Was ist Hochkultur? Plage und Elixier!
Ich bin ein braver Leser der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ), besonders deren Feuilleton. Dies hat erstens familiäre Gründe, um die Welt immer mal wieder durch die schweizerische Zeitungsbrille zu betrachten. Zweitens biete diese konservative und in die Hochkultur verliebte Zeitung im Internet eine überregionale und internationale Kulturkritik an, wie sie andere deutsche oder österreichische Blätter dort nicht mehr leisten wollen. Lässt sie sich zudem in die Niederungen der freien Szene oder des kulturellen Untergrunds herab, bietet sie manchen Erkenntnisgewinn, den andere versagen. Auch wenn man gegenteiliger Meinung ist, ist die NZZ einer der geeigneteren Spiegel für die eigene Wahrnehmung. Typisch in ihrer Haltung widmete sie sich letzte Woche dem Lamento Mario Vargas Llosas („Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst.“ Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013) über den Verfall der Hochkultur in einer Welt von „Beckenbauer und Bentley, Gottschalk und Goethe, Messi und Massai, Papst und Porno“ – so der Autor des Artikels, Andreas Breitenstein – wo doch der religiös ungläubige Vargas Llosa „in der hohen Kultur das Heilige schlummern“ sieht, „das Gesellschaften im Innersten zusammenhält“. Das ist eine elegante Breitseite gegen jeden Blogger, dessen essayistisches Gefasel vom Alltagsgeschehen lebt.
Was aber ist eigentlich heute „Hochkultur“, speziell im Bereich der Musik in Deutschland? Unbewusst habe ich oben bereits die freie Szene und den Untergrund davon abgegrenzt. Im Umkehrschluss wäre jede institutionalisierte Produktionsform von Musik Hochkultur. Oder frei nach Vargas Llosa: alles was „hohe“ Themen besetzt wäre demnach hochkulturell eingefärbt. Das betrifft öffentlich finanzierte Opernhäuser und Orchester. Das bezieht sich auch auf Ausbildungsstätten, von der staatlichen Musikhochschule bis hinunter zur kommunalen Musikschule.Von dort nach oben zurück könnte man behaupten, dass jedes dort zu erlernende klassische Gesangs- und Instrumentalfach automatisch ein Streben nach „Hochkultur“ ausdrückt. Was sind aber klassische Instrumente? Besser: was sind kanonisierte Instrumente? Jedes Instrument, welches in einem Symphonieorchester zu finden wäre, also auch ein Drum-Set, ein Saxofon, eine E-Gitarre und ein Akkordeon wäre somit „kanonisiert“. Im Bereich der Popularmusik sind sie es. Ins Orchester aber haben sie von Fall zu Fall auch ihren Einzug gehalten, werden an den Musikhochschulen unterrichtet. Im Rückschluss kann man hier also ebenfalls von Hochkultur sprechen. Wie man sieht, scheint die alte Unterteilung nicht mehr ganz genau zu funktionieren.
Ist Hochkultur dann jedes kulturelle, hier speziell musikalische Produzieren, das enorme Summen verschlingt? In Bezug auf Opernhäuser und Symphonieorchester würde jetzt mancher gleich zustimmen. Vergegenwärtigt man sich die finanziellen Schlankheitskuren und irrsinnigen Rationalisierungen jener Institutionen der letzten Jahrzehnte, sieht man auf ehemals aus der freien Szene kommende Festivals und Ensembles, die wiederum ihre Finanzierung extrem ausbauen konnten, ist Geld auch kein taugliches Kriterium für das Erkennen von Hochkultur.
Dennoch gibt es ein Gefühl, trotz den boulevardesken Vorlieben unserer Medienzeit, was im Falle radikaler Umwälzungen doch erhalten werden sollte. In einem Gespräch mit einem befreundeten Komponisten, der sich eher als „Punk“ denn als „Akademiker“ sieht, kam erstaunliches heraus: ginge es von heute auf morgen an das Eingemachte und müsste man sich für den Erhalt gewisser Strukturen entscheiden, stimmten wir beide im Erhalt von einigermaßen auch der neueren Musik zugewandten Orchestern und Symphonieorchestern überein. Was wir aufgeben würden, wären an erster Stelle all die von Rundfunkanstalten geprägten Festivals. Natürlich ist das der reinste Irrwitz, wenn zwei Komponisten der Neuen Musik das von sich geben. Aber spannend ist es dennoch! Die traditionelle Hochkultur wird als angemessen und erhaltenswert empfunden.
Warum aber würden wir Festivals der Neuen Musik aufgeben? Das Problem ist, dass diese sich inzwischen zur Binnen-Hochkultur der Neuen Musik entwickelt haben und dorthin auch irgendwie selbst stilisiert haben. Als weitestgehend verlags- und mentorenfreier Komponist sieht man sich da einer Phalanx gegenüber, die mit normalen Mitteln wie schlichtweg ordentliches Komponieren und Theoretisieren nicht zu überwinden ist. Man sieht sich in Form der dortigen Verantwortlichen keinen Komponisten gegenüber, die man mit seinen ureigenen handwerklichen Möglichkeiten überzeugen könnte. Wir sehen uns in der Mehrzahl mit Musikwissenschaftlern und noch eher Kulturmanagern konfrontiert, die die von ihnen verehrten komponierenden Grandseigneurs anhimmeln und sich ernsthaft existentiell für die Sache der Neuen Musik einsetzen. Letztlich aber bilden sie ihre Meinung durch Gespräche mit Vertretern renommierter Verlage, durch den Blick in die Programmhefte der Konkurrenz und das, was ihnen privatissimo empfohlen wird. Oder sie verlassen sich auf die ewig gleichen Biografien zwischen Darmstadt, Royaumont und Karlsruhe. Natürlich kann man mit dem oder der einen oder anderen mal gemeinsam ein Bierchen zischen, natürlich kann man Partituren infolge eines solchen Gesprächs verschicken, sofern man nicht gleich auf die Vorliebe für Musikkonserven anstelle von Notenpapier oder Computerausdruck stößt. Somit bleibt diese Welt letztlich verschlossen, unerreichbar hoch in ein Regal gewuchtet, so dass man im mehrfachen Sinne von Hochkultur sprechen könnte.
Und dies soll der Gral der Nation sein, um an Vargas Llosa zu erinnern? Um den Gral kann man wenigstens mit offenen Visier kämpfen! Um jene Hochkultur der Neuen Musik kann man nur mit Cocktaildiplomatie und Gewährsfrauen herum streicheln, wie die Katze um den heißen Brei. Dabei muss man allerdings höllisch aufpassen, dass man nicht das Falsche sagt und tut, wenn man endlich mal am richtigen Sektglas nippen darf. Sonst stört man das fragile Gefüge der hohen Herren und Damen jener Hochkultur. Aber sollte man die im Falle des Falles wirklich erhalten? Eher nicht!
Denn Hochkultur ist, um eine Antwort zu wagen, nicht das Gepränge der Institutionen oder das Gewese um ihre Künstler oder jenes, was diese um sich selbst treiben. Hochkultur ist das wahrhaftige Bestreben der Kunstschaffenden an sich, ihren Anliegen und ihrer Kunst den richtigen Ausdruck zu verleihen. Das kann die Kritik an den bestehenden Verhältnissen sein, das kann genauso das Verlangen nach handwerklicher Beherrschung und Perfektion sein. Das ist das Interesse, die ganze Musik in seinem Werk aufzunehmen oder sich dezidiert von allem Bekannten abzusetzen. Es ist die Ernsthaftigkeit, mit der an sich eine Partitur oder ein Stück hergestellt wird. Diese Hochkultur ist so rein, wie das Papier, bevor es bedruckt oder beschrieben wird. Diese hohe Kunst ist diejenige, die durch sich selbst zu sprechen vermag und letztlich basal ohne das Gezerre um Auftrag und Aufführung zustande kommt. Natürlich benötigt sie das Gefäß des Betriebs, um erklingen zu können. Jenes Gefäß sollte allerdings mal wieder von Grund auf entstaubt werden.
Komponist*in
Eine interessante Reflexion über den strapazierten Begriff der Hochkultur. Wenn es um die Frage geht, was denn nun die Hochkultur vor anderen Arten der Kultur (man könnte diese mit dem Sammelbegriff „Pop“ bezeichnen) auszeichnet, würde ich gerne noch ein Kritikerium erwähnen, das hier, wie mir scheint, etwas zu wenig gewichtet wird.
Hochkultur ist nicht nur eine Frage der Institutionen oder des intellektuellen Anspruchs; in ihren Hervorbringungen artikuliert sich – oft nur unauffällig und nur sehr vermittelt – eine Sichtweise, die den Menschen in einen größeren, über die reine Daseinsrealität hinausgehenden Wirklichkeitszusammenhang einbettet.
Oder anders: Was unter dem heute angefeindeten Begriff der Hochkultur einst existiert hat und von dessen Erbe wir uns noch heute ernähren (NB: eine Ressource, die wie alle anderen Lebensressourcen kaputtgehen wird, wenn wir unseren destruktiven Umgang mit ihr nicht ändern), war eingebunden in eine Weltsicht, für die Transzendenz konstitutiv war – d.h.: in der das Zentrum der Welt nicht der Mensch war. Mozarts Don Giovanni ist für mich das Paradebeispiel.
Dieses Denken ist jeder „Hochkultur“ eigen, auch dort, wo es sich nicht in Worten äußert. In der heutigen narzisstischen Gesellschaft, in der das Ego das Höchste ist, ist das natürlich ein frivoler Gedanke. Aber auch im 20. Jh. hat es noch lange gegolten, von der Wiener Schule und Strawinsky bis Stockhausen oder – in Form der Negation („Verweigerung“) des Gegebenen, bis Kagel und Lachenmann.
Der Gegenpol der „Hochkultur“, der sog. Pop, kennt nur Immanenz. Es ist die Kultur der totalen Säkularisierung. Das entspricht dem heutigen urbanen Lebensgefühl in den westlichen Gesellschaften (und ihren Twitter-Ablegern auf den Tahirplätzen in den sog. „rückständigen“ Kulturen) und wird durch die Medien in die Köpfe transportiert. Unter dem Gesichtspunkt der Immanenz sind auch die NM-Festivals Pop, bzw. sie möchten es gerne sein; doch sie schaffen es nicht, sich von rein formalen Vorgaben, die für die Hochkultur gelten, zu befreien, und können ihre Zwitterexistenz nur mit Subventionen über die Runden retten.
Heute scheinen wir an dem Punkt angelangt zu sein, da die „hochkulturelle“ Weltsicht endgültig in den Hintergrund gedrängt wird und der voraussetzungslose, strikte auf das Hier und Jetzt ausgerichtete Pop, die Medienkultur par excellence, die Szene beherrscht. Es ist die Musik der auf sich selbst zurückgeworfenen Individuen. Andererseits artikuliert sich allenthalben in den Künsten die sog. „Spiritualität“. Das entspricht offenbar einem genuinen Massenbedürfnis, ist indes nur Surrogat für etwas, das verloren ist und sich früher u.a. in der Hochkultur artikuliert hat.