Akute Musik – eine Gegenrede an „Neue Musik“ und Begriffsalternativen

Warum geht uns das Wortpaar „Neue Musik“ so auf die Nerven? Mich verstört sein Alter: 97 Jahre – was ist daran noch neu? Vielleicht blieb Elliott Carter auch Dank der dauerhaften inneren und äusseren Anwendung von Zwölftontechnik jung im Geiste. Diese boshaft unterstellte Kompositionstherapie macht allerdings Teile seines Spätwerks nur für Anhänger von ästhetischen Sicherheitskonzepten genießbar, für die Sekundintervalle samt Umkehrungen und Tritonus fast das einzige Hauptmodul für die Erkennbarkeit „Neuer Musik“ sind.

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Nachdem „Neue Musik“ sich in x-fache Untergruppen auftrennte, ist es extrem schwierig, einen anderen Überbegriff. Und sind nicht viele Ersetzungsversuche des Begriffs „Neue Musik“ komplett ungenießbar? In der Regel aus zwei Gründen: sie sind nur für Eingeweihte zu verstehen und sie klingen sprachlich schlecht.

„Zeitgenössische Musik“ ist ästhetisch, sozial und politisch abgewrackte Musik, sie sichert immerhin die Rente und das Gefühl, nicht vollkommen abgeschoben zu sein. Sie ist ein Museum für Oldtimer oder ein Pflegeheim für Privatpatienten.

„Klassische Moderne“ geht gar nicht, es sei denn, man liebt die „contradictio in adiecto“, also den Widerspruch zwischen klassisch und modern. Dieses Wortpaar ist der Friedhof, zumal die damit konnotierten Komponisten meist auch schon dort weilen.

„Postmoderne Musik“ hat irgendwas mit „man muß endlich wieder sagen dürfen“ und „Musik von allen mit allem drum und dran für alles“ zu tun. Bestenfalls ist es ein second-hand-shop, neutral Wiederverwertung, schlimmstenfalls Sondermüll.

„Jetzt Musik“ – ja, schön. Und jetzt, sofort Musik… Stille. Auch Musik, jaja. Aber macht doch mal jetzt, unmittelbar Musik.

„Aktuelle Musik“ liest sich wie „neue Musik“ im Newsletter eines Independent-Labels. Also Musik, die eben jetzt gemacht worden ist. Sorry, das ist neben dem Popbezug aber eigentlich fad. „Aktuelle Kamera“ stand wenigstens für ideologisch korrekte DDR-Nachrichten. „Aktuelle Musik“ ist heute in und morgen schon wieder out.

„Zeitgemäße Musik“ – was ist das Problem? Musik, egal ob sie gefällt oder missfällt ist immer gemäß der Zeit, eben in der Zeit erfahrbare Kunst. „Pflichtgemäße Musik“, das wäre bei Schöpfung des Begriffs angemessen gewesen, irgendwo zwischen Kant und Aktueller Kamera, siehe voriger Absatz.

„Gegenwartsmusik“, klar, dass dies in der protestantischen Bachstadt Leipzig gleich Institutsweihen erhielt. Es umschifft das Schlagerhafte von „Jetzt Musik“, das Modische von „Aktuelle Musik“ und zog seine Lehren aus der Zeitferne der „Zeitgemäßen Musik“. Zu verstehen ist die Begründung der Begriffswahl, die den Doppelbegriff in ein zusammengesetztes Substantiv überführt, nur für den, oder die, der, oder die, heute noch innerhalb von fünf Sekunden die konfessionellen Unterschiede in der Transsubstantiationlehre allgemeinverständlich vergegenwärtigen kann. Hochintellektuell, in Auswirkungen auf die Musikwelt gegenwärtig irrelevant. Immerhin hier der Begriff mit der höchsten Aufschreirelevanz.

„Relationale Musik“ finden die toll, die das Relative, autsch, die Relation zwischen Inhalt und Bedeutung sowie Idee und Klang aushören und auskomponieren wollen. Das ist die Umbenennung der Inklusion gerecht werdenden „Konzeptmusik“. Ausserdem ist dieser Begriff eher die Bezeichnung für eine Untergruppe der immer noch „Neuen Musik“. Aber immerhin: unter Harry Lehmanns Marienmäntelchen kann tatsächlich Vieles Platz finden, was man als heilige Asche „Neuer Musik“ auffassen könnte und so zum Oberbegriff werden könnte. Sprachlich leider eine Katastrophe.

Es wäre noch mehr aufzuzählen. Ein anderes Mal. „Neue Musik“ ist leider immer noch der neutrale Begriff, unter dem sich „Neue Einfachheit“ und „Zweite Moderne“ mit „Spektralismus“ und „Zeitgenössischer Musik“ subsumieren lassen. Zudem ist er kurz und sofort zu merken. Und es gibt eben eine gemeinsame Vorstellung, was „Neue Musik“ ausmachen kann, egal ob in einem Werk vereint oder nur allein dieses konstituierend: Atonalität / inhaltliche und/oder klangliche Kritik / erweiterte Spieltechniken / Aufbrechen gleichmäßiger Metren und/oder Harmonieverläufe / Alles kann Instrument sein / Alles kann Zeit sein / Alles kann Musik sein / Performance / Schichtung und/oder Reihung verschiedener Stilistiken, verbunden und/oder unverbunden / Elektronik live und/oder zugespielt. Ob das dann was neu Klingendes oder neu Diskursives ergibt, darüber kann man dann streiten. Man kann eintreten und austreten und war schon längst drin und ist es immer noch.

Allerdings versteht dies kaum ein Aussenstehender. Den interessiert neben dem Sich-Öffnen, vielleicht auch, ob es ihn inspiriert, im Moment oder bald danach, seien es klanglich oder inhaltlich. Es ist also eine Frage des richtigen Moments, was zu Erregung oder Tiefschlaf führt. Da gefällt mir am ehesten die Verkürzung des saisonalen „Aktuelle Musik“ zu „Akuter Musik“: Musik, die nicht nur interessant oder bemerkenswert ist, Musik die was hinterlässt, das sich im ungünstigen Falle kurieren lässt oder im besten Fale zu einer Art „intellectual modification“, denkerischen Erweiterung führt, mit allem Witz und Ernst, Schmerz und Freude.

Alles andere an bisherigen Begrifflichkeiten hinterlässt nichts, ausser das Grauen eines drucklosen und kalten Händeschüttelns. Was aber akut ist, das hinterlässt auch Wirkung, egal ob neu oder alt. Oder angesichts all der Stiftungen und neuen Fonds bald nur noch „Geförderte Musik“ oder „Ungeförderte Musik“? Dann besser schlichtweg nur noch „Musik“?

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Komponist*in

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3 Antworten

  1. Ich schreibe Dissonant Art Music.

  2. Jan Eustergerling sagt:

    Ich schlage vor, im Stil der Zeit: „academic brainfuck noise“ oder ABN.
    Das trifft es einerseits recht gut und ist punkig genug, das sich die gefühlte Avantarde dahinter versammeln könnte.

  3. Lieber Alexander,

    danke für diesen konstruktiven Beitrag zu einer wichtige Debatte.

    Für mich heißt die Antwort schlicht „Kunstmusik“ bzw. „Art music“, denn was bsp.weise Wolfgang Rihm, Olga Neuwirth und du machen, ist zweifellos eine Variante zeitgenössischer Kunst wie auch die Werke von Jeff Koons, Damian Hirst und Rosemarie Trockel. Und nur in diesem Kontext machen die Kompositionen der Erstgenannten auch Sinn und werden angemessen rezipiert.

    Ich finde es generell befremdlich, wie wenig sich Kunstmusik-KomponistInnen oft mit zeitgenössischer bildender Kunst beschäftigen oder gar auskennen, denn eigentlich sind doch Darmstadt und Donaueschingen ganz exakte Äquivalente etwa zur documenta oder zur Biennale in Venedig. Nur hat man bsp.weise in Darmstadt (wo ich letztes Jahr war) den Eindruck, hier wird als heißer Shit diskutiert, was an Kassel schon 1970 „durch“ war (Konzeptualismus, Postmoderne).

    So hat bsp.weise die Appropriation Art, eine durchaus einflussreiche Strömung in der Bildenden Kunst der letzten 30 Jahre, nach meinem Kenntnisstand bisher nur sehr wenige Kunstmusikkomponisten inspiriert, obwohl sich die Sampling-Technologie hier zur Umsetzung geradezu anbietet. Dasselbe gilt für Neo-Geo, aber auch für restaurative Tendenzen wie etwa die Neue Leipziger Schule (die man musikalisch mit neo-tonalen Ansätzen parallelisieren könnte): Wer macht sowas „als“ Musik? Ich denke, es wäre keine Schande für die Kunstmusik, sich hier einfach mal umzusehen und einfach mal zu machen, auszuprobieren, zu experimentieren, Anschluss zu finden.

    Immer wieder habe ich als externer Beobachter der „Neue Musik“-Szene den Eindruck, deren ProtagonistInnen haben es aufgrund der starken Institutionalisierung dieser Kunstgattung einfach nicht nötig, mal über den Tellerrand zu schauen, und auf: – ja – TRENDS im zeitgenössischen Kunstgeschehen zu achten, um im „Geschäft“ zu bleiben. Doch allein der Begriff „Trend“ dürfte vielen Neue-Musik-Menschen, denen ich begegnet bin, als Inbegriff des Oberflächlichen und deshalb Abzulehnenden erscheinen. Lieber strebt man nach „Überzeitlichkeit“ und vertont Hölderlin, Paul Celan, Anne Sexton oder Sylvia Plath (wogegen ich nichts einzuwenden habe, aber die Vertonung hermetischer Lyrik sollte nicht als alternativlos gelten).

    Die Welt der alten „Neuen Musik“ scheint mir in den letzten 25 Jahren mehr und mehr zu einem Sammelbecken von Reaktionären und Gegen-den-„Zeitgeist“-Schwimmern geworden zu sein, deren ästhetische Erziehung mit etwas abgeschlossen war, was man in der Bildenden Kunst Abstrakten Expressionismus nannte. Und der hatte bekanntlich in den 1950er-Jahren seine große Zeit.

    Kein Wunder, dass nun viele Junge aus der eurozentrischen Neuen Musik „austreten“ wollen: gut so. Gleichzeitig bleibt ihnen aber nichts anderes übrig, als in die globale Kunstmusik / Art music „einzutreten“. Denn einen dritten Weg sehe ich nicht.