Bruckner und Sterben
Ich schreibe so wenig, weil ich zu viele Ideen habe. (Ein Zustand, der Komponisten wie Textautoren nicht fremd sein dürfte). Andererseits ist mir mein zunehmender Pathos extrem peinlich – und ich würde ihn gerne in einem selten genutzten Küchenregal („Reis“, „Tee“ und nie wirklich der Originalverpackung entrissene Küchengeräte wie Friteuse und Sandwich-Toaster) verstecken. Darüber schreiben geht gar nicht. In letzter Zeit beschäftigen mich insbesondere Tod und Religion. Tod und Religion. Ich meine: Hallo?
Am Wochenende habe ich an einem Programmtext über Schuberts Unvollendete und Bruckners Neunte geschrieben. Vielleicht daher meine Nähe zum Thema Sterben. Sicher auch mein körperlicher Verfall. Patellaspitzensyndrom, eingeklemmter Rückennerv und seit gestern ein Hörverlust mit Tinnitus im linken Ohr. Leider alles auf dem Wege der Besserung – aber genug, um sich ein weiteres Mal mit dem Gedanken an einen baldigen Tod zu beschäftigen. Zumal mit 34 Jahren. Es geht dem Ende zu. Ganz deutlich.
Bruckners Neunte war das letzte Werk, das ich als Kontrabassist in einem Orchester gespielt habe. Das war 2006. Noch so ein „das-letzte-Mal“-Gedanke. Erst jetzt habe ich mir mal wieder einen Bogen zugelegt und etwas geübt. Intonation auf dem Kontrabass. Ein Thema für sich. Aber das macht es nicht interessanter, ich komme zum Punkt.
In der Tat beschäftigt mich Bruckner. Ich habe heute versucht (und das war als Autor von Texten über Musik immer mein Bestreben – nein, eigentlich mein Grundimpuls, der nur Jahre brauchte, um sich von den mahnenden Worten seiner „Respekt gegenüber der Musikgeschichte“ fordernden Lehrer emanzipierend Luft zu machen; das klingt jetzt ein bisschen nach Hitlers „Mein Kampf“ – und das tut mir wirklich leid) etwas Ehrliches über Bruckner zu schreiben. Ich habe das bereits mal in einem Aufsatz über Mahlers sinfonische Gewaltakte gemacht. 2007 in „Musik & Ästhetik“. (Und ich habe den Eindruck – egal, ob jetzt diese „Idee von mir“ stammt oder bereits bei after-Adorno-Schreibern angelegt ist; aber meine These war, dass Mahlers orchestrale Gewalt – die Sechste mit dem Hammer und so – im Grunde rein affirmativ rezipiert wird; nicht als Schicksal, nicht als Auschwitz-Vorahnung, nicht als „Hilfe, Alma, ich verrecke hier gerade wie ein Schwein!“ Sondern ungefähr so, wie man die Gewalt in Filmen Quentin Tarantinos lustvoll zu Gemüte führt sich. Ups, das „sich“ doch etwas sehr spät gebracht. Verzeihung.)
Mir war es immer ein Anliegen, ehrlich zu sein. Das Prinzip der (entwaffnenden) Ehrlichkeit ist für mich ein ästhetisches Prinzip. Und ein total unterentwickeltes zugleich. Es gibt Komponisten, die würden am liebsten komplett anders komponieren als sie es aktuell machen. Aber sie wollen sich eben nur auf diese Weise in ihren Werken „äußern“, wie sie es tun. Und ich bin sicher: wäre dieser Mut da, dann wäre das eine feine Sache, die mich wirklich wieder für den Gegenstand „Neue Musik“ einnehmen würde (der mir leider etwas vermiest wurde; oder den ich mir selber durch mein ganz und gar nicht – haha! – karriereförderliches Schreiben selber vermiest habe; jedenfalls institutionell, ähem… aber auch inhaltlich).
Zurück zu Bruckner. Ich habe mal in einer Rezension (auch so etwas, das ich nicht hätte tun sollen: Musikkritiken schreiben…) über ein Konzert mit Mahlers Wunderhornliedern und Bruckners Erster mit der Staatskapelle Berlin unter Michael Gielen behauptet: „Mit ihren abgespulten Formstandards ist Bruckners Sinfonik im Grunde frühe Konzeptkunst. Gielen vermittelte diese Kunst so, dass sie einen berührte: eine Readymade-Musik, die einen richtig fertig machte.“
Ich mag diese Sätze immer noch sehr. Obwohl natürlich auch viel Schwachsinn darin steckt. Aber den mag ich doch auch so. Menno…
Jetzt habe ich über Bruckners Neunte (in dem besagten Programmheft, das jetzt fertig wurde) folgendes verzapft: „Ähnlich wie in Schuberts Sinfonie h-Moll spürt man anhand von Anton Bruckners unvollendeter Sinfonie Nr. 9 weniger den Verlust im Sinne eines „unfertigen Werkes“. Vielmehr ist Bruckner – anders als Schubert – aufgrund eines, klingt blöd jetzt, zutiefst humanen, ja wegen des intimsten, privatesten, aber auch banalsten Ereignis im Leben eines Menschen überhaupt mit der Sinfonie nicht fertig geworden: Er ist einfach gestorben. Dieses Wissen verändert das Hören von Bruckners Neunter. Wenn ein Mensch stirbt, erscheint er den anderen immer merkwürdig menschlich und privat. Sensible Naturen empfinden selbst zynischste Politiker im öffentlichen Sterben plötzlich als weich und seltsam liebenswert. Bruckner war dabei alles andere als zynisch. Aus seiner Musik spricht eine ehrliche, nicht nur religiöse Menschlichkeit. Gerade in seiner Einfachheit der Themensetzung, in dem manchmal etwas vorausschaubaren Plan, diesen Themen-Block nach jenem Überleitungs-Block zu bringen, steckt Bruckners menschliche, sympathische Sinfonie-Essenz. Formulieren wir es unverschämterweise ruhig einmal allgemein: Bruckner ist uns so nah, weil sein kompositorischer Bauplan durchschaubar-durchhörbar, ganz nah an uns dran und authentisch ist. Keine Geheimniskrämerei. Umso mehr in seiner Neunten, über der er gestorben ist. Offenes Testament. Nicht ganz vollendet. Aber groß und unendlich in seiner Kraft. Darf man heute eigentlich noch offen sagen, wie viel Erbauungspotential in Bruckners Sinfonien steckt?“
Pathetisch, ich weiß.
Das Erbauungspotential von Bruckner-Sinfonien (und das soll nicht faschistoid, sondern ganz freundlich gemeint klingen) ist in der Tat enorm. Ich empfehle jedem pianistisch fähigen Liebespärchen, Bruckner-Sinfonien (am besten die langsamen Sätzen, die lassen sich problemlos vom Blatt realisieren) vierhändig zu spielen. Das ist extrem amourös. Und erbauend.
Zurück zu meiner Grundthese zu Bruckner: Bruckner ist der ehrlichste Komponist des 19. Jahrhunderts – vielleicht neben Charles Valentin Alkan (auch so ein Liebling von mir; aber wesentlich weniger populär). Er legt die Karten offen auf den Tisch. Macht keine Mätzchen. Seine Übergänge sind kompositorisch alles andere als subtil, sie sind sogar dilettantisch, oder, anders gesagt: ehrlich. Es passiert nicht mehr als das, was passiert – und was alle hören.
Deshalb lachen wir insgeheim über Bruckner – und lieben ihn dennoch. Ein offenes Buch.
So, fertig, Fragment, keine Lust mehr. Was für ein Gelaber! Echt jetzt: sorry.
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.