Wörterbuch der Neuen Musik (Neue Serie)

Wörterbuch der Neuen Musik

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→zerbrechlich

z.B. „zerbrechliche Obertöne“, „zerbrechliche Klänge“

Dieses Adjektiv wird erst seit dem 20. Jahrhundert in Texten über Musik verwendet, da bis dahin die Meinung vorherrschte, dass es sich bei Musik um etwas Immaterielles oder zumindest Ätherisches handeln müsse, so dass die Gefahr der Zerbrechlichkeit nicht gegeben ist (was auch mit dem aktuellen Stand der Physik konform ist). Insofern handelt es sich wohl um einen →modernen Aberglauben oder ein →Schwallwort. Bis heute konnte eine „Zerbrechlichkeit“ von Musik experimentell nicht nachgewiesen werden, sehr wohl aber die Zerbrechlichkeit von Musikinstrumenten (siehe  Midoris durch Draufsetzen zerbrochene Stradivari, ca. 2004). Ein theoretischer Erklärungsversuch bemüht das so genannte „Flageolettmodell“ (Lachenmann, 2006). Die meisten Musiker beherrschen Obertöne (Flageolette) nicht ausreichend gut, so dass diese immer wieder „wegbrechen“, was zumindest den Begriff „zerbrechliche Obertöne“ teilweise erklären könnte. Da es sich bei dem Begriff „Wegbrechen“ jedoch nicht um dasselbe wie „Zerbrechen“ handelt, konnte sich diese Theorie bis heute nicht durchsetzen.

→schwärend

z.B. „schwärende Glissandi“, „schwärende Klänge“

Die Entstehung des Wortes „schwärend“ ist vermutlich in der Spätromantik zu finden, seit vielen Jahren erfreut es sich aber wieder erneuter Beliebtheit vor allem in Musikkritiken. Was „schwärend“ im Zusammenhang mit Musik bedeutet, konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden. Auffällig ist, dass das Wort oft verwendet wird, ohne dass seine eigentliche Bedeutung (z.B. „eiternd“ wie in „eiternder Wunde“) bekannt zu sein scheint. „Eiternde Klänge“ wurden auch erstaunlicherweise bisher noch nicht beschrieben. Es handelt sich also vermutlich um eine →onomatopoetische Assoziation oder auch ein →Schwallwort ohne jegliche tiefere Bedeutung. Oft kann es auch mit dem Wort →schwelend ausgetauscht worden, ohne dass der Sinn des Textes in irgendeiner Form verändert worden wäre.

Echte eiternde Musik konnte bisher noch nicht beobachtet werden, aber nach dem sogenannten „Schlingensief-Theorem“ könnte die Verwendung des Begriffs auf die Oper „Parsifal“ von →Richard Wagner zurückgehen, da in dieser Oper der alte Sack Amfortas beständig seine Wunde zeigt (siehe auch →Beuys). Manche behaupten aber auch, dass der erste „schwärende Klang“ auf die berühmte Selbstverwundung durch einen Dirigierstab des Komponisten Lully zurückgeht. Die genaue Bedeutung dieses Begriffs konnte bis heute nicht geklärt werden.

→geräuschhafte Stille

Siehe auch →tosende Stille, →schreiende Stille, →schwärende Stille etc.

Zugehörig zur Gattung der sogenannten „selbstnegierenden Wortpaarungen“, deren Hauptzweck oft die Vortäuschung von Tiefsinn zum Ziel hat. In der Akustik wird Stille (z.B. Toter Raum) als die Abwesenheit von Geräuschen oder Tönen bezeichnet, bei „geräuschhafter Stille“ handelt es sich technisch gesehen um keine Stille mehr. Die Wortpaarung negiert sich also selbst, verschwindet dadurch sofort wieder im Kopf des Lesers und erzeugt eine →interessant klingende Nichtigkeit, die von vielen Lesern als Notwendigkeit in einem Text über Neue Musik gefordert wird. Die häufige Verwendung von Wortpaarungen wie →geräuschhafte Stille ergeben einen sogenannten →sinnlosen Sinn eines Textes, was wiederum eine weitere selbstnegierende Wortpaarung darstellt. Zu häufige Verwendung erzeugt die reelle Gefahr eines schwarzen Lochs (siehe auch C.S.M., 1995 ff.).

Trotz mehrfacher Expeditionen ins deutsche Feuilleton konnte ein „stiller Lärm“ bis heute nicht in einem Text ausgemacht werden. Dies legt die Vermutung nahe, dass es sich bei „Stille“ um eine Sehnsucht des jeweiligen Textautoren handelt, der sich beim Hören eines bestimmten Werkes in Wirklichkeit dessen Nichtvorhandensein wünscht. Es findet also eine idealisierte aber letztlich unergiebige →Stilisierung der Stille statt, die rein gar nichts über die Musik aussagt.

Weitere selbstnegierende und damit unmögliche Wortpaarungen: →verständlicher Programmhefttext, →bescheidene Biografie, →ehrlicher Kollegenkommentar.

→multimiphone Klänge

Bei den „multimiphonen“ Klängen handelt es sich um eines der letzten großen Geheimnisse der Neuen Musik. Bisher wurden sie erst ein einziges Mal dem Hörensagen nach beobachtet, und zwar in einer Uraufführung von Salvatore Sciarrino bei der Münchener musica viva, beschrieben durch Marco Frei (AZ) am 29.4.2013. Um was es sich genau bei „multimiphonen Klängen“ handeln soll, ist umstritten. Hierzu gibt es zwei Theorien:

a)      „Verschreiber-Theorie“

Bei dieser Theorie wird argumentiert, dass es sich um einen simplen Schreibfehler Marco Freis handeln könnte, und eigentlich „Multiphonics“ gemeint seien (siehe auch →Mehrfachklänge). Gegen diese Theorie sprechen die Tatsache, dass Frei die angeblichen „Multiphonics“ auch Streichern zuordnet, diese aber gar nicht in der Lage sind, diese zu erzeugen, sowie natürlich die gängige Verwendung von „Spellcheckern“ in der Redaktion der Münchener Abendzeitung.

b)      „Intentions-Theorie“

Diese Theorie besagt, dass in Salvatore Sciarrinos Stück „Verhangener Tag am schwarzen See“ tatsächlich „multimiphonics“ vorkommen, die Musiker des BR aber offensichtlich nicht in der Lage waren, diese zu erzeugen, obwohl diese angeblich „längst zum Vokabular der Neuen Musik“ gehören (Frei, 2013). Leider sagt diese Theorie aber dennoch nichts über den wahren Charakter von „multimiphonen Klängen“ aus, und ihr Vorhandensein in der Partitur von Sciarrino konnte bisher noch nicht nachgewiesen werden.

Die weiteren Erklärungsversuche (z.B. „Mimosentheorie“, „Michael Ende-Theorie“ bzw. „momophone Klänge“, „Puccini-Theorie“ bzw. „mimiphone Klänge“) können nicht ernsthaft als wissenschaftlich in Betracht gezogen werden. Bis „miphone Klänge“ tatsächlich nachgewiesen werden können, müssen sie also der Kategorie der sogenannten →Deppenworte zugeordnet werden.

Moritz Eggert