Boulez‘ Bubble-List

Auch schon drüber gestolpert? Im Netz kursiert gerade ein Artikel, der angeblich aktuell eine Liste von Pierre Boulez mit den seiner Meinung nach zehn grössten Werken des 20. Jahrhunderts präsentiert: „Pierre Boulez Picks 10 Great Works of the 20th Century“ vom Autor und Blogger John Schaefer der Sendung „Soundcheck“ des New Yorker Senders „WNYC“. Ganz neu ist die Sache allerdings nicht: erstens stammt der Text aus dem März anläßlich Boulez‘ 90. Geburtstag. Und zweitens stammt die Liste aus dem Jahr 2000. Sie ist stark vor-1945-lastig und fühlt sich gewissermassen ein wenig wie „Klassiker der Moderne“ an sowie springt sie wild chronologisch umher: Edgard Varèses „Ameriques“, Alban Bergs „Drei Stücke für Orchester op. 6“, Igor Stravinskys „Sacre du Printemps“, Béla Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“, Anton Weberns „Sechs Stücke für Orchester“, Luciano Berios „Sinfonia“, Karlheinz Stockhausen „Gruppen“, Gustav Mahlers „Symphonie No. 6“, Arnold Schönbergs „Erwartung“ und zuletzt Pierre Boulez‘ eigene „Repons“.

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Irgendwie scheint das manches Seelchen ziemlich zu beunruhigen, dass z.B. Ferneyhough, Lachenmann, Cage, Feldman, Grisey, ja, gar Rihm, Yung oder Leute wie Lucier oder Spahlinger fehlen. Hier und da grummelt es „zu wenig Amerikaner“ oder „gar keine Frauen“. Seid alle beruhigt! Denn wie gesagt, die Liste ist inhaltlich wie in ihrer Entstehung ein alter Hut der letzten Jahrhundertwende. John Schaefer wärmt mit ihr nur die guten alten Zeiten auf, als er Boulez selbst traf, dieser Gast in seiner Sendung war. Denn diese Liste ist nichts anderes als die Playlist einiger Folgen von „Soundcheck“ im Jahre 2000! Indirekt verneigt sie sich sogar mit Varèse vor Amerika. Sie akzentuiert natürlich die für Pierre Boulez eigene Entwicklung wichtigen Komponisten, vielleicht abgesehen von Berio und Stockhausen. Und als Referenz für den nicht ganz unbekannten Dirigenten und Komponisten endet sie eben mit Boulez selbst. Das ist weniger eine konkrete Aussage über die eigene Wichtigkeit als ein dramaturgischer Schlusspunkt solch einer Sendereihe, wie man es immer wieder erlebt, wenn jemand porträtiert wird, seine „Vorbilder“ gespielt werden und zum Abschluss erst selbst erklingt.

Klar, Boulez ist auch für seine Arroganz und überbordende Überzeugung von sich selbst bekannt. Aber bewahrt ruhige Nerven, wenn Ihr selbst oder Eure Vorbilder nicht auf dieser Liste erscheint. Boulez mag sich bis vor Kurzem noch mit jungen Komponisten befasst haben, sehr wohl deren Förderung angestossen haben. Letztlich ist er aber ästhetisch mit dieser Aufzählung soweit in den Anfängen der Neuen Musik verhaftet, dass die wesentlichen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts zwar manchmal auf ihn fussen könnten, aber bei weitem andere Strömungen viel wichtiger sein dürften. Wenn es die Boulezschen Institutionen noch nicht interessieren sollte, dann bauen wir uns eben unsere eigenen. Und, bevor ich’s vergesse: was sind Eure wichtigsten Komponistinnen und Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts?

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3 Antworten

  1. poesie_vivante sagt:

    Tolle Ironie in Ihrem Artikel: Spahlinger oder Ferneyhough als potentiell wichtigste Komponisten des 20. Jahrhunderts zu zählen (für wohl manches unberuhigte Seelchen) – da ist grosses Lachen angesagt! Herr Strauch, Sie haben mir gerade den Tag versüsst! Vielen Dank dafür!

  2. Guntram Erbe sagt:

    Die Damen und Herren Komponisten – und die wird wohl Alexander Strauch mit seiner Schlussfrage gemeint haben (sich selbst eingeschlossen) – werden wohlweislich nicht preisgeben wollen, dass es meist Randfiguren waren, von denen sie beeindruckt wurden und die für sie die epochale Grundlage für Sprung und Landung sind. Schließlich ist ja tatsächlich nur wichtig, was bei ihnen hinten rauskommt (frei nach H. K.).

  3. @Alexander: Skrjabin, Strawinsky, Cecil Taylor [natürlich kein „Komponist“ im klassischen Sinn, da er keine Partituren publiziert, aber zweifellos ein Musikschöpfer, vgl. auch diese Dokumentation https://youtu.be/jWdqi45pzho ], Steve Reich, Klarenz Barlow.

    Beste Grüße sendet

    Stefan