Jugendensembles Neue Musik in Deutschland – Sonnenschein in Weimar, Frostbeulen in Bayern
„Dass doch die Jugend immer zwischen den Extremen schwankt!“ spuckt das Internet aus, wenn man nach „Zitat“, „Jugend“ und „Goethe“ sucht. Und doch fasst es treffend die Eindrücke meines Weimarausflugs zusammen: wer den Bahnhof verlässt, stolpert über junge, kurzgeschorene Bomberjackenträger, hört „Schlampe“- Kreischen brummerhafter Mädels, entdeckt manche verdeckte runenstrotzende „Deutschland“-Körperbemalungen ungewollt bei ungelernten Backshopjugendlichen herausblitzen, wenn diese sich lang machend Softdrinklachen aufwischen. Selbst der Thierse-Bart tragende alte Taxifahrer belebt billige Klischees, als er meine Ortsangabe „bitte zur xy-Grundschule“ mit „xy-Oberschule – so hieß die, aber seit der Wiedervereinigung…“ korrigiert. Obwohl ich keinen Bart trage, hätte ich bildhaft fast „Wende“ in diesen hineingenuschelt. Ich genoss bei der Fahrt bergauf, aus dem Gartenkessel der Klassikstadt heraus, die schneebedeckten Wiesen der nahen Hügellandschaft.
Landesjugendensemble Neue Musik Sonne in Weimar, nicht mal ein Hinweisschild dazu in Süddeutschland, © 2013 Alexander Strauch
Just wurde ich mit einem anderen Extrem der Jugend konfrontiert: ein kleiner Jugendlicher, eher Kind, schiebt im obersten Stock eine Riesenpauke aus der Aula in den Musiksaal. Dort ist gerade noch ein Stuhl an der Tür frei, auf dem ich mich einfach setze. Fragende Blicke in den Mienen zweier Erwachsener, die wohl diesen Paukenjungen und weitere anleiten. „Strauch“, „Lebedev“, „Levine“ – die Gesichter strahlen, eine Vorstellungsrunde. Alles klar: Juri Lebedev, der Dirigent des Landesjugendensembles Neue Musik Thüringen und Carin Levine, die Leiterin des Landesjugendensembles Niedersachsen und Solistin meines „Hin und Her III“ für Altflöte und Doppelensembles, also speziell für sie und die beiden Jugendensembles komponiert. Nach Ankunft der zweiten Pauke geht es los. Was soll ich sagen? Bis auf kleine Details von der ersten bis zur letzten Note mit Verve und Genauigkeit spielen die Jugendlichen hin wie her, besser einstudiert, als ich es manchmal mit Profis zur ersten Probe erlebe. Allgemeines Schmunzeln, wenn ich die Ensembles A und B mit die Niedersachsen-Posaune, die Thüringen-Bläser anrede. Bald geht die Türe wieder auf, neue Vorstellungsrunde: „Ludger Kisters“, dessen „Fluten“ trotz nur aus einem kohlenschrankartigen Abspielgerät tönender Zuspielung bei der ersten Probe ihre funkelnde Atmosphäre erahnen lassen. Endlich trifft auch Benjamin Scheuer ein! Er hat zuerst ein bisschen weniger Glück, weil noch einige seiner Sonderinstrumente fehlen. Aber auch für ihn hat sich das Feld hoffentlich gelichtet. Als es später endlich zur Uraufführung unserer drei Kompositionen für beide Landesjugendensembles und Carin Levine kommt, haben wir die Herzen der Interpreten, des Publikums und des Teams der Weimarer Frühjahrstage für zeitgenössische Musik gewonnen, ja, Johannes K. Hildebrandt, wirkte vor Freude wie aus dem Häuschen, dass sein Coup aufging. Er beauftragte uns drei für dieses Projekt. War es doch wieder ein Beweis, dass sich das Engagement zur Gründung solcher Jugendensembles durch die Bank lohnt, wie hier im Falle des via-nova-Vereins als Mentor und Initiator des Thüringer.
Ich will gar nicht wissen, gegen welche Widerstände in den Trägerverbänden hier und da bei Gründung auch der weiteren Landesjugendensembles anzukämpfen war. Das niedersächsische wurde 2008, das Thüringer 2009 gegründet und waren bis vor kurzem zusammen mit dem schleswig-holsteinischen Landesjugendensemble Neue Musik die „youngsters“ ihrer Szene. Wenig älter ist das Ensemble aus NRW, welches in Kooperation des zuständigen Landesmusikrats und der musikfabrik mächtig durchstartete, was die Anerkennung und Finanzierung durch seine Förderer betrifft, derweil die anderen zwar abgesichert erscheinen, dennoch noch stärkere Unterstützung gebrauchen könnten. Die „grande dame“ ist das Landesjugendensemble Neue Musik Rheinland-Pfalz/Saarland, welches seit 1992 auf eine mehr als 20-jährige Tradition zurückblicken kann. Einige dieser Ensembles arbeiteten wohl mit dem nun verblichenen Netzwerk Neue Musik zusammen, verdankt das niedersächsische mitunter der Bündelung aller Landeskräfte infolge des Netzwerks seine Gründung. Jetzt ziehen Berlin mit Gerhard Scherer-Rügert und Jobst Liebrecht nach, von denen letzterer bereits erfolgreich zeitgenössische Musik-Projekte mit seinem Jugendorchester der Hans-Werner-Henze Musikschule Marzahn-Hellersdorf durchführte, und hoffentlich genauso Brandenburg auf Initiative von Helmut Zapf. In wenigen Wochen findet während der Pfingsttage in der Bundesmusikakademie Rheinsberg aller Voraussicht ein Treffen einiger dieser Landesjugendensembles statt. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Vorhaben, wie die Gründung eines Bundesjugendensembles Neue Musik in richtiger Art und Weise mit den bereits bestehenden Ensembles auf Landesebene kooperieren und nicht einfach deren Engagement kopieren und somit deren Leistung zur eigenen Grandezza des darin interessierten Kulturmanagements und Stiftungswesens verklärt.
Selbst Krankenkassen sind in Weimar „classic“, © 2013 Alexander Strauch
In Weimar stösst man allerorten auf die literarische Klassik, ist selbst das Krankenkassenwesen „classic“. Dennoch kann man gerade hier Bauhaus und Zeitgenössisches erleben. Warum gibt es eigentlich in Hessen, Baden-Württemberg und meiner Heimat Bayern nicht solche Landesjugendensembles Neue Musik? Gerade Baden-Württemberg ist ja auch seine Vielfalt an unterschiedlichsten Jugendensembles stolz, wo neben Zupf-, Jazz- und Bläserensembles eines für Neue Musik eine Zierde des bisherigen Blumenstrausses darstellen würde. Schwierig im Süden sind wohl allgemein die Zusammenarbeiten der Verbände. Die zerfallen ja nicht nur in Landesmusikräte, Laienorchester- und Laienchorsozietäten, Jugend-Musiziert-Sektionen, Jugendorchester und mehr. Hier gibt es auch noch die Gegensätze badisch gegen württembergisch, bayerisch gegen schwäbisch gegen fränkisch gegen oberpfälzisch. Also hängt es hier wohl an den vollziehenden Erwachsenen und ihren Vorlieben und weniger an den Fähigkeiten der Jugendlichen. Wie merkwürdig: sind die bildungsexzellenten bayerischen Jugendlichen denn weniger in der Lage komplexe Neue Musik als die angeblich weniger herausragenden Norddeutschen? Wer die traditionsreiche Projektliste des Bayerischen Landesjugendorchesters liest, findet unter der Ägide von Werner Andreas Albert Projekte mit Namen wie Bernd Alois Zimmermann, Aribert Reimann, Karl Amadeus Hartmann, Hans-Jürgen von Bose, Wilhelm Killmayer, Karl Höller, Klaus Hashagen und vielen mehr, sogar Uraufführungen traute man sich zu. Die „Wende“ in Bayern kam wohl direkt mit dem markanten Jahreswechsel 1999/2000 zustande: Berthold Hummels „Fragment für grosses Orchester“ war die letzte Uraufführung. Seitdem gibt es zwar noch Musik des 20. Jahrhunderts: Filmmusik und Weichspülerneozismen! Klar, dass auch dies seinen Platz haben soll. Warum nicht auch mal Star-Wars und Co. und all die sonderbaren Anklänge an Sound und Rhythmus des venezolanischen „Sistema“-Erfolgs. Zeitgenössische Musik wie unter Herrn Albert aber sucht man vergebens, geschweige denn Kompositionen jüngerer Kolleginnen und Kollegen, die durchaus spielbarer und sanfter sind als die der Setinzeitheroen der Neuen Musik. Es scheint so, dass in Süddeutschland nicht nur im hochprofilierten Chorwesen halbprofessioneller Jugendensembles sondern auch im Jugendorchesterkosmos Eric-Whitacre-Heinis und Erfolgssüchtlinge ihr Unwesen treiben. Oder ist gar die Neue Musik der süddeutschen Kollegen so schlaffig, dass man sie freundlich zur Kenntnis nehmen kann, sie in ihrer Simplizität aber nicht mal bei den auf Breitenwirkung geeichten Jugendorchesterausbildern Anklang findet? Während im Norden für Neue Musik die Sonne scheint, muss hier im Süden noch so manche Frostbeule ausgetragen werden, der Eiter der Ängstlichkeit und Anbiederung ausgedrückt werden. Wer gibt mir die glühende Nadel? Wie sagte nämlich Geheimrat Goethe: „Denn die Jugend will lieber angeregt als unterrichtet sein.“
Schemenhafte, vorausahnende Selbstspiegelung: angesichts der süddeutschen Zauderer verwandle ich mich zum körperbemalten Preisboxer , © 2013 Alexander Strauch
Komponist*in
Nachtrag: ich versäumte über die Wiederbegegnung mit Erik Janson zu berichten, der am gleichen Abend meiner UA im Konzert zuvor ein schönes Solostück durch Carin Levine aufgeführt bekam. Wie dort üblich, schmausten wir hernach im Sächsischen Hof die Kutscherplatte. Ich kämpfe zwar noch mit meiner Klosallergie, dennoch bekam mir das nicht schlecht – nach so langer Zeit Erik mal wieder leibhaftig zu treffen. Von hier aus die besten Grüße und Erholungswünsche von dieser carnivorischen Orgie nach Düsseldorf!!
Ein schöner Beitrag, Alexander.
Hinzu zu fügen ist von hier, dass man bzgl. Landesjugendensemble auch hier in NRW fündig wird, welchem sich die Profis der Musikfabrik um Peter Veale angenommen haben. Darüberhinaus gibt es die Programme mit jungen und studierenden Komponisten, mit den Montagskonzerten der Musikfabrik etc. Ja, es tut sich einiges, Ermutigendes. Trotz immer noch am Horizont bedrohlich lugender „Sparzwang“- „Schuldenbremse“- und „Eurorettungs“-Wolken…. Die Durchlässigkeit und Vielfalt wird auch hierzulande in der „Hirschbraten“- und „Tiersebart“-freien Zone gefördert. Im Bundesland des rheinischen Spätkapitalismus und der untergehenden Sonne.
Und gerade wollte ich meinen „Kutscherplatten“-Kommentar hier los werden und erwähnen, dass es eines „Versöhnungstreffens“ ala Milchkaffee-Schlürfen mit Lücker zwischen mir grimmig Ex-„zähnefletschenden“ Baddy und Dir, Alexander ja nicht bedurfte, sondern dass es quasi direkt ein Live-Wiedersehensmahl war nach dem Fleischpflanzerl auf dem Frankfurter HbF zu Studienzeiten. Und dass ich in dem Sinne vermutlich mit Kreidler keine Kutscherplatte schlemmen werde. Bin jetzt wieder auf carnivorischer Sparflamme, und es kann ja auch sein, dass Kreidler Vegetarier ist oder zerbrochene Geigenbögen isst…