Der Verlust der Individualität
Steffen Wick machte mich neulich auf dieses interessante Video aufmerksam:
Es handelt sich um eine Kollage aus dutzenden von Aufnahmen der ersten beiden Akkorde von Beethovens „Eroica“, von 1924 bis heute, in direkter Abfolge.
Mal abgesehen davon, dass das Resultat durchaus ein eigenständiges interessantes Stück Neuer Musik ist (es könnte fast von Spahlinger sein), gibt es auch viele andere spannende Beobachtungen.
So ist zum Beispiel in wunderbarer Deutlichkeit zu hören, wie sich der Kammerton A im Laufe des Jahrhunderts unerbittlich nach oben schraubt – einzig und allein die tapferen englischen Orchester auf der Insel leisten dieser vollkommen sinnlosen und stimmschädlichen Entwicklung Widerstand, was zum Teil in Tonabständen von bis zu einer halben Sekunde resultiert.
Klar, diese Entwicklung resultiert aus der Tatsache, dass die Instrumente immer brillianter und heller klingen sollen – musikalisch gibt es aber keinerlei zwingenden Grund dafür, und Sängern macht diese Entwicklung bekanntermaßen durchaus zu schaffen, da es bei der Tessitura auf winzigste Nuancen ankommt. Aber das ist ein Thema für sich.
Auffällig (aber wenig überraschend) ist natürlich die unterschiedliche Tonqualität der Aufnahmen – zuerst sind fast nur Kracksen und Nebengeräusch zu hören, spätestens in den 60er Jahren ist aber dann das Niveau erreicht, das wir heute gewohnt sind. Und das ist das eigentlich Erstaunliche – trotz radikaler Fortschritte in Aufnahmetechnik sind die Menschen von heute tatsächlich gewohnt, Aufnahmen genau in dem Niveau zu hören, das dem der 60er Jahre entspricht (und das ist über 50 Jahre her!). Manche würden sogar argumentieren, dass es in den 60er Jahren besser klang, da ausschließlich von analogen Medien gehört wurde, während heute massive Einschränkungen des Klangs durch mp3-Kodierungen widerspruchslos akzeptiert werden. Das betrifft vor allem klassische Musik, die durch Kompressoren und automatische Pegelveränderungen in den typischen Kodierungsverfahren meistens am abscheulichsten klingt, schlechter als vor 50 Jahren!
Was fällt noch auf? Dass 1967 auch mal ein massiver Verspieler der Hörner auf Platte veröffentlicht wurde (sehr sympathisch), dass Celibidache als junger Dirigent ungefähr 4x so schnell dirigierte wie später in seinem Leben und dass manche Dirigenten der Pauke verbieten, zu laut zu spielen. So weit so gut.
Was aber am meisten auffällt (und das ist eher erschreckend): Es klingt immer gleicher.
Während die frühen Aufnahmen allesamt unglaublich individuell sind (z.B. die Aufnahme mit Pfitzner als Dirigent: bei ihm schien es weniger darauf anzukommen, dass die Akkorde perfekt zusammen sind, sondern dass deren Ausdrucksgehalt stimmt), mal unglaublich schnell bzw. unglaublich langsam, mal fordernd, mal zurückhaltend, mal heroisch, mal introvertiert, so schleicht sich ab ca. den 70er Jahren immer mehr ein allgemeiner Sound ein (Karajan kommt hier fast als Trendsetter rüber, denn er hat am schnellsten begriffen, dass man einen bestimmten „Sound“ für die Konserve produzieren muss). Tempomäßig (und stimmungsmäßig) mag es da noch Unterschiede geben, aber im Grunde sind das nur noch Nuancen, die individuelle Prägung der Dirigenten, aber noch viel mehr der Orchester scheint immer mehr abzunehmen.
Ältere Konzertbesucher können sich noch gut daran erinnern, wie unglaublich unterschiedlich Orchester (und Dirigenten!) klingen konnten, und dass es tatsächlich etwas besonderes war, zum Beispiel George Szell mit seinem Cleveland-Orchester zu Besuch zu haben: weil die eben vollkommen anders klangen als das heimische Orchester! Die berühmten kieksenden Hörner der Wiener Philharmoniker (mit riskanterem Ansatz spielend, dafür klanglich unglaublich warm und anrührend) sind inzwischen nur noch eine Fußnote der Geschichte, denn heute sitzen da Hornisten, die genauso ausgebildet wurden wie alle Hornisten aller Orchester der Welt. Die heutigen Orchester spielen zwar sicherlich sauberer und präziser als die Orchester der Vergangenheit, klingen dafür aber immer ähnlicher. Auch bei der Besetzung der Orchester gibt es weltweit kaum noch Unterschiede, seitdem der Stellenmarkt inzwischen überall internationalisiert worden ist (was natürlich die Konkurrenz und die Qualität erhöht hat). Man fragt sich ein bisschen, warum Orchester überhaupt noch Tourneen machen – natürlich gibt es nach wie vor besonders herausragende Orchester, bei denen sich das lohnt, die so genannte „Mittelklasse“ spielt aber schon seit lange auf dem Niveau der Spitzenorchester von anno dazumal. nur eben alle auf genau dem selben.
Natürlich lamentiere ich hier über etwas, dass sich nicht mehr zurückändern wird. Wir leben nun einmal im Zeitalter der Internationalisierung: nationale Unterschiede und Eigenheiten verschwimmen immer mehr, wenn alle jungen Musiker immer ähnlicher auf ein hohes Leistungsniveau getrimmt werden, das immer weniger Platz für individuelle und skurrile Gestalten hat. Wer heute einen Klavierwettbewerb anschaut, mag glauben dass die Möglichkeit von 1:1 Kopien wie in der digitalen Welt schon längst bei Menschen möglich ist: Es betreten endlose Scharen von gleich aussehenden Pianisten auf, die alle die selben Chopin-Etüden exakt gleich und technisch perfekt spielen. Einem Bruchteil davon wird irgendeine Form von Karriere vergönnt sein (voraussichtlich denjenigen, die man ein bisschen auf sexy trimmen und vermarkten kann – hier ist die klassische Musik inzwischen wesentlich grausamer und erbarmungsloser als die Popmusik), die meisten davon verschwinden wieder im Meer der Klone, nur um gleich wieder durch jemand anderen ersetzt zu werden. Karrieren wie die von Glenn Gould und sogar Alfred Brendel – sie wären heute nicht mehr möglich.
Neulich sagte ein Mit-Juror in einem Kompositionswettbewerb zu mir, dass ihn diese „Originalität um jeden Preis“ immer mehr nerven würde. Gäbe es aber wirklich wieder mehr Originalität, mehr Individualität – dann wäre sie jedes Preises würdig.
Moritz Eggert
Komponist
Die Aufnahmetechnik und der damit beschleunigte mediale Austausch führten zu einem willkommenen höheren Spielstandard. Ein interessanter Gegenpol hat sich in den vergangenen 50 Jahren durch die sogenannte historische Aufführungspraxis entwickelt, in der sich interpretatorische Kreativität auf Grundlage erforschter und(!) vermuteter Werktreue Ersatzräume schafft.