Wie man eine Oper fertig schreibt. Jetzt aber wirklich.
Ich hätte es ja gestern schon tun können, aber dann war es mir dann doch zu hektisch und über’s Knie gebrochen. Also habe ich mir das letzte Stück des Stücks für heute aufgehoben. Es ist nicht mehr viel, vielleicht sind es 15, 20 Takte, und die habe ich eigentlich auch schon im Kopf. Aber zum prokrastinieren schreibe ich jetzt noch schnell diesen Blogartikel. Dann schreibe ich die letzten Takte und „Terra Nova“ ist fertig. Natürlich nicht wirklich. Vor mir liegen noch lange Monate der Korrekturen (vor allem der noch nicht fertigen Klavierauszüge), Partitureditieren, Arbeit im Tonstudio….aber das eigentliche, das Erfinden des Ganzen, ist dann getan. Der Rest ist Fleißarbeit.
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Man stellt sich als Komponist ja immer alles mögliche vor, vor allem imaginäre Personen, die sich ganz detailliert mit dem auseinandersetzen, was man geschrieben hat. Die gibt es natürlich nie, oder vielleicht mal 300 Jahre später wenn man sehr viel Glück hat, aber dieses Glück bringt einem dann nichts mehr. Auf jeden Fall denkt man immer, dass einem jemand ganz kritisch über die Schulter schaut und dann die Nase rümpft und „na, na“ sagt, wenn man etwas zu schludrig macht. Das ist dann quasi die imaginäre Vaterfigur des Lehrers, zumindest bei mir (Da heute auch sehr viele hervorragende Komponistinnen unterrichten, sind diese dann imaginäre Mutterfiguren in der Zukunft ihrer ehemaligen Studenten?). Wie auch immer: schlampig will man nicht sein. Daher will man auch so einen Opernschluss nicht runterrotzen mit irgendeiner billigen Lösung. Man hat einfach Angst, dass dann jemand sagt: „hier hat der Eggert es sich zu einfach gemacht“.
Ein Kollege schrieb mal eine gar nicht schlechte Oper, in der ihn plötzlich gegen Ende ein solcher Zeitdruck überfiel, dass er einfach am Ende das Orchester wegließ und die Hauptfigur 15 Minuten a cappella singen ließ. Das wurde dann irgendwie psychologisch begründet, hat aber nicht funktioniert, da das dann einfach immer so klang wie: „ich hatte keine Zeit, daher habe ich jetzt einfach mal dieses nervige Orchester weggelassen“. So ein bisschen billig halt. Sparsame Schlüsse, so wie zum Beispiel der des Adagios aus Mahlers Neunter, sind etwas Tolles, aber es muss sich dann auch wirklich zwingend als Konsequenz des Vorherigen ergeben, nicht klingen wie eine eilige Notlösung.
Das ist die große Gefahr bei Opernschlüssen, dass man sich vormacht, noch gute Einfälle zu haben, wenn man in Wirklichkeit keine hat. Überhaupt ist die größte Gefahr beim Komponieren diejenige, dass man sich selbst anlügt.
All diese Dinge fallen aber vielleicht auch nur anderen Komponisten auf. Und Schlampigkeit ist nicht unbedingt immer katastrophal. Wäre Mozart ein fleißiges und ordentliches Genie gewesen, man hätte ihn vielleicht kaum ertragen. So ist es irgendwie sympathisch zu entdecken, wo er ein bisschen geschludert hat. Auch im Schludern zeigt sich, ob man inspiriert ist oder nicht. Ob mein Opernschluss perfekt ist? Keine Ahnung – Perfektion ist etwas für Warmduscher.
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Am Schluss habe ich auf jeden Fall viel herumgewerkelt. Vielleicht auch deswegen, weil mich kürzlich eine Mail des Intendanten erreichte, in der mir mitgeteilt wurde, dass nach momentanen Plänen beim Schluss die ganze Hinterbühne geöffnet werden wird und Chor und Hauptdarsteller ca. 100 Meter vom Publikum entfernt sind, weil sie ganz hinten am Ende eines langen Korridors stehen. So hat sich Carlus Padrissa (Fura dels Baus) das ausgedacht, ist auch keine schlechte Idee. Hinzu kommt, dass am Ende der Oper quasi alle nur noch in einem (so steht’s im Libretto) „alien parlando“ singen, weil sie ja jetzt weiße Aliens ohne Gefühle sind. Wie man das in hundert Meter Entfernung noch hören soll, ist mir nicht ganz klar, auf jeden Fall denke ich mir, dass das Ganze schon verstärkt werden muss, und dass man die Alienstimme mittels eines Vocoder-Effekts realisieren sollte.
Nun stehen die ca. ca. 80 Darsteller (Chor, Kinderchor, 10 Solisten) nicht nur da hinten herum, sondern sollen auch laut Libretto eine Party veranstalten. Nun kommt in so einer Entfernung nicht wirklich Partystimmung auf, die sich zum Publikum überträgt. Und überhaupt: warum Party? Das sind doch jetzt alles unsterbliche Aliens ohne Gefühle? Warum wollen die plötzlich tanzen und abhotten?
Die Musik ist daher zwangsläufig eher monumental und monolithisch geworden. Monumental deswegen, weil die Entfernung überbrückt werden muss, monolithisch weil es hier um eine gefühllose Welt geht. Gleichzeitig muss aber der Hörer emotional einbezogen werden, es ist also die Darstellung einer Gefühllosigkeit mittels eines eher emotionalen Mediums (Musik). Das ist eine interessante Aufgabe.
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Die monumentalen Stellen sind schon komponiert, und das ist natürlich immer sehr viel Schreibarbeit, bei der man immer viel Geduld braucht. Wenn man nämlich von der piccolo-Flöte zu den Kontrabässen scrollt sind dazwischen irgendwie 80 Notenzeilen. Ich weiß, man kann auch Computermonitore senkrecht aufstellen und damit mehr sehen, aber auch das reicht nicht bei dem perversen Format, dass mein Verlag und ich hier verwenden (für Kenner: 800 mm Höhe, 420 mm Breite, Rastralgröße 5.5). Dass die Partitur so riesig ist, hat nicht mit meinem Größenwahn zu tun, sondern mit der simplen Tatsache, dass sich meine Librettisten Franzobel und Rainer Mennicken entschlossen haben, ständig Chor und dutzende von Solisten in fast jeder Szene aufzufahren, und das braucht einfach Platz. Ich glaube ehrlich, dass ich die Hälfte der Kompositionszeit nur damit verbracht habe, zu scrollen. Rauf, runter, immer wieder. Alex in „Clockwork Orange“ würde sagen „Das alte Rauf-Runter-Spiel“. Es ist das Spiel der Komponisten unserer Zeit. Beethoven musste noch nicht scrollen, dafür brauchte er ein Hörrohr.
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Nun aber zum Schluss der Oper: also, die Menschheit hat eine Rakete zu den Sternen geschickt, die Aliens sind aber schon längst bei uns und haben uns körperfressermäßig umgewandelt in weiße Unsterbliche. Einzig die Astronomin Pandura, die die ganze Reise überhaupt erst ins Rollen gebracht hat, ist noch nicht verwandelt. Nun soll die laut Libretto noch einmal auftreten und ihren Geliebten, Kolker, suchen, der aber schon längst ein weißer Alien-Zombie ist. Sie hat da noch einen Satz zu singen, mehr oder weniger „Kolker, wo bist du?“. Nicht direkt Arienmaterial.
Ich finde ja ganz gut, wenn man die Geduld der Hörer nicht überstrapaziert, und sich nicht in Sachen reinsteigert, die eigentlich nichts mehr Neues bringen. Daher liebe ich den Schluss von Tosca: Cavaradossi tot, Tosca springt vom Balkon, gut ist. Da wird nicht mehr lange rumgemacht oder endlos gestorben und dabei langweilig gesungen wie bei Wagner. Von Puccini kann man viel lernen, was Timing angeht, ganz ehrlich.
Deswegen habe ich mich entschlossen, dass Pandura nur ganz kurz hereinplatzt, so a la „nobody expects the Spanish inquisition“. Sie singt ihren Satz und schreit. Ich finde, dass Opern nur dann gut sind, wenn am Schluß eine Frau schreit, weil die das einfach so gut können. Bitte da jetzt nichts hinein interpretieren!
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Danach tritt laut Libretto der „Kleine Prinz“ auf, der quasi als idee fixe durch die Oper geistert, direkt aus dem Buch von Saint-Exupery. Kitschgefahr hoch 10 natürlich, Alarmstufe Rot für den Komponisten! Aber wie ich schon neulich geschrieben habe, Kitsch ist nur schlimm, wenn man Angst davor hat. Wenn etwas potentiell kitschig ist muss man es zulassen und an genau der richtigen Stelle brechen, und dann ist es vielleicht doch kein Kitsch, denn Kitsch will ja immer gefallen und nicht weiter aufregen. Musik sollte aber schon aufregend sein. Kitsch der mich nicht kalt zurücklässt ist guter Kitsch.
Der kleine Prinz in meiner Oper wird tatsächlich von einem Knaben gesungen. Ich erinnere mich, dass ich bei „musica viva“ in München mal ein ganz langes und langweiliges Stück sah (vor Ewigkeiten), das Publikum war schon halb weggedämmert, aber dann trat – kurz vor Schluss – noch einmal schnell ein Knabensopran auf, und keiner traute sich zu buhen. Nein, stattdessen großer Applaus für den unschuldigen Knaben, der ja für das langweilige Stück vorher gar nichts konnte. Ich bin sicher, dass der Komponist das perfide geplant hat, so wie man ja auch automatisch gute Kritiken bekommt, wenn man Opern über die „weiße Rose“ oder die Nazizeit schreibt.
Dieses „Knabensopran-As“ spiele ich daher ungern in meiner Oper, denn solche niederen Methoden sind natürlich unter meiner Würde. Hoffe ich zumindest. Ich habe natürlich auch eine wunderbare Entschuldigung, denn es steht ja so im Libretto drin.
Also, der kleine Prinz singt, wenn es ihm die Gewerkschaft für Knabensoprane erlaubt, noch so spät (die Oper dauert ja mit Pause 3 Stunden) aufzutreten, und er singt ganz kurz und ich hoffe es wird sehr schön und subtil (ich muss es ja noch komponieren, nachdem ich diesen Artikel geschrieben habe).
Und dann….
dann steht im Libretto, dass Pandura noch einmal dramatisch ihre Hand ins Publikum strecken soll, und dass man sieht, dass die auch ganz weiß ist. Nun hat das Publikum ja eigentlich verstanden, dass nun alle weiße Aliens sind, bringt es jetzt was, dass man zeigt, dass sie es auch noch wird? Und vor allem, wie streckt sie ihre Hand zum Publikum….aus hundert Metern Entfernung???! Das sieht man doch gar nicht, außer es wird (bei Carlus Padrissa nicht unmöglich) auf eine Videoleinwand übertragen, aber das ist nicht dasselbe.
Lieber nicht – ich lasse das weg. Ich finde es viel schöner, das Schicksal von Pandura offen zu lassen, vor allem um die Amerikaner im Publikum zu ärgern, denn wie wir Europäer alle wissen halten Amerikaner offene Schlüsse nicht aus und es muss alles ganz sauber aufgelöst und bis ins kleinste Detail geklärt werden, und dann stehen alle da und halten sich die Händchen. Wir dekadenten Europäer mögen dagegen so richtig offene Schlüsse, wie zum Beispiel den von „2001“ (nicht vergessen, Stanley Kubrick und Arthur C. Clarke waren keine Amerikaner, sondern, äh, Engländer, also zumindest fast Europäer).
Ich finde es ganz wichtig, dass Pandura ihr Händchen nicht streckt, denn sie ist eine meiner Lieblingsfiguren in der Oper, und auch die einzige wirklich liebende. Und die wahre Liebe rettet immer, nicht wahr?
Man könnte natürlich auch den anderen Weg gehen, und alles übertreiben. Pandura tritt auf, streckt ihre weiße Hand ins Publikum, verwandelt sich. Schlußakkord. Dann tritt die Souffleuse auf, streckt ihre weiße Hand ins Publikum, Schlußakkord. Dann tritt ein Bühnenarbeiter auf, streckt seine weiße Hand ins Publikum, Schlußakkord. Dann tritt….ich denke ihr versteht. Wäre zumindest ein guter Sketsch.
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Man hat sich ja bei einer so langen Oper an die Figuren gewöhnt und hat sie lieb gewonnen. Am Schluss hat man dann zwei Möglichkeiten: die Figuren springen vom Balkon, oder sie leben weiter. Für den Komponisten heißt es aber auf jeden Fall: Abschied nehmen, und das ist nie ganz leicht.
Autoren sprechen ja davon, dass Figuren ihr Eigenleben entwickeln, oft auch gegen den Willen des Erfinders. Bei Musik ist es nicht anders. Ich spüre oft, wie die Musik die ich schreibe sich dagegen wehrt in die Richtung zu gehen, in die ich sie drücken will. Da muss man nachgeben, denn dort wo die Musik hin will ist es meistens viel interessanter als dort wo ich hin will, mit all meinen Komplexen und Versagensängsten (die jeder von uns hat). Man kommt nie ganz dort hin wo die Musik hin will, aber es ist ganz schön, immer wieder einen kleinen Ausschnitt dieses Ortes zu sehen (hören) zu bekommen.
Bei langen Stücken wie Opern gewinnt die Musik manchmal eine solche Eigendynamik, dass sich bestimmte Dinge von selbst schreiben. Das ist schwer zu beschreiben, und bedeutet auch nicht, dass das Komponieren an sich einfach wird, aber es entsteht eine Art Fluss der dem Komponisten bestimmte Konsequenzen fast aufzwingt. Und dieser Fluss müsste mit dem Taktstrich nicht aufhören. Würde mir der Postbote jetzt noch einmal 20 Seiten Libretto bringen, ich könnte wahrscheinlich gut weiter arbeiten, da ich in der Materie drin bin. Und das heißt wiederum, dass man mit dem Schlussstrich auch lauter unerzählte Geschichten zurücklässt, verwaist auf halber Strecke. Vielleicht kommt daher auch das Loch, in das man nach einer solchen Arbeit unweigerlich fällt, und in dass auch ganz sicher ich fallen werde. Michael Ende schrieb dann immer „Und das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden“ (in der „Unendlichen Geschichte“, ein heute durch unsägliche Verfilmungen unterschätztes Buch).
Strategien zur Überwindung dieses „Geschichtenlochs“ gäbe es. Die beste Strategie ist vermutlich, direkt nach dem Ziehen des Schlußstriches eine neue Oper anzufangen. Das nehme ich mir immer vor, und tatsächlich muss ich auch tatsächlich direkt danach eine neue Oper anfangen, nämlich eine Kinderoper für Bonn. Und die wird sogar VOR „Terra Nova“ uraufgeführt (schluck). Mache ich aber nicht, stattdessen fahre ich mit der Familie in den Urlaub. Wo ich dann natürlich als allererstes in ein Loch falle.
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„Schlussstrich ziehen“ klingt immer so poetisch. Man stellt sich dann immer einen bleichen genialen Komponisten vor, der nach durchwachter und durchgearbeiteter Nacht mit zerzaustem Haar und mit einem fast nicht mehr existenten Bleistift zitternd einen Strich zieht und dann sinnend aus dem Fenster schaut, ergriffen von seiner eigenen Genialität.
Die Realität sieht anders aus. Der Komponist (ich) sitzt ausgeschlafen und mit Cappuccino versorgt in Unterhose und „Firefly“-T-Shirt vor seinem langweiligen Computer und markiert in Sibelius mit der linken Maustaste eine Linie, dann drückt er mit der rechten Maustaste auf den freien Platz daneben und wählt aus dem Menü „Taktstrich“ den Unterpunkt „Schlussstrich“ aus, was wegen der Rechtschreibreform dann auch noch ziemlich Scheiße beim Lesen aussieht. Nicht unbedingt ein Akt bei dem man gleich einem Maler Modell stehen möchte.
Ich finde es aber gut, wenn man beim Komponieren ganz nüchtern ist und keine Großmannsfantasien aufkommen lässt. Je nüchterner man ist, desto mehr kann man es innerlich kochen lassen. Ekstase zu komponieren heißt nicht, durch die Wohnung zu hüpfen und sich an seinem eigenen Mist zu berauschen. Ekstase komponieren ist harte, sorgfältige Arbeit, aber wenn die Ekstase dann komponiert ist, ist es das größte Glück. Keinen Stolz aufkommen lassen. Immer daran denken, dass das alles eh niemanden wirklich interessiert. Dann freut man sich, wenn das Gegenteil der Fall ist.
Aber dennoch: Vielleicht mache ich heute Abend eine gute Whiskyflasche auf.
Ja, das werde ich tun.
Moritz Eggert
Komponist
Herzlichen Glückwunsch zur reibungslosen Entbindung!
http://www.guntramerbe.de/alien.jpg
G. E.