Schlechte Stimmung im Konzertsaal (I)
Die sieben letzten Thesen zum musikalischen Kulturpessimismus
Vor Jahren habe ich einmal über das alljährliche Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker geschrieben. In dem Artikel verglich ich das Waldbühnenkonzert mit einem Weihnachtsgottesdienst. Denn: Es gibt Menschen, die gehen nur einmal im Jahr in die Kirche: an Weihnachten. Und es gibt Zeitgenossen, die besuchen nur einmal im Jahr ein klassisches Konzert: beispielsweise, wenn die Berliner Philharmoniker in der Waldbühne spielen.
Einen Unterschied arbeitete ich damals wohl für einige Leser offensichtlich nicht deutlich genug heraus (denn es gab ein paar Leserbriefe, die darauf hindeuteten): beides ist nicht zu verurteilen, sondern natürlich vollkommen okay. Aber: Weihnachtsgottesdienste sind meist die besten im ganzen Jahr. Der Posaunenchor hat geübt, die Kirche ist feierlich geschmückt und der Pfarrer legt sich so richtig in’s Zeug. Schließlich ist der Weihnachtsgottesdienst so etwas wie die erste DFB-Pokalrunde für Landesligavereine, die den FC Bayern zugelost bekommen. Volle Hütte, gute Stimmung, auch, wenn keiner wirklich dran glaubt…
Ich habe überhaupt nichts gegen das Waldbühnenkonzert. Ich hatte da bereits schöne Abende. Aber wer würde es bestreiten, dass künstlich verstärkte Orchester nicht das A und O in Sachen Klangästhetik sind? Warum gehen (gefühlt jetzt) an klassischer Musik durchaus Interessierte, die für das Waldbühnenkonzert viel Geld ausgeben, nicht auch einmal einfach so in die Philharmonie? Weil sie glauben, dass man da keine Jeans tragen darf? Weil sie nicht wissen, dass die Philharmonie eine hervorragende Akustik hat – und dass sie überdacht ist und vor Regen, Hagel und Schnee schützt?
Viele meinen, es sei einfach die besondere Stimmung in der Waldbühne. Eine Stimmung, die für ein klassisches Konzert unüblich ist. Angeblich. Und tatsächlich, oder ist das nur mein Eindruck?: Vor klassischen Konzerten beobachte ich häufig griesgrämige Gesichter. Als wären die meisten gezwungen worden, sich großartige, unverstärkte – also unplugged dargebotene – Musik von teilweise über hundert fähigen Orchestermusikern anzuhören.
Ist das also nur mein Eindruck, dass die Stimmung vor klassischen Konzerten häufig schlecht ist? Und wenn ja: Woran mag das liegen? Klar, ein klassisches Konzert ist kein Hardrockfestival. Aber warum immer so negativ?
In sieben Folgen möchte ich den möglichen Gründen für die schlechte Stimmung im Konzertsaal auf den Grund gehen. Morgen beginne ich.
Gerne fordere ich hier zum Mit-Diskutieren auf. Bis dann.
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.
Dann fangen wir doch mal damit an:
– „Weil sie glauben, dass man da keine Jeans tragen darf?“
Ja, die Leute glauben das. Sie glauben, man müsse sich als Konfirmand verkleiden, um solchen Veranstaltungen (ganz schlimm natürlich: Opernaufführungen) beiwohnen zu dürfen. Möchte bald lieber nicht wissen, wie viele Erstkontakte allein daran scheitern, wie viel potentielles Stammpublikum allein deshalb nie einen Fuß über die Schwelle setzt. Da helfen keine launigen und schon gar keine gereizten Kommentare, auch wenn einem die Klischees bis auf den Fußboden raushängen. Etwas entgegensetzen und wahrnehmbar machen, das die bestehende Möglichkeit vermittelt, sich den Laden einfach mal anzuschauen.
Und, übrigens:
– „ Aber wer würde es bestreiten, dass künstlich verstärkte Orchester nicht das A und O in Sachen Klangästhetik sind?“
Gilt auch dann, wenn es sich nur auf Gesangssolisten erstreckt. Mir wurde derartiges aus einem ostdeutschen Veranstaltungssaal berichtet, der (zumindest angeblich) eine sehr gute Akustik hat (und wohl bald dichtgemacht wird; die Rede ist also von G. an der Weißen E.). Man kann die Schilderung des Nichtkenners (ehemals größter Klassikhasser auf dem Gebiet der Ehemaligen Sogenannten) so zusammenfassen: Ging garnicht.
Schon seit langem möchte ich mal folgendes Experiment wagen: Ein Dirigent geht mit dem gleichen Elan, der gleichen Power wie ein Rocksänger auf die Bühne. Voller Adrenalin, hinter der Bühne ist er schon herumgetändelt, draußen tobt das Publikum, es läuft das opulente Intro und dann ist es soweit. Er rennt auf die Bühne, springt hin- und her, die Faust erhoben und will nur noch loslegen mit dem ersten Ton vom ersten Stück…
Und umgekehrt: eine heavy metal band verhält sich auf der Bühne wie ein klassisches Orchester. Alle stehen still und ernst herum. Dann kommt Frontmann/-frau auf die Bühne, verneigt sich. Dann wird noch mal kurz gestimmt und dann gibt es das Zeichen für den ersten Ton.
Hat jemand Lust, das mal mit mir als Video umzusetzen???
Na ja, die rumhüpfenden Dirigenten klassischer Musik gibt es doch längst, spätestens seit Beethoven oder Liszt, wenn die Zeichnungen dazu nicht trügen.
Und da fällt mir noch eine entsprechende klassische Sängerin ein, die nicht stillhalten kann. Ach, wie heißt sie gleich wieder?
Und blöd und steif rumstehende oder bestenfalls konventionell tändelnde Musiker gibt es jenseits dessen doch in jedem musikalischen Metier.
Oder irre ich mich?
Ich denke das Grundproblem liegt daran, dass wir de facto in einer geist -und kulturlosen Epoche leben. Die Leute brennen heute nicht mehr nach einer musikalischen Kultur, wie dies noch im 19. Jahrhundert – längst nicht nur beim Bildungsbürgertum – der Fall war. Man hat einfach danach gebrannt, eine neue Sinfonie von Brahms oder eine neue Oper von Wagner zu hören, die Zeitungen haben zum Teil auf den Titelseiten darüber berichtet. Es spielte keine Rolle, ob die Säle schlecht beheizt waren, die Sitze eng und die Konzerte hin und wieder zwei, drei oder mehr Stunden gedauert haben. Es war nicht von Bedeutung, welche Show ein Dirigent ablegt oder ob die Videos interessant genug sind: es ging um die Musik.
Wenn das gesellschaftliche Grundbedürfnis nach Kultur (früher hätte man es vielleicht mit „Seele“ bezeichnet) nicht mehr vorhanden ist und die Mehrzahl der Menschen mit dem gleichgeschalteten Nudelfunk – Bum – Bum zufrieden ist, helfen auch keine künstlichen Wiederbelebungsversuche. Ein Toter bleibt ein Toter… Das diese „Äusserlichkeiten“ so wichtig werden und diese Diskussion überhaupt existiert, zeig deutlich, dass das Wesentliche aus unserer Kultur verschwunden ist. Würde es dieses Wesentliche noch geben, so würde niemand danach fragen, ob man vor den Konzertsälen Luftballons aufhängen soll oder ob die Orchestermusiker nicht besser in Jeans auftreten sollten oder ob es bei den Jugendlichen nicht besser ankommt, wenn der Dirigent vor dem Orchester wie vor einer Rockband herumzappeln würde.
@Eberhard Klotz
Zu allen Zeiten gab es nur geist -und kulturlose Epochen, wenn wir denen glauben, die sich in solchen Zeiten als nicht geist- und kulturlos betrachteten. ;-)
Lieber Guntram, einverstanden. Schon Mozart wurde ja bekanntlich „mit einem Tritt in den Hintern…“ aus dem Dienst in Salzburg entlassen. Dennoch glaube ich, dass das Grundbedürfnis nach „Kultur“ allgemein höher war. Die Künstler waren vielleicht arm aber sie wurden von einer Welle der Begeisterung breiter Bevölkerungsschichten getragen, was sie dann wiederum zu künstlerischen Höchstleistungen inspirierte. Heute fehlt dies, denn wie könnte es sonst sein, dass etwa ein Popsänger, der drei oder vier Akkorde beherrscht und diese elektronisch verstärkt, von Massen vergöttert wird? In anderen Zeiten hätten wohl alle gesellschaftlichen Sicherungssysteme Alarm geschlagen: Wollen wir uns wirklich mit so etwas zufrieden geben? Haben wir keine anderen Ansprüche mehr?
Die Weihnachtsgottesdienste sind übrigens keineswegs die besten im Jahr. Das „Publikum“ ist sehr unerfahren, alles ist sehr unruhig, und die „Mitwirkenden“ sind leicht genervt. Also ganz ähnlich wie Waldbühne & Co.