Von den Grenzen des Gesangsrepertoires

In der Ausbildung und Berufsausübung klassischer Sängerinnen und Sänger wird ein großer Teil des Repertoires so gut wie ignoriert. Die Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Frühbarock spielen eine untergeordnete Rolle im Leben der meisten Gesangssolisten, ob sie sich nun der Oper, dem Oratorium oder dem Lied widmen. Am anderen Ende des Spektrums sieht es nicht besser aus – nur selten wagt man sich über das frühe 20. Jahrhundert, über die sogenannte ›klassische Moderne‹, hinaus. Das Publikum kann sich glücklich schätzen, eine florentinische Monodie oder ein Schönberg-Lied von jemandem zu hören, der sich nicht auf ›Alte Musik‹ oder ›Neue Musik‹ spezialisiert hat. Es gibt zwei musikalische Gattungen, die vom regulären Konzertbetrieb fast vollständig ausgeschlossen sind: Nichtsolistische geistliche Vokalmusik und Ensemble-Kompositionen, die nicht Bestandteil einer Oper sind. Dieses Problem verdient es, dass man ihm einige Worte widmet.

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Die Angelegenheit beschäftigt mich, seit ich begonnen habe, die Kunstmusikszene zu verfolgen. Ich verehre Sängerinnen und Sänger, aber ich bin merkwürdig berührt vom Desinteresse vieler von ihnen an einem Großteil der Musik, die für sie komponiert worden ist. Das Gesangsrepertoire scheint faktisch auf einen Zeitraum von etwa 250 Jahren begrenzt zu sein: Normalerweise kommen klassische Gesangssolisten gut mit Musik von Bach bis Strauss aus. Niemanden scheint es zu kümmern, wenn sie Werke von Josquin, Monteverdi, Lully, Webern, Schostakowitsch oder Britten beiseite lassen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Genannten ausnahmslos als prägende Vokalkomponisten ihrer Zeit gelten können, werden sie von Sängerinnen und Sängern der Gegenwart überwiegend ignoriert. Die Felder der ›Alten Musik‹ und ›Neuen Musik‹ erscheinen als Randbereiche des Kunstmusikbetriebs, die exklusiv von gesondert ausgebildeten Spezialisten bedient werden und über ein gleichermaßen spezialisiertes Publikum verfügen. Im Studium befassen sich angehende Sänger meist mit Stücken, die ihre Professoren für sie aussuchen oder ihnen anraten. Im Berufsleben wird die aufzuführende Musik häufig von Auftraggebern bestimmt – Dramaturgen, Labelchefs, Manager, Agenturen, Festivalleitungen – und nicht von den Musizierenden selbst.

Musik vor 1700 und nach 1900 kann nicht nur von Sängern, sondern auch von Instrumentalisten umstandslos übergangen werden. Welche Pianistin, welcher Pianist spielt schon zur Ergänzung des jeweiligen Kernrepertoires mal einen Frescobaldi, Froberger oder Stücke aus dem Fitzwilliam Virginal Book? (Gut, Glenn Gould und Francesco Tristano sind glorreiche Ausnahmen.) Welche Geigerin, welcher Geiger beschäftigt sich mit Gabrieli oder Marini, wo sogar Corellis Sonaten für viele ein unbekanntes Terrain darstellen? Wenn es allerdings um Vokalmusik geht, fällt die mangelnde Auseinandersetzung mit vorbarocker Musik noch unangenehmer auf, bedenkt man, dass das mehrstimmige Komponieren sich seit seinen Anfängen der Singstimme gewidmet hat. Viele bemerkenswerte Partituren fristen ein Schattendasein in Bibliotheken, ohne jemals aufgeführt zu werden, oder treten nur im Kontrapunktunterricht oder in Analyse-Seminaren in Erscheinung. Wie kann es sein, dass kaum ein ausübender Musiker die Gipfelwerke des Renaissance-Kontrapunkts auch nur kennt? Ich warte seit langer Zeit auf eine umfassende Einspielung von Lassos Bicinien, die dem Repertoirewert dieser Musik gerecht wird – es scheint, als würde Sängerinnen und Sängern nichts an diesen faszinierenden Stücken liegen.

Einer der Gründe für die Vernachlässigung von bis zu fünf Jahrhunderten komponierter, im Druck verfügbarer Vokalmusik ist offensichtlich die Schwerpunktsetzung in der professionellen Musikerausbildung, die weitgehend im Mainstream des Repertoires verharrt. Ein Gesangsstudium an einer europäischen oder nordamerikanischen Hochschule regt in der Regel nicht zur Einstudierung von Musik der Renaissance, des Frühbarock oder des 20. und 21. Jahrhunderts an. Das Höchste der Gefühle ist Debussy, vielleicht Berg. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Gesangsprofessoren Werke empfehlen, die sie selbst niemals aufgeführt haben, noch werden sie ihre Studierenden dazu anhalten, Caccini oder Ives zu singen, nur weil deren Musik größere Aufmerksamkeit verdient. Sowohl der ›Alten‹ als auch der ›Neuen Musik‹ wird unterstellt, eine spezielle Gesangstechnik oder besondere Fähigkeiten zu erfordern, die ein durchschnittlicher Lehrer angeblich nicht vermitteln kann, sei es aus fehlender Experimentierlust oder aus Mangel an eigenen Erfahrungen mit diesen ›Grenzbereichen‹ des Repertoires.

Ein weiteres Kernproblem besteht darin, dass die Ausbildung klassischer Sängerinnen und Sänger auf das Solistentum fixiert ist. Konzertfach- und Master-Studiengänge konzentrieren sich zumeist auf Oper oder Lied. Dies hat die Nichtbeachtung von allem, was nicht durch einen in der Bühnenmitte postierten Solisten aufführbar ist, zur Folge. Angehende Sänger würden durch die Beschäftigung mit geistlicher a-cappella-Musik gewissermaßen ihr Studienziel verfehlen – und so bleibt vokale Kammermusik (und damit viele der schönsten Kompositionen, die jemals geschaffen wurden) in der Ausbildung nahezu vollständig außen vor. Ich könnte mir anregende Konzertprogramme und Klassenabende vorstellen, in denen neben Terzetten und Quartetten aus Mozart-Opern auch Madrigale von Gesualdo und Chansons von Poulenc aufgeführt werden – oder, noch abenteuerlicher, Kombinationen der allgegenwärtigen Bach-Kantaten oder Oratorien mit Schütz’schen Vokalconcerti oder Distler-Motetten. Aber wann und wo passiert so etwas? Das Gesangsrepertoire ist das konservativste, wiederholungsträchtigste und hermetischste in der gesamten Kunstmusikszene. Der Tonträgermarkt zeigt sich im Allgemeinen etwas vielfältiger und wagemutiger als die Programme von Live-Aufführungen; aber die meisten Sängerinnen und Sänger greifen dann doch wieder zum bewährten Schubert oder Verdi, anstatt sich für ihre Debütaufnahme etwas Außergewöhnliches vorzunehmen.

Mir ist bewusst, dass tiefgreifende Änderungen in den Curricula und ein Wandel in der Einstellung des hochschulischen Lehrpersonals erforderlich sein werden, um in dieser Angelegenheit etwas zu bewirken. Dies führt mich zu einem Appell. Liebe Professorinnen und Professoren: Bitte ermutigt eure Studierenden, sich mit Musik zu beschäftigen, die nicht regelmäßig aufgeführt wird, und gestattet ihnen, Werke auszuwählen, die nicht euren eigenen Vorlieben und Repertoireschwerpunkten entsprechen. Liebe Studierende: Bitte seid neugieriger und mutiger. Erachtet es als eine Verantwortung des Musikertums, sich um vernachlässigte Kunstwerke zu kümmern, und versucht der Tendenz des Kunstmusikbetriebs entgegenzuwirken, einen invariablen Kanon an Standardwerken fortzuschreiben. Betrachtet eure Studienzeit als eine Experimentierphase. Fokussiert euch nicht ausschließlich auf eine Solistenlaufbahn, sondern widmet der vokalen Kammermusik und dem Ensemblegesang Zeit und Enthusiasmus (genau, diese Sachen, für die ihr nicht einmal einen Korrepetitor braucht). Wenn ihr Karriere macht, setzt euch für das Ungewöhnliche ein. Es wird Hindernisse und Vorurteile geben, mit denen ihr umgehen müsst, aber es ist die Mühe wert – ihr werdet euren persönlichen Horizont erweitern, und das Publikum und die Kollegenschaft werden euch schließlich Anerkennung erweisen.

Vokalmusik ist zu kostbar, um unter solchen grotesken Beschränkungen zu leiden – das Singen sollte überhaupt nicht in irgendeiner Richtung begrenzt werden. Anstatt den Gegenstand der Gesangskunst auf einen bloßen Bruchteil des Möglichen zu beschneiden, sollten ihre Ziele mit ihren Tugenden in Einklang gebracht werden, insbesondere in Bezug auf die Gegebenheiten der Klangerzeugung und die soziale Funktion. Schließlich handelt es sich beim Gesang um den emotionalsten, individuellsten und vielleicht vielseitigsten musikalischen Ausdruck, der möglich ist.

Wendelin Bitzan

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2 Antworten

  1. Albrecht sagt:

    Kann ich aus Sicht eines hörenden Laien gut nachvollziehen – wie gern würde ich mehr, sagen wir, Josquin und Ives hören.
    Interessant, das mit dem Einblick in die Berufsausbildung zu verbinden. Eigentlich ja naheliegend.
    „Sowohl der ›Alten‹ als auch der ›Neuen Musik‹ wird unterstellt, eine spezielle Gesangstechnik oder besondere Fähigkeiten zu erfordern, die ein durchschnittlicher Lehrer angeblich nicht vermitteln kann“ – und? Is det so? Mal janz naiv jefracht.

  2. Wendelin sagt:

    Dazu würde ich natürlich gern Meinungen von Gesangslehrer_innen hören. Habe diesen Eindruck schon verschiedentlich im Gespräch mit in der Ausbildung befindlichen Sängerinnen und Sängern gewonnen …