Donaueschingen 2016 – Hindemith im neuen Gewande, Kuchen und bitte mehr von alldem!
Das Schönste der Donaueschinger Musiktage? Immer der zweite Tage! Besonders gelungen, wenn die Sonne ab 13 Uhr auf den Platz vor dem Cafe Hengstler strahlt und das Kuchenbüffet von hinten bis vorne auszuprobieren ist oder schlichtweg sowas poppiges wie „Toast Hawai“ dort noch auf der Speisekarte zu finden ist, allerdings ohne obligatorische Cocktailkirsche serviert wird. Wie die Sonne strahlte übrigens Theo Geissler, der immer noch die ihm am Vortag verliehene FEM-Nadel des Komponistenverbands am Revers trug! Es wurde mir so warm, auch um’s Herz, dass ich tatsächlich mein Sakko ablegen konnte.
Zuvor gab es das Konzert mit dem Klangforum Wien unter der Leitung von Titus Engel. Auch wenn man über die Stücke kontrovers diskutieren mag, so waren sie allesamt von soliden Niveau. Rebecca Saunders legte mit „Skin“ auf Textfetzen von Beckett und Joyce los. Sie verfolgte eine Art Ästhetik des Atmens. Mit einzelnen Vokalen, Konsonanten, Luftschnappern und Bibbern der Sängerin Juliet Fraser begann und endete es. Derweil Saunders die Dichte zunehmend kumulierte, auch einmal im ersten Drittel ein Fortissimo wagte, was prompt die Sängerin übertönte, die perfekt für feinste blattgoldgehämmerte Pianissimi ist. Ein wenig an Spahlingers soundsoviel unerfüllte Augenblicke erinnernd, atmete sich Fraser zwanzig Minuten dem Ende entgegen. Fein ausgestaltet, schöne Farbmischungen, doch weniger wäre mehr gewesen. Allerdings bei reduziertem Material der Stille ist es immer schwierig den Ausgang aus dem Kaleidoskop aller instrumentalen und vokalen Perspektiven auf die Kargheit zu finden.
Ohne jetzt eine Frage der Geschlechter aufzuwerfen: die Komponistin des Mittags hatte die Traute zur Stille, die Herren drehten voll auf! Bernhard Ganders „Cold cadaver with thirteen scary scars“ für Hammond-Orgel, E-Bass, Schlagzeug und Ensemble konfrontierte das Klangforum Wien mit Steamboat Switzerland, kannte leise Trompetensignale wie auch Axtschlagen der Perkussionisten, wirklich leicht „scary“. Einer der coolsten Momente lag in der Ruhe von gedämpfter Trompete und irgendeinem Hammond-Orgel-Tremulant. Sonst pure Kraftentfaltung.
Fuchsteufelswild dann nach der Pause Michael Wertmüller „DISCORDE“ für Hammond-Orgel, E-Bass, Schlagzeug und Ensemble. Die Besetzung liest sich wie ein Double von Gander. Doch ging es hier noch verrückter zur Sache. Abgesehen von jazzartigen Soli für annähernd jedes Instrument, wozu die Bläsersolisten je nacheinander wie in einer Bigband aufstanden, scheint Wertmüller eine eigene Sympathie für Oboe und Englisch Horn zu empfinden. Der eine Spieler der beiden alternierenden Instrumente kämpfte zwar gegen die reinhauenden Streicher, Schlagzeuger, Bläser, E-Gitarren und die Hammond-Orgel ein wenig an. Doch statt der üblichen „sterbenden Schwan Vergeblichkeit“ des Englisch Horns streckte das Doppelrohrblattinstrument dem restlichen Ensemble seine Zunge raus, als hiesse es Tyrion Lennister und sei wie Peter Dinklage aus Game of Thrones, der es als Kleinwüchsiger dennoch mit jedem aufnimmt und alle überlebt. Fantastisch eine Nummer gegen Ende, wenn Glockenspiel und Hammond-Orgel um die Wette spielen. Überhaupt hat diese Virtuosität Wertmüllers was von Brian Ferneyhough, ist eine Art Concerto grosse wie dessen letztes Donaueschingen-Stück vor ein paar Jährchen. Bitte mehr davon!
Doch ein wenig muss ich den Herren doch heimleuchten: gerade spricht man gerne, wie weit die Neue Musik von der Popularmusik entfernt sei, insbesonders vom Rock, von der Clubelektronik und vom Jazz. Was spricht eigentlich dagegen, sich auf den frühen wilden Hindemith, Antheil, Strawinsky, Varèse und die Brutisten zu beziehen? Selbst Ravel ließ sich anno dazumal vom Jazz seiner Zeit hinreissen zu Klängen und Rhythmen, deren Ursprung auch in der Sublimierung der zeitgenössischen Musik der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zu finden wäre? Warum also immer dieses leicht zwanghafte dissoziieren von der eigenen Tradition oder muss genau diese genannte uns peinlich sein oder ist sie manchem diesseits der Jahrtausendlinie Komponierenden schlichtweg unbekannt? Und warum sind eigentlich die vermehrt die Ü50-Schallgrenze unumkehrbar Überschreitenden auf Biegen und Brechen punkiger als die nach 1990 Geborenen? Klar, sie wuchsen mit Punkmusik auf. Und dürfen das nun endlich nach 2000 in den Hochburgen der Neuen Musik ausleben. Aber rein klanglich, abgesehen von den E-Gitarren, wirkt dies so, als wäre Hindemith in seinen späten Zwanzigern schon auf’s Trautonium gestossen. Sprich: das 2016 Erlebte mag neu für den Betrieb der Post-Post-Postmoderne sein, aber nicht für die Neue Musik in strengster Auslegung… Dennoch mehr davon!!
Komponist*in