Vision oder Betrieb – Kommentar zum verkündeten Intendantenwechsel am Madrider Teatro Real
Persönlich kenne ich weder Gerard Mortier noch Joan Matabosch. Der belgische Mortier dürfte mich allerdings in meinen Opernerlebnissen mehr geprägt haben als der Katalane Mattabosch. Mortier ist in der Opernwelt weit herumgekommen, prägte unverwechselbar in zweimal circa 10-jährigen Marksteine setzenden Intendanzen das Brüsseler „Théâtre Royal de la Monnaie “ (1981 – 1991) und die Salzburger Festspiele (1990 – 2001). Dem folgte die Gründungsdirektion der Ruhrtriennale (2002 – 2004) und die Intendanz der „Opéra National de Paris“ (2004 – 2009). Sein Credo ist verkürzt gesagt, die alten und neuen Opernstoffe auf höchstem künstlerischen Niveau einem möglichst breiten Publikum aller Schichten zeitgemäß zu eröffnen: „Heute ist es die Oper, welche die Mythen, den Glauben rückerschliesst, all dies, was allmählich verloren geht.“ Was auf den ersten Blick rückwärtsgewandt klingt, brachte erheblich frischen Wind in die Opernmuseen des späten 20. Jahrhunderts. Die von ihm engagierten Regisseure pflegten mehrheitlich einen Stil, der die Opern mal von altem Pomp befreite und neuartig sparsam umsetzte (z.B. Ursel und Karl-Ernst Herrmann) bis hin zu Versetzungen in heute allgemein bekannte soziale Kontexte (z.B. Peter Sellars), an zeitgenössischen Komponisten förderte er Hans Zender, Luciano Berio, Olivier Messiaen, zuletzt populärer komponierende wie Pilar Jurado und Osvaldo Golijov. Nach der nicht angetretenen Intendanz an der New York City Opera, wo die Geldgeber sein Credo zu absoluten Ramschpreisen verunmöglichten und der mit Nike Wagner gescheiterten Bewerbung um die Leitung der Bayreuther Festspiele, übernahm er 2010 das Madrider „Teatro Real“, zuletzt glänzte er dort mit Mozarts „Cosi fan tutte“ in der Inszenierung von Michael Haneke, mit einem der wohl aufwändigsten Sänger-Castings, um den Vorstellungen des österreichischen Filmemachers gerecht zu werden.
Nach der von der Teatro-Real-Geschäftsführung gestern bekanntgegebenen Neubesetzung der eigentlich erst 2016 frei werdenden Madrider Intendanz mit Joan Matabosch, ist eine verworrene Situation entstanden: Mortier meldete sich letzte Woche per Zeitungsinterview zu Wort, bestand auf eine Beteiligung bei der Nachfolgersuche und nannte sogar mögliche Wunschkandidaten wie z.B. Pierre Audi oder Bernd Loebe. Den seit 1997 das Gran Teatre del Liceu künstlerisch leitenden Joan Mattabosch führte er nicht an, sondern soll über diesen gesagt haben: „Seine Idee hat nichts mit der Linie zu tun, die ich in den vergangenen Jahren verfolgt habe“. Was aber sind die Unterschiede zwischen beiden Matadoren? Das oben umrissene Credo Mortiers ist vor über zwanzig Jahren formuliert worden. Jeder Künstler oder anspruchsvolle Opernfreund, den nicht nur Sängerkulinarik interessiert und der Texttreue mit verstaubten Inszenierungen gleichsetzt, wird sich heute damit noch identifizieren können. Vergleicht man seit der Saison 2010/11 die Spielpläne von Madrid und Barcelona sind diese vor allem einZeugnis über der aktuell schwierigen ökonomischen Situation auf der iberischen Halbinsel. 2010/11 glänzt Madrid mit Messiaens „Saint Francois“, Barcelona mit Georg Benjamins „Into the Hills“ und Bergs „Lulu“, im Repertoire findet man an beiden Häusern alles zwischen Gluck und Britten. Als Regisseure fallen in Kastilien Carlos Padrissa und Willy Decker und in Katalonien Calixto Bieito, Pina Bausch und Claus Guth auf. Man ist sogar versucht, Barcelona in Bezug auf im 21. Jahrhundert wichtige Gestalten den Vorzug zu geben. Beide koproduzieren fleissig mit weltweit wichtigen Opernhäusern und Festivals, mit Manuel de Fallas „Retablo de maese Pedro“ (Meister Pedros Puppenspiel) gar zusammen, Konzertaufführungen von Opern sind nur zwei je Haus zu finden.
Die geplante Saison 2013/14 bietet für Madrid zuerst ein ähnliches Bild: zwei Konzertaufführungen von Opern, als zeitgenössisches Highlight Rihms „Eroberung von Mexiko“, eine posthume Bausch-Regie, Pierre Audi, Christoph Marthaler und Peter Sellars als Regisseure, weltweite Koproduktionen, Repertoire von Purcell und Gluck bis Wagner und Verdi, mit Charles Wuorinens „Brokeback Mountain“ gibt es a la „Dead Man Walking“ von Jake Heggie einen Hollywood-Bestseller als Oper, immerhin mit gepflegtem Expressionismus im Gegensatz zum Perwollscore zum Death-Row-Drama. Barcelona gibt sich mit Dallapiccolas „Il Prigionero“ etwas gemäßigter was das Zeitgenössische betrifft, verspricht im Gegensatz zur Saison 2012/13 nur eine statt zuletzt fünf Konzertaufführungen von Opern, wobei dies in der vergangenen Saison vor allem Wagner gewidmet war. Internationale Koproduktionen wie üblich fehlen auch nicht. An Regisseuren fehlen in Deutschland bekannte Namen wie 2012/13 Christof Loy oder wieder Claus Guth. Mit Laurent Pelly und David McVicar schlägt man wie Madrid mit Brokeback Mountain ebenfalls hollywoodhafte Töne an, Dmitri Tcherniakov ist der wohl regietheatertauglichste, erinnert man sich seiner Münchener „Chowanschtschina“ und „Dialogues des Carmélites“. Der gravierendste Unterschied: Madrid stemmt zwölf, Barcelona mit einem Doppelabend acht Produktionen, was den massiven Sparzwängen am Teatro Liceu geschuldet sein mag.
Abgesehen von der Produktionsanzahl und den lebenden Komponisten Wuorinen und Rihm in Madrid fällt erstmal wenig wirklich ins Gewicht fallendes verschiedenartiges auf. Man möchte eher von einem Wettstreit der beiden Häuser sprechen. Beim ersten Hinsehen klingen die Madrider Regisseure Audi, Sellars und Marthaler gewaltiger als die in Barcelona. Die am Liceu inszenierenden Namen sind aber die jüngere, durchaus erfolgreiche Generation, derweil die Madrider Namen vielleicht im konservativen Sinne aufregender sein mögen, dies als junge Künstler allemal gewesen sind. Loy, Guth und selbst Tcherniakov sind handwerklich vollkommen auf Augenhöhe mit den älteren Kollegen. Ihre Bilder und Umerzählungen sind aber manchmal etwas aseptischer, in mehr Grautönen gehalten, weniger frech, um ein paar Ecken mehr stoffverändernd, abstrakt-kühl und dabei doch risikoarmer als es Audi, Marthaler und Sellars in den Brechungen ihrer besten Jahren gewesen sind. Unterm Strich ist dies aber eher eine Generationsfrage. Im Vergleich zu den Achtzigern und Neunzigern des letzten Jahrhunderts ist die Gesellschaft an sich wieder kühler geworden, wird frühest für die Rente gespart, schnellstmöglich geheiratet, sind nicht einmal mehr homosexuelle Paradiesvögel zu finden wie anno dazumal, setzen gerade die jüngeren dieser Art auf cooles Design, Zurückhaltung in politischer Provokation denn grelle Farben und den Finger in der Wunde gesellschaftlichen Geschehens zu halten.
Was bleibt? Letztlich ist der Aufbruch Mortiers irgendwie ins Stocken gekommen und setzt die heutige Opernwelt anderen Punkten an: Erhalt von Häusern und Festivals in finanziell engeren Zeiten als zu Mortiers Durchstart, eine Abkehr von mit Vergangenem brechenden lebenden Komponisten, kein Stimm- sondern Rollencasting was selbst Mortier mit Haneke unternahm, Regietheater, welches sich radikal gibt und doch merkwürdig akademisch wirkt. Und dies musste selbst Mortier mitvollziehen. Ausserdem agieren Theaterverwaltungen heute viel interner orientiert als früher, mögen keine schrille Kommunikation ihres Personals via Medien, wie es Mortier zuletzt unternahm, verlangen administrative Kompromisse vor ästhetischer Durchsetzungskraft: die von konservativen Politikern bestimmte Kulturpolitik Spaniens dürfte ein Interesse an einem Nachfolger haben, der im finanziellen Notfall auch einmal das Programm abspeckt, wie es Joan Matabosch in den letzten Spielzeiten vollzog. Und blickt man sehr genau nach Deutschland zurück, stellt man gar nicht so viele Unterschiede zu Spanien fest. Dies ist aber eine andere Geschichte…
Komponist*in