). Mit seinen Porträts und Landschaftsmalereien ist er in der amerikanischen Kunstgeschichte eine wichtige Figur, aber heute eher Insidern bekannt. Er wirkte unermüdlich und mit großem Einsatz als Lehrer und beeinflusste mit seinen Texten eine ganze Künstlergeneration.

“The Art Spirit” ist eine Art Sammlung von verschiedenen Texten Henris: Vorträge, Briefe, Essays und gesammelte Weisheiten aus seinem Unterricht. Es ist ein schmales Bändchen (ähnlich wie Busonis “Ästhetik”), um so gewichtiger ist der Inhalt.

Vordergründig spricht Henri über das Malen: es geht um Vordergründe und Hintergründe, die richtige Pinseltechnik, wie man mit einem Modell umgeht, welche Farben und Bildausschnitte man wählen soll, nur gelegentlich durchbrochen von kleinen Vergleichen zu anderen Künsten (Henri war Wagnerianer und erwähnt Wagner oft, ebenso hatte er eine Liebe zu Literatur und Architektur).

Was hat also Gaiman (und mit ihm mehrere Generationen von englischen Schriftstellern, die “The Art Spirit” in höchsten Ehren halten) an einem Text fasziniert, der sich erst einmal nur an Maler wendet? Ganz einfach: Wenn man z.B, das Wort “Bild” mit “Text” ersetzt; oder das Wort “Farbe” mit “Wort”, schafft Henri in einfacher und ungekünstelter Sprache etwas Bemerkenswertes, nämlich auch einen definitiven Text über Literatur zu schaffen, hierbei in vielerlei Hinsicht seiner Zeit weit voraus. Oder über Musik. Oder über Architektur. Auch Filmemacher und elektronische Medienkünstler (also Künste, die es zu Henris Zeiten noch gar nicht gab) könnten dieses Buch lesen und würden unendlich viel von ihm lernen können.

Henri ist nie dogmatisch, nie herablassend, nie belehrend. Stets redet er über Grundlagen, nie über Stile. Seitenlang ermahnt er seine Studenten dazu, sich nie mit schon gefundenen Lösungen zufrieden zu geben, sondern stets neue (und auf jeden Fall eigene) Lösungen zu finden, auch wenn diese dem akademischen Status Quo widersprechen. Hierbei spricht er über grundsätzliche Fragen des Künstlerdaseins und entwickelt eine Art “Ethik” der Künste, wobei ihm wichtig ist, dass die Kunst für die Fortentwicklung der Menschheit eine wichtige Rolle spielt (was viel zu selten thematisiert wird, obwohl alle es intuitiv wissen). Es interessiert ihn nicht, wenn etwas einfach nur kunstvoll oder geschickt gemacht ist, er hinterfragt stets den Inhalt, die Absicht, die Intention des Künstlers. Zwischendrin gibt es immer wieder inhaltsreiche Sätze, die so kurz sind, dass man sie fast überliest. Beispiel gefällig? “The eye should not be led where there is nothing to see”. Dieser simple Satz enthält eine profunde Wahrheit (auch für Komponisten, wenn man es als “the ear should not be led where there is nothing to hear” liest), über die es sich lohnt länger nachzudenken, denn wie viele Komponisten lenken zum Beispiel die Aufmerksamkeit des Hörers auf Unwichtigkeiten, während das eigentlich Spannende woanders stattfindet? Und das meistens unabsichtlich?

Über weite Passagen lässt er sich Henri auch darüber aus, dass im Grunde alle Menschen den künstlerischen Schaffensprozess nachvollziehen können und sollten, und das nicht nur, um diesen mehr zu würdigen, sondern auch, weil allem was Menschen machen das Potential zur Kunst innewohnt. Hier nimmt er an Gedanken vieles vorweg, was Joseph Beuys hundert Jahre später zu realisieren versuchte: jeder ist für ihn Künstler, solange er die richtige Haltung findet, auch “ungebildete” oder “unverbildete” Menschen können für ihn große Kunst schaffen. Dass er zum Beispiel den Zeichnungen von Kindern ein höheres künstlerisches Potential und Wahrhaftigkeit zuspricht als manche, akademischen “gut gemachten”, mag heute kitschig klingen, war aber 1900 ein unglaublich radikaler und moderne Gedanke.

Er sucht die Wahrhaftigkeit auch in dem, was er malt, und auch hier entspricht er nicht den Konventionen seiner Zeit. In einer Zeit, in der in Amerika Rassismus die allgemeine Norm war, schreibt Henri ungeniert über seine Faszination für Porträts der amerikanischen Ureinwohner (und auch lobend über deren eigene Kunst), die ihn mehr interessieren als Porträts der Reichen und Einflussreichen.
Nicht zuletzt macht er aber unermüdlich der jungen Generation Mut, in der für ihn die ewige Hoffnung liegt. Damit ist er ein früher Verfechter einer antidogmatischen und offenen Kunstauffassung, die in seiner Zeit alles andere als gang und gäbe war.

Den schon damals autoritätshörigen und akademietreuen Künstlerkollegen ruft er zu: “It is for the coming generation to judge you, not for you to judge it. So it must happen, whether you will it or not.”, und das in einem Absatz, in dem er den künstlerischen Wert von Preisen und Ehrungen grundsätzlich in Frage stellt.

Henri war also ein rundum sympathischer, neugieriger und weltoffener Mensch, dessen Text zu uns spricht, als sei er gerade eben erst geschrieben worden.

Daher empfehle ich dieses Buch all denjenigen, die sich Gedanken darüber machen. was es mit der Kunst eigentlich auf sich hat, und was das alles soll. Henris Gedanken sind inspirierend, mutig und eine direkte Aufforderung, sich nie auf vorgefertigte Antworten zu verlassen, sondern die eigene Wahrheit zu suchen, und dieser bedingungslos zu folgen.

Moritz Eggert

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