Amerikanisches Tagebuch, 5. Tag

Diesen Sommer verbrachte ich im August 2 Wochen in den USA, diesem seltsamen Land der Widersprüche, Abgründe und dennoch immer wieder auch Hoffnung. Der Grund: Musik. Ich besuchte sowohl die Musikfestivals in Tanglewood als auch in Staunton, Virginia, nur eine halbe Stunde von Charlottesville entfernt. Diese Aufzeichnungen sind eine Fortsetzung meines Komponistentagebuchs, Tag für Tag aufgezeichnet, nun schon in der Vergangenheit, aber nicht sehr weit entfernt von der Gegenwart.

Tag 5

Lincoln Memorial

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Beim Aufwachen stelle ich beim Blick aus dem Fenster fest, dass man mich direkt neben dem Kapitol untergebracht hat. Obwohl ich schon sehr früh abgeholt werde, entschließe ich mich kurzfristig, den langen Park vom Kapitol Richtung Lincoln Memorial zu joggen. Es ist Sonntagmorgen, und auch wenn man es von einer Hauptstadt wie Washington nicht erwarten würde – die Straßen sind wie ausgestorben. Auch die sprichwörtliche Angst der Amerikaner vor Terroranschlägen ist hier nicht so zu spüren wie man erwarten würde. Quasi alleine jogge ich die riesige Parkanlage entlang, ab und zu kommt mir ein anderer Jogger entgegen. Hier und da stehen ein paar Polizeiautos, aber auch nicht mehr als in Berlin bei irgendeiner Sehenswürdigkeit. Es ist geradezu friedlich und idyllisch, trotz des feigen Anschlags am Abend vorher. Ungehindert kann man die Stufen zum berühmten Lincoln Memorial hochlaufen. Das Memorial kenne ich vor allem aus dem Film „Flucht ins 23. Jahrhundert“, dort ist es allerdings mit Efeu überwachsen und Michael York und Jenny Agutter treffen auf Peter Ustinov, der wie ein Clochard in den Ruinen von Washington lebt.
Lincoln sitzt auf einem riesigen Stuhl und schaut staatsmännisch. An den Wänden ist seine berühmte Rede anlässlich des Bürgerkrieges in den Stein gehauen. Bis heute ist man erstaunt, wie klug und gewählt, wie versöhnlich und weise seine Worte gegenüber den damaligen Feinden gewählt sind. Ein gewisser Herr im Weißen Haus könnte sich eine Scheibe davon abschneiden, aber er ist wahrscheinlich zu dumm, um überhaupt zu verstehen, welches historische Erbe er weiterträgt.
Auch wenn vieles romantisiert ist, auch wenn er kein Heiliger war, auch wenn die Union sicherlich keine astreine Weste im Bürgerkrieg hatte – Lincoln war irgendwie doch ein guter Typ. So einen wie ihn bräuchten wir heute auch.

Shenandoah Valley

Es geht auf dem Highway Richtung Westen. Vorbei am Pentagon (wiederaufgebaut), vorbei an zahlreichen Bürgerkriegsschlachtfeldern wie Bull Run (winzig klein) führt der Highway in den Shenandoah Valley, ein schmales Tal zwischen den Allegheny Mountains im Westen und den Blueridge Mountains im Osten. Im Herzen dieses Tals liegt Staunton, die „Perle Virginias“. Inzwischen habe ich gelernt, dass man das „Stähnton“ und nicht etwas „Stohnton“ ausspricht, ebenso wie im amerikanischen Englisch die Tante auch „Ähnt“ heißt.
Im Auto ereifert sich mein Fahrer, einer der Sponsoren des Festivals, über die Spaltung Amerikas, über Trump, über die Scham in einem Land zu leben das so einen Präsidenten hat und so einen tiefen Verrat an seinen Grundwerten erlebt. Diese Worte werde ich noch öfter hören in den nächsten Tagen, was in gewisser Weise ein Anachronismus ist, denn bei Virginia handelt es sich sonst ganz sicher um „Trumpland“. Aber es gibt Ausnahmen – so zum Beispiel Charlottesville (das wegen seiner vielen Studenten als besonders liberal gilt) und das etwas beschaulichere aber eben auch idyllische Staunton, in dem die Welt noch in Ordnung ist. Als ich durch den Ort gefahren werde, staune ich nicht schlecht – solche Kulissen hat man zuletzt in amerikanischen Heile-Welt-Filmen aus den 50er Jahren gesehen. Jeden Moment erwartet man, dass James Stewart oder Gary Cooper um die Ecke kommen. Es gibt eine einzige Hauptstraße, einen Friedhof, kleine Parks, drumherum ist tatsächlich mal keine Mall- und Drive-In-Einöde wie sonst in Amerika, sondern einfach nur Wald. In Stähnton (35.000 Einwohner) kennt man sich. Man wird auf der Straße unbekannterweise gegrüßt und meine Gastgeber – das zauberhafte Ehepaar Carl und Linda, wie alle hier auch wütend auf Trump – lassen ihre Haustür stets unverschlossen, denn es gäbe keinerlei Grund, hier vor irgendetwas Angst zu haben. Vor den Häusern stehen Schilder, auf englisch, spanisch und arabisch: „Wo auch immer Du herkommst. wir freuen uns, dass Du unser Nachbar bist“.
Manchmal vergisst man, dass es auch dieses Amerika gibt. Ich bin froh, es zu erleben.

David Bowie lebt weiter als Kneipendekoration in Staunton, VA

Staunton Music Festival

Carsten Schmidt – der Gründer und Leiter des Staunton Music Festivals – hat bei demselben Klavierlehrer wie ich studiert, dem großen Leonard Hokanson. Wir lernten uns bei einem Meisterkurs in Wien kennen, aber das ist schon sehr, sehr lange her. Umso mehr freute ich mich, dass er mich zu „seinem“ Festival einlud. Was einst als kleine Konzertserie mit alleine Freunden als Zuschauer startete, hat sich in den letzten 20 Jahren zu einer beachtlichen Größe entwickelt. Inzwischen arbeiten dutzende Menschen in der Organisation des Festivals, alle ehrenamtlich, es gibt zahlreiche Förderer aus der Stadt und Musiker aus aller Welt (z.B. ich) können eingeladen werden. Carsten lebt abwechselnd in Bochum, New York und Staunton, hat also irgendwie das Beste aus 3 sehr verschiedenen Welten. Carsten ist bei dem ganzen Festival voll in Aktion – er dirigiert (vornehmlich Musik auf alten Originalinstrumenten, im Stehen gespielt), er spielt Klavier und Cembalo, rennt von Probe zu Probe, schaut hier und dort nach dem Rechten.
Reich wird hier niemand – die Musiker sind Freunde, die Programme erfreulich eklektisch und ohne Scheu, verschiedenste Musiken miteinander zu kombinieren. So kommen interessante Kombinationen wie „Ode an Napoleon“ von Schönberg direkt gefolgt von „I wish I had a brain“ aus dem „Zauberer von Oz“ zustande, letzteres anrührend vorgetragen von einer jungen schwarzen Sängerin, die eigentlich als Bühnenarbeiterin mitwirkt.
An meinem ersten Abend als Besucher erlebe ich ein Konzert im „Blackfriars Playhouse“, der einzigen Nachbildung von Shakespeares Theater auf dem nordamerikanischen Kontinent. Bachs „Kaffeekantate“ wird mit Darbietungen einer Commedia dell’arte-Gruppe kombiniert – so etwas habe ich bisher auch noch nicht gesehen.
Obwohl ich nur meinem Fahrer von meiner Koffergeschichte erzählt habe, weiß es inzwischen die ganze Stadt. „We’re so glad you made it here“ höre ich den ganzen Abend. Die ganze Stadt scheint mich zu kennen. Man kennt sich aber auch untereinander – nimmt am Leben der Anderen teil. Das Publikum ist ähnlich alt wie in Tanglewood, aber mindestens genauso enthusiastisch. Man ist stolz auf sein „Stähnton“. Ich denke zu Recht.

Ein nachgebautes Shakespeare-Theater ist einer der Spielorte des Staunton Music Festivals

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