Erinnerung (06.05.15)

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der man nicht – fast – alles auf YouTube fand. Sollte ich sehr alt werden, dann kann ich als vielleicht letzter lebender Zeitzeuge vor Schulklassen darüber sprechen, dass ich sowohl die deutsche Wiedervereinigung als auch die Entstehung des Internets bei vollem Bewusstsein miterlebt habe.

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Ich musste noch den weiten Weg von meinem Dorf in die Hannoveraner Innenstadt auf mich nehmen, um an Partituren und CDs heranzukommen. Die Kombination von Noten und Aufnahme war für mich verpflichtend. Es musste immer beides sein! Es gab da diese Zeit, in der ich nichts lieber tat, als mir Musik anzuhören und die Noten mitzulesen. Das war tatsächlich meine liebste Freizeitbeschäftigung. Während andere nichts mehr herbeisehnten als ihren erste Fahrstunden – ich habe bis heute keinen Führerschein – und dem Alkoholkonsum fröhnten – ich habe erst mit 22 mein erstes Bier getrunken – lag ich also Zuhause mit Kopfhörer auf meinem Bett und blätterte in Bibliotheksnoten.

Es musste Musik des 20. Jahrhunderts sein. Und da war es fast egal, welche… So hörte ich ganze Opern von Henze und Hindemith an, die heute nicht unbedingt zu meinen Favoriten gehören. Henze sogar überhaupt nicht. Henzes Musik finde ich größtenteils schrecklich – und dabei ist sie ja meist nicht einmal von ihm selbst komponiert worden. Egal!

Jedenfalls empfinde ich etwas Rührung für mich selbst, wie ich damals nach Noten und CDs gelechzt habe. Und es ist doch amüsant, dass ich für Noten von Komponisten des 20. Jahrhunderts meist immer noch in die Bibliothek fahren muss. Zwar nicht mehr so weit wie damals, aber immerhin bin ich doch insgesamt 50 Minuten außer Haus. Für Noten von schon länger toten Komponisten bleibe ich Zuhause im Internet. Auf IMSLP gibt es – fast – alles. Und auf YouTube die dazugehörigen Aufnahmen. Die damalige Situation: Binnen Sekunden rekonstruiert.

Gerade studiere ich die Noten von Schnittkes erster Cellosonate. Da kam mir diese Erinnerung.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.