Die Prinzipien des Steve Martland – ein Nachruf

Wie ich schockierenderweise gerade erst erfahren habe, verstarb der englische Komponist Steve Martland schon diesen Mai an einem Herzschlag im Schlaf. Er war gerade erst 53 Jahre alt.
Dass ich davon nichts wusste, liegt daran, dass es tatsächlich keinen einzigen Nachruf auf ihn im deutschen Presseaum gab. Zumindest habe ich keinen gefunden, man möge mich also gerne korrigieren, wenn dies nicht stimmt. Das erscheint bei einem international gespielten und beim Schott-verlag verlegten Komponisten schon etwas merkwürdig.
Einer der Gründe für die hier herrschende Ignoranz dem Werk Martlands gegenüber mag in der Tatsache begründet liegen, dass seinem wichtigsten Lehrer – dem holländischen Komponisten Louis Andriessen – in Deutschland auch nach wie vor nicht die Bedeutung zugestanden wird, die er zweifelsohne international hat.

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Mit Steve verband mich vieles, und sowohl in Musik als auch Person war er für mich Vorbild, vor allem was seine kompromisslose und den Autoritäten und gängigen Meinungen stets misstrauende Grundhaltung angeht. Er galt als „Bad Boy“ der englischen Musikszene, trampelte engeblich live im Fernsehen mit Springerstiefeln auf einem Bild von Boulez herum und verspottete die oft sehr selbstgefällige kompositorische „Oberschicht“ Englands, der er Akademismus, Weltfremdheit und vor allem Klassendünkel vorwarf – und das nicht zu Unrecht. Zeit seines Lebens trat er – echtes Arbeiterkind aus Liverpool und Verehrer von John Lennon (und Michael Tippett!) – mit exakt dem selben Outfit in die Öffentlichkeit: weißes T-Shirt, umgekrempelte blaue Jeans, Kurzhaarschnitt und Doc Martens – Schuhe. Mit seiner beachtlichen Größe, knochiger und gleichzeitig athletischer Statur sowie fast holzschnitthaft länglichem Gesicht mit auffälliger Hakennase war er eine beeindruckende und manchmal auch ein wenig furchteinflössende Präsenz im Konzertleben Großbritanniens. Wenn er dirigierte, so tat er dies mit ganzem Körpereinsatz: mit den Handen zerfurchte er die Luft wie Bruce Lee bei einem Karatekampf, was ihn meist schweissgebadet und mit Armschmerzen zurückließ.

Gleichzeitig war Steve einer der reizendsten und herzlichsten Menschen die ich je kennengelernt habe. Als Lehrer und Mentor hat er ganze Generationen von jungen Komponisten unterstützt, gefördert und angeleitet, wobei es ihm immer ein besonderes Anliegen war, die jenigen zu fördern, die eben nicht von Haus aus bevorzugt, nicht Teil der „upper class“ waren: die Underdogs der englischen Gesellschaft, Kinder aus Arbeitslosenfamilien, Häftlinge, Sonderschüler. Für diese kämpfte er leidenschaftlich, ebenso wie er immer trockenen Akademismus und Götzenverehrung ablehnte.

Eine Antwort von Steve aus einem Interview mit Phil Johnson bringt es auf den Punkt:

„It’s because of this class thing,“…. „I just have a real ingrained antagonism to middle-class things. I hate petty pretensions, stupid rules, everything that’s expected of you. I am arrogant, but it’s about the establishment, about what people will do for just one little performance at the Proms… And that’s why everything they write is meaningless as far as I’m concerned… I actually believe what I say about education, about who music is for, and the whole, hideous, class nature of English society. It’s important to be on the outside because then you don’t have to suck up to anyone.“

Ich lernte Steve während meiner Studienjahre in London kennen und sah ihn in dieser Zeit regelmäßig. Obwohl es eigentlich keinerlei Verbindung zwischen uns gab (außer meiner Verehrung für seinen Lehrer Louis) behandelte er mich stets kollegial und freundlich, setzte sich für meine Musik ein. Dies bedeutete mir in einem Land wie England, in dem man sich als Ausländer sehr stark als Fremlkörper der „Szene“ fühlt und dies auch stets zu spüren bekommt, unendlich viel. Nachdem ich aus London weggegangen war, sahen wir uns nicht mehr so oft, aber stets fragte ich nach ihm, hörte wieder neue Anekdoten vom „schwierigen“ Steve, aber eben auch wieder wunderbare neue Stücke. Nach Deutschland kam er quasi nie. Ich habe ihn vermisst, und nun werde ich ihn noch mehr vermissen.

Ich habe Steve nie an einem Obdachlosen oder einem Bettler vorbeigehen sehen, ohne dass er diesen etwas gab. Es geschah fast reflexartig, nicht aus zur Schau gestelltem Gutmenschentum. Es kam vor, dass er die Londoner Obdachlosenzeitung „The Big Issue“ bis zu 10x täglich kaufte, da er es nicht übers Herz brachte, die Verkäufer abzuweisen. Er lebte immer das was er glaubte. Obwohl ihm nach seinem wirklich sensationell guten ersten Orchesterstück „Baby Yar“ die Orchester die Türen einrannten, schrieb er danach kein einziges Orchesterstück mehr, sondern lieber für sein eigenes Ensemble aus zum Teil Laienmusikern, die „Steve Martland Band“, für die viele fantastische und eigenwillige Stücke entstanden.

In seinem viel zu kurzen Leben schrieb er relativ wenig, und in den letzten Jahren fast nichts mehr. Hier ein Ballett, dort ein kleines Klavierstück. Der Klassenkampf schien ihn ausgebrannt zu haben, das Geld schien knapp zu sein. Spät wurde er überaschend Leiter der SPNM (Societe for the Promotion of New Music), einer Art englischem Komponistenverband. Ob er seine Ideen vom Klassenkampf dort durchsetzen konnte, ist mir nicht bekannt. Da er notorisch schweigsam über sein Privatleben war, weiß man auch nicht, ob sein Tod plötzlich war, oder sich durch Krankheit ankündigte. Nie habe ich ihn über Lebenspartner oder enge Freunde sprechen hören, Steve lebte vornehmlich in der Runde seiner Schüler und jungen Kollegen. Wahrscheinlich war er auch ein einsamer Mensch.

Seine Musik kann ich jedem nur sehr ans Herz legen. Er schrieb wenig, da für ihn der Akt des Schreibens ein Akt der Wahrheit war. Für ihn war Musik nur dann gültig, wenn sie aus einem dringenden inneren Feuer entstanden war, wenn er für sie entflammen konnte.

„Music is about the transcendent“…“This sense of the transcendent is what people get into at rock concerts, and in a way all music is connected to that. Ultimately, it’s a substitute for lost religious states.“

Sicherlich ist er stilistisch eindeutig der postminimalistischen Ästhetik von Louis Andriessen sowie der neuen New Yorker Downtown-Schule zuzuordnen. Seine Musik ist von treibendem Rhythmen geprägt, die oft an Rock- oder Popmusik gemahnen, monolithisch und von langen Pausen durchsetzt, dann wieder überraschend zart und humorvoll, trotz der häufigen einzigen Dynamikangabe in seinen Stücken: „as loud as possible“.
„Drill“ für 2 Klaviere halte ich nach wie vor für eines der besten Werke des Genres, und ich habe noch kein Konzert erlebt, in der dieses Stück das Publikum nicht gespalten hätte, denn es handelt sich um elementare Musik voller solcher Kraft, dass es manchen zuviel wird. Dann begegnet einem plötzlich trotz seines vorgeblichen Anti-Akademismus eine Verneigung vor Rameau, so in seinem charmanten „Remix“, für die Steve Martland – Band geschrieben.

Vielleicht war Steve in gewisser Weise ein englisches Phänomen, und vielleicht kann man ihn nur mit Kenntnis der dortigen Musikszene richtig einordnen. Gleichzeitig lässt mich das Gefühl nicht los, dass wir jemanden wie Steve Martland hierzulande bitter nötig hätten.

Und das ist vielleicht das größte Kompliment, was man ihm und seiner Musik machen kann.

Moritz Eggert

und hier noch eine Seite mit sehr netten Erinnerungen an Steve (auf Englisch)

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2 Antworten

  1. Max Nyffeler sagt:

    Merkwürdig, dass Martland in Deutschland nie eine Rolle gespielt hat, obwohl seine Musik doch eigentlich dem mitleidslos-harten Sound der Neunziger und Nuller-Jahre, der auch in deutschen Großstädten angesagt war, in nichts nachstand oder ihn sogar zuspitzte. Das zeigt wieder einmal, wie national orientiert die angeblich internationale Avantgarde doch ist.
    Ich kannte Martland nicht, doch 1999 habe ich in Huddersfield ein Konzert mit seiner Band gehört. Er und seine Musiker trugen eine Art Military Look, drehten die Verstärkung auf ohrenbetäubende Weise auf und schafften es damit, ein vorwiegend jugendliches Publikum pausenlos in Atem zu halten. Zu seiner zurückhaltenden (britischen?) Erscheinung bildete seine aggressive Musik einen frappierenden Kontrast. Vielleicht illustriert das, was ich damals geschrieben habe, noch etwas seine Musik und das Milieu, in dem er sich bewegte:
    „Die enge Verbindung zur Unversität hat dem Festival ein weiteres Publikumssegment geöffnet, das über die exponierte Avantgarde hinaus auch für Crossover-Phänomene aller Art offen ist. Ein Ensemble wie die Steve Martland Band trifft da genau den Nerv des studentischen Publikums. Mit ihren messerscharf artikulierten Bläser-Schlagzeug-Klängen und den obstinaten Rhythmen bewegt sich ihre Musik irgendwo zwischen Minimalismus, Hard Rock und Strawinsky. Sublimierte englische Proletmusik at its best.“

  2. Dennis Kuhn sagt:

    Vielen dank Moritz Eggert für den Nachruf auf diesen einzigartigen Komponisten, Bandleader und Performer. Ich hatte das im Mai mitbekommen und mich damals auch gefragt, warum es hier niemanden interessiert. Ich war sehr schockiert über seinen frühen Tod. Selber kannte ich ihn nicht persönlich, habe aber schon seit den 90er Jahren verfolgt, was er macht. Und das hat mich sehr fasziniert (Einmal habe ich mit seinem E-Bassisten zusammengearbeitet). Es war mir aber auch klar, das Martland hier im Deutschland der Darmstädter und anderen Schulen keine wirkliche Chance hat, gehört zu werden. Steve Martland war radikal und genial und damit hat er den direkten Zugang zum Hörer gefunden!