Ich habe Artsheimer. Ein Essay.
Ich habe Artsheimer.
Ich bin künstlerisch herausgefordert.
Ihr müsst mich nicht an der Ampel an die Hand nehmen, und ich finde auch den Weg alleine nach Hause. Aber es kann sein, dass ich mit der Steuererklärung nicht so gut zurecht komme und ein Problem mit Autoritäten habe. Oder vielmehr: Autoritäten haben ein Problem mit mir.
Es kann sein, dass ich melancholisch werde, wenn alle um mich herum fröhlich sind. Es kann sein, dass ich albern werde, wenn alle um mich herum todernst sind. Vielleicht ist das einfach nur eine Krankheit, man sollte sich nichts darauf einbilden.
Ich leide also an einer Krankheit, der Artsheimer-Krankheit.
Wenn all „hü“ sagen, sage ich „hott“. Wenn alle „hott“ sagen, sage ich „Holundersirup“.
Ich funktioniere nicht gut. Ich kann nicht erfüllen, was Andere von mir erwarten. Das liegt daran, dass mich das Unerwartete interessiert. In der Enttäuschung der Erwartung liegt das Glück der Entdeckung verborgen.
Ich komme nie irgendwo an, auch wenn manche fälschlicherweise denken, dass ich das behaupte. In der Kunst kommt man ohnehin nie wo an, sondern ist immer auf dem Weg irgendwohin. Das ist ganz sicher keine Schande. Die Angekommenen sind mir aber unheimlich. Und noch unheimlicher sind mir die, die genau beschreiben können, wo sie angekommen sind.
Ich möchte nicht genau wissen, was ich tue. Alles genau zu wissen ist kaltherzig und grausam und arrogant.
Wenn ich Fehler mache – und das geschieht oft – kommt niemand zu Schaden. Ich sehne mich nach der Vollkommenheit im Scheitern, dem Versagen in der Perfektion. Mir ist allzu bewusst, dass es nicht nur eine mögliche Welt gibt, und ich träume täglich von den anderen. Dieses Träumen ist eines der sichersten Symptome von Artsheimer.
Wenn ich in den Wald hineinrufe, verirre ich mich darin. Ich esse lachend mein Brot, und kenne dennoch die himmlischen Mächte.
Manchmal bin ich etwas verwirrt, weil ich zu genau weiß, was los ist. Manchmal bin ich zu erregt, weil ich abgekühlt bin. Meistens mache ich irgendwelche Scherereien.
Es tut mir leid, ich leide am Artsheimer-Syndrom. Lest das kleine Kärtchen, das ich euch hingelegt habe, vielleicht bin ich taub und beratungsresistent. Lasst uns darüber reden, warum ich stumm bin.
Ich bin ein glücklicher Versager. Ich bin anstrengend und unerträglich wie ein Lamm, sanft wie ein Tiger. Ich bin ein rohes Ei, das gepellt werden will.
Manchmal sehe ich die Dinge ganz scharf, auch ohne Brille. Und manchmal finde ich gerade die Unschärfe spannend.
Auf mich ist kein Verlass, daher kann man mir absolut vertrauen. Ich bin bescheiden in meiner Maßlosigkeit.
Ich sitze nicht still und ich kann meine Klappe nicht halten. Ich stelle zu viele Fragen und verstehe auch die Antworten nicht. Ich bin vorlaut und ungezogen, tue aber niemandem etwas zuleide.
Ich bin nichts Besonderes, aber dennoch nicht so wie jeder andere. Als Kind habe ich die Geschichte von der Maus Frederik gelesen und ganz genau verstanden. um was es geht. Eigentlich sollte ich mich schämen, im Winter keine Nüsse zu sammeln, aber ich sammle tatsächlich lieber Geschichten. Es ist der schlimmste Kitsch, sich damit zu brüsten, keine Nüsse zu sammeln. Und diese Geschichte wollte ich euch schon immer mal erzählen, vor allem dann, wenn es draußen kalt ist.
Ich bin dem Kitsch verfallen. Ich kann nicht still in der Ecke stehen, es ist wie ein Fluch. Ich bin ein stolzer Hampelmann, der sich selber aufzieht wie eine Orange.
Letztlich muss man erkennen, dass es unmöglich ist, vollkommene Bescheidenheit zu erlangen in einem Artsheimer-Beruf. Man sucht sich das ja nicht aus. Wir künstlerisch Herausgeforderten sind immer in irgendeiner Form aus der Reihe getanzt. Dazu muss man wohl stehen, also nehmt uns das nicht krumm. Ihr könnt euch wehren, indem ihr unsere bedingungslose Großzügigkeit herausfordert. Tatsächlich wäre es eine Schande, wenn wir euch nicht alles geben würden. Versteht das bitte als Aufforderung zum Tanz. Es gibt nie einen guten Grund, nicht gemeinsam zu tanzen.
Manchmal wird Artsheimer mit Wahnsinn verwechselt, aber das ist nicht dasselbe. Artsheimer darf nicht als Entschuldigung dafür missbraucht werden, ein Arschloch zu sein.
Mich interessiert die Abweichung von der Norm, weil sie neue Möglichkeiten erschließt. Vielleicht nennt man das Exzentrik. Ganz ohne Exzentrik geht es nicht, denn absolute Normalität gibt es nur in Diktaturen. Exzentrik ist eine Möglichkeit von Freiheit.
Da es aber Diktaturen, Leid und Unfreiheit gibt, brauchen wir zum Beispiel Schubert. Eine Welt ohne Schubert wäre keine Welt, in der ich leben möchte.
Manchmal höre ich zu, bin aber komplett abwesend.
Manchmal rede ich, und erwarte nicht, dass mir jemand zuhört.
Ich habe Artsheimer.
Moritz Eggert
Komponist
Ich wurde soeben diagnostiziert.
DANKE hr. eggert !!
Der Verfasser hat ganz etwas anderes als das auto-diagnostizierte Leiden; und es handelt sich zudem nicht um einen Essay.