Reenactment vs. Musiktheater – Wahrheit gegen Legende?

[Korrigiertes Update, 05.11.13] Vor wenigen Wochen erlebte das Umland von Leipzig eine Spektakel, was sonst in Waterloo gepflegt wird: viele Laiendarsteller stellten die „Völkerschlacht“ mit Uniformen und militärischer Ausrüstung des frühen 19. Jahrhunderts nach. Der einzige Unterschied war, dass es keine erschossenen Opfer gab. Für die Mehrheit der Teilnehmer wird dies ein Abenteuer zwischen Pfahldorf, Indianerspielen und Paintballmatch gewesen sein. Andere betreiben die Nachstellung historischer belegbarer Gemetzel mit wissenschaftlichen Anstrich als „living history“. Ohne direktes Ereignis nutzen Antikenforscher das Anlegen und Benutzen römischer Soldatenkleidung, Waffen und Alltagsgegenstände um die Bedingungen und Leistungsfähigkeit der Legionen experimentell ermitteln. Die Landshuter Fürstenhochzeit macht aus Reenactment ein Volksfest, Guido Knopp aus filmischen Nachstellungen umstrittene Vergangenheitsbewältigung.

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Im Bereich von Sprechtheater und Performance geht es im konservativen Sinne um die Konfrontation des Publikums mit der moralischen Wahrheit und der möglichen Selbstreflexion. Es verwundert daher, wie lange die Darstellenden Künste brauchten das Reenactment zu entdecken. Das meiste an der belegbaren Vergangenheit orientierte gönnte sich immer wieder interpretatorische Freiheiten. Vereinfacht gesagt ließ erst Rimini Protokoll lebende Akteure des Alltags vergangener Zeiten sich selbst spielen oder integrierte deren Live-Aussagen in ihren Produktionen. Neben den Techniken und Stücken der Brechtschen Tradition, die wissenschaftliche Wahrheit garantieren sollten, und Rimini Protokoll tritt spätestens seit 2010 der in Berlin lebende Schweizer Theatermacher Milo Rau hervor, der das schlachtspektakelnde Reenactment für die exakte Nachbildung geschichtlich belegbarer Vorfälle der letzten Jahrzehnte einsetzt.

So stellte er den Schauprozess und die sofortige Exekution des Ehepaars Ceaucescus nach. Er benutzte dazu wohl vor allem das bekannte Filmmaterial, denen unter uns, die 1989 den Umbruch des Ostblocks als Jugendliche bewusst wahrnahmen, sind die Dezember-Bilder des leugnenden und ungläubig über das Urteil staunenden Diktatorenpaares, ihre Abführung in den Hof, die Schüsse und der Kameraschwenk auf die unmittelbar Getöteten durch die damaligen Nachrichtensendungen in die Erinnerung eingebrannt wie die Bilder von einen Monat zuvor auf der Berliner Mauer freudig tanzenden Menschen – konträrer geht es eigentlich nicht. Zur Aufführung von „Die letzten Tage der Ceausescus“ mit Schauspielern kamen auch einige Zeitzeugen als Zuseher, wie der der Jury vorsitzende Offizier oder der Exekutor, nur die Ceaucescus fehlten naturgemäß. Folgt man ihren eingefangenen Meinungen zur Aufführung, wie man sie auf Internetvideos finden kann, hat Raus Team bis ins letzte Beben der Stimme und kleinste Zucken der Mundwinkel den Prozess genauestens nachgestellt.

Für „Hate Radio“ über den Genozid in Ruanda konnte er die später verurteilten Verantwortlichen im Gegensatz zu den Ceaucescus persönlich interviewen. Die Radiomoderatoren riefen auf Seiten des von Hutus dominierten Regimes mit lockerer Musik unterlegt zum Abschlachten der Tutsis auf, gaben Telefonanrufe über gesichtete Tutsis durch den Äther, als seien es Warnungen vor Verkehrskontrollen. Vor dem eigentlichen Reenactment der Sendung bekamen die Opfer eine Hommage in Form einer Installation, worauf die exakt gespielte Wiederholung der Sendung erfolgte. Das ist stark, das kann vor allem das Sprechtheater besser als gesangslastiges Musiktheater. Weitere Projekte waren bisher „Breiviks Statement“, das in Deutschland vor allem dadurch Aufmerksamkeit erregte, weil einige Aufführungsorte die Lesung der irrwitzigen Parolen des norwegischen Terroristen durch eine Frau als Verhöhnung der Opfer ablehnten. Und hier könnte man vorsichtig auch bereits die Grenzen des schauspielerischen Reenactments sehen: so sehr den Opfern Raum gegeben werden mag, so lockt vor allem das Spektakel rund um die Täter.

Später gab es „Die Moskauer Prozesse“ als Reenactment des Pussy-Riot-Prozesses, deren Aufführung regimetreue Kosaken störten, dann weiterlief, und „Die Zürcher Prozesse“ über einen dortigen islamistischen Prediger. In den Medien war Rau zuletzt mit der Schlagzeile vertreten, dass ihm die Einreise nach Russland zu weiteren Projektrecherchen verweigert worden sei. Überkritisch könnte man sagen, dass sich der aufklärerische Fokus von den Stückspektakeln nun medial auf den Spektakelmacher verschoben habe. Wann kommt nun dessen Reenactment?

Bisher fehlt der Begriff Reenactment im Musiktheater, abgesehen zum Beispiel von einer unscharfen Verwendung für die Rekonstruktion der „Sacre du Printemps“-Uraufführungschoreographie, wobei die Nachstellung des Publikumsskandals jener Uraufführung ausblieb. Das heißt, dass sich in der Musikgeschichte Reenactment eher auf die Umstände einer wichtigen Aufführung bezieht oder sich besonders für die Nachstellung von Situationen der Verkündung künstlerischer Manifeste und Aussagen eignet, sonst wäre bald jede historisch sauber musizierte Wiederaufführung eines Werkes ein Reenactment. Es kursieren eher andere Begriffe!

Im Opernfeuilleton liest man seit ein paar Jahren immer wieder den Begriff Doku-Oper, meist sehr schwammig eingesetzt: La Traviata in der Echtzeit der Oper an Schauplätzen im öffentlichen Raum als würde die Schmonzette wirklich heute stattfinden, Opernpastichos der Neuköllner Oper zu kriminalistischen Umerzählungen von bekannten Opernfiguren wie Rigoletto, eine Angela-Merkel-Oper, etc. Dies folgt der Stoffverarbeitungstradition, wahre oder literarische Motive, in eine eigene dramaturgische Richtung zu lenken, bei vollem Risiko der immerhin lustvollen Geschichtsklitterung. Ein Musical wie „Evita“ mag näher an der Wirklichkeit sein, verkitscht diese aber vollends. Das Regietheater versucht manchmal alte Opern durch die Inszenierung assoziativ an historisch unmittelbar vergangene oder aktuelle Geschehnisse anzukoppeln, folgt aber darin doch den Vorgaben des vertonten Librettos, kann nicht zur Gänze uns heute betreffende Geschichte exakt damit umsetzen. Man kann behaupten, dass Oper und Musiktheater von vornherein eher auf die Fiktion von Wahrheit als deren pure Vermittlung angelegt ist.

Ist Musiktheater also überhaupt originär in der Lage ein Reenactment hinzubekommen? Das Problem der Musik ist, dass sie die Zeitdauer der originalen Geschehnisse nur schwierig abbilden kann. Selbst wenn beispielsweise das Sprechtempo genauestens vertont wird, tritt mit der gesanglichen Ästhetisierung eine Ebene der Verunklarung hinzu. Wird das Tempo gesenkt oder gesteigert, ergeht es dem Text wie bei der Flüsterpost: ein Teil der gesprochenen Information geht immer verloren. Das gibt zwar der Musik Raum, streng dokumentarisch ist es aber nicht mehr. Musik bedeutet immer Sofortinterpretation durch ein weiteres Medium, bevor sich der Zuschauer, hier besser Zuhörer, eine eigene ungefilterte Interpretation erlauben kann – von welchen Störungen auch das immer generell begleitet sein mag.

Das verführerische am Reenactment im Sinne Milo Raus ist die zeitnahe Theatralisierung historisch bedeutender Ereignisse. In Sprechtheater und Performance kann solch eine Theatralisierung bei einer flexiblen Finanzierung und Truppe innerhalb von wenigen Wochen erfolgen, gerade wenn man filmisches Material schlichtweg nur anschauen und nachspielen muss, keine eigene Story und Dramaturgie entwickeln muss. Wenn Musik nicht improvisiert sondern komponiert wird, benötigen Oper und Musiktheater ein wenig mehr Zeit. Außerdem überführt Musik selbst genaueste Geschichtsabbildung immer in einen anderen Raum. Sie retadiert das Tempo des echten Ereignisses in ihre eigene Zeitlichkeit hinein. So ist man gezwungen, immer eine eigene Raffung möglichst breiten Materials vorzunehmen. Das bedeutet, eine eigene Gewichtung zu riskieren, was von der exakten Wirklichkeit in den Bereich der Legenden- und Mythenbildung führt.

Wie kann man dennoch versuchen, nicht ganz den historischen Wirklichkeitsfaden zu verlieren? Ich machte mir dazu ein paar Gedanken, als ich „NEDA – der Ruf, die Stimme“ komponierte, was ein relativ zeitnahes Ereignis der im Iran 2009 zwischen Installation und Oper ansiedelte:

1.) Man nehme ein aktuelles Ereignis, das nicht eindeutig tradiert ist oder dessen Wahrheitsgehalt von einer Seite bezweifelt wird. Dies lässt von Anfang an Raum für eigene Gedanken, Reduktionen oder Erweiterungen, die zum Beispiel den Gesamtkontext verdeutlichen könnten.

2.) Die Besetzung, das Bühnenbild , etc. ist so zu wählen, dass es ohne großen Aufwand zu realisieren ist. Das bedeutet keine Abstriche an die Anforderungen der Umsetzung der Komposition. Ein kleines mobiles Ensemble ist immer schneller als eine groß aufgestellte Institution.

3.) Als Textbasis benutzt man Wortfetzen aus dem Internet, aus den Nachrichten, aus Zeitungen. Für retardierende Momente sieht man sich nach Lyrik aus früheren Zeiten um, aber bitte nur Fragmente davon. Dies kann im besten Falle das behandelte Ereignis zur zeitlosen Parabel werden lassen.

4.) Keine Scheu vor Ton- und Filmmaterialien – auch aus dem Internet. Diese gilt es angemessen musikalisch wie bildnerisch zu bearbeiten. Auch wenn die Gefahr der nicht hundertprozentigen journalistischen Verifikation besteht, bringen sie das Dokumentarische in das Projekt, was das Sprechtheater so kongenial nachbilden kann.

5.) Das retardierende Generalmoment der Eigenzeitlichkeit von komponierten Musiktheater kann eingesetzt werden, um dieses Problemfeld überhaupt herauszuarbeiten. Durch das Spiel mit dem Tempo des zum Beispiel originalen Tonmaterials führt man die Zeitlichkeiten wieder annähernd zusammen.

6.) Stehen die Opfer der Ereignisse im Mittelpunkt, so sollen diese singen und die Täter nur sprechend zitiert werden, sind die Ereignisse um die Täter der zentrale Punkt, so gilt dies umgekehrt, wobei Musiktheater immer eine Tendenz zu den Opfern hat. Täter sinnvoll zu vertonen verlangt einem Alles ab und ist doch immer zum Scheitern verurteilt. Die einzige Ausnahme ist, wenn die Einteilung in „Täter“ und „Opfer“ oder neutraler in „Sieger“ und „Verlierer“ verschwimmt, der Sieger seine Verluste erahnt.

7.) Die Sänger auf keinen Fall die Personen des Ereignisses direkt spielen lassen, sie berichten über diese und schlüpfen nur in ausgewählten wichtigen Momenten in die Rolle oder geben die Sicht eines Beobachtenden wieder. Denn Gesang von Sprechtexten ist bereits eine Entfernung vom Wirklichen. Eine ausgefuchste Erfahrung kann sein, einen Darsteller dies möglichst nahe am Original sprechen zu lassen und eine singende Person darauf zum Beispiel direkt oder frei assoziativ Antwort geben zu lassen. Ein Schauspieler kann immer direkt ein breites Spektrum an Gefühlen abrufen und direkt zeigen. Ein Sänger wird durch die Komposition auf ein Gefühl oder einen Oberbegriff von ähnlichen Gefühlen eingeschränkt. Das mag ihn gegenüber dem Schauspieler benachteiligen. Das erzeugt aber auch wieder Distanz zum Sujet, so emotionalisierend das Gesungene auch sein mag.

Wie man sieht, sind Musiktheater und Oper immer latent parteiisch, was der Objektivität eines Reenactments im Wege steht. Dennoch gibt es die oben genannten und noch viele andere Wege, auch im Musiktheater und in der Oper so nahe als möglich an der Wirklichkeit dran zu bleiben ohne die genreübliche Verwässerung zu betreiben. Das Ergebnis ist dann eine etwas einseitigere Sicht der Dinge, weniger Distanz zum Geschehen und die Nähe zur Legende. Dies nimmt dem Spektakulären ein wenig das Reißerische und rückt im Gegensatz zum Reenactment das Humanistische wieder ins Zentrum, ganz im Sinne des traditionellen erzieherischen und berührenden Wahrheitsbegriffes des klassischen Theaters. Dies ist somit auch ein Weg zu einer gehaltsästhetischen Wende in Oper und Musiktheater, zur Aufladung mit Diesseitigem und Parteinahme mit den Verlierern.

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2 Antworten

  1. peh sagt:

    kunst als opferolympiade? ich weiß ja nicht …

  2. Mh, in Opern gibt’s ja generell Scheintote und Tot-Tote zuhauf. Das klassische Reenactment spielt sich auf Schlachtplätzen ab. Sogesehen stecken wir immer schon im Musiktheater im Existenzbedrohendem. Der Einbezug von wirklichen existentiellen Gefahren, die sich ereigneten, wäre eine Facette dessen, was schon Bestandteil ist. Mir stellt sich im Bogen eines wieder kriegführenden Deutschlands und der gestorbenen Opferolympiade von mediterranen Boatpeople, deren Situation eigentlich durch diese Kriegsführung verbessert werden sollte, die Frage, wann man jenseits von den eben erst abgeschafften Fangfragen bei Kriegsdiensverweigerungskandidaten sein o. ein anderes Leben einsetzt, aufs Spiel setzt. Wie holt man dies ohne zu große Fiktionalität direkter als bisher auf eine Opernbühne. Oder überlässt man das kapitulierend dem Film u. Sprechtheater. Die zimmermannschen Soldaten mögen manchem genügen, anderen sind sie mit der Atomkriegausrichtung für heute wieder zu abstrakt. Interessanterweise beamen die heutigen Inszenierungen dies auf die Lenzsche antiweibliche Pflanzschule unbewusst herab. So tut heute neu komponiert ein anderer Weg gut, warum nicht ein jetztzeitliches Musiktheater mit Links zum Reenactment. Gerade wg. den mir erscheinenden Widersprüchen beider Formen liegt ein großer Reiz im Unvereinbaren, solange die Musik nicht nur Filmscore dazu ist.