Wieder einmal das öde Thema „tonal“

Die es sowieso tun, dürfen gleich abschalten. Die es zitierenderweise machen, dürfen auch gerne bald aussteigen oder nur grob überfliegen. Die auf gar keinen Fall tun wollen oder nicht tun dürfen, die können sich wohl auch die Zeit sparen. Denn nun wird es langweilig und kalter Kaffee wird angesichts der folgenden Absätze von ganz alleine wieder lauwarm. Es geht um „tonales Komponieren“. Ach, ich vergaß! Wer grundsätzlich das Parameter „Tonhöhe“ als obsolet betrachtet, kann sich die Lesezeit auch sparen. Sind Alle raus, die es wohl nicht betrifft? Ja, Sie sind noch unentschlossen. Sie schreiben nur von Fall zu Fall tonale Stücke für Klavierfibeln? Verlassen Sie auch diesen Beitrag, denn es betrifft nur die, die auch in ihren „richtigen“ Stücken Umgang mit Tonhöhen haben. Sie wollen dennoch bleiben? Gut, aber bitte nicht nachher zum Beschwerdeführer werden! Jetzt sind wir unter uns. So, kann ich endlich beginnen?

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Was bedeutet „tonal“? Das füllt bereits Bände. Ich versuche es ganz knapp und dennoch weiter ausgreifend, als die traditionelle Definition:

a) Tonal ist Musik, die die abendländischen Regeln der Dur-Moll-Harmonik benutzt. Weniger konform, als These angreifbar darüber hinaus jede Musik, die Regeln einhält, wie diejenigen der Vokalpolyphonie des Spätmittelalters und der Renaissance, vielleicht sogar bis hin zu den Organa der Notre-Dame-Zeit.

b) Als tonal lässt sich Musik bezeichnen, die sich weitestgehend auf Hindemith beruft oder Messiaen impressionistisch fortsetzt.

c) Tonal ist zudem Musik, die im freitonalen, atonalen oder zwölftönigen wie spektralistischen Satz trotz aller Freiheit von den Systemen aus a) und b) und/oder trotz Erfüllung der Gebote der Zwölftontechnik bei genauem Abwägen des Akkordsatzes oder Stimmengeflechts wie der Einzelstimme mit unterschiedlicher klanglicher Spannung der Töne und Klänge untereinander spielt, unter ihrer eigentlichen Oberfläche dennoch mit Konsonanz und Dissonanz hantiert.

Somit ist mehr tonal und davon doch nicht so fern, als man erwarten würde. Wie tritt sie nun in Erscheinung? Nun werde ich einiges aufs Korn nehmen, was ich aber selbst als Techniken anwende. Dennoch möchte ich dies Alles mal kritisch unter das Brennglas legen.

Musik, die im Lichte von a) und b) zu betrachten wäre, sind z.B. Werke von Wilhelm Killmayer, Wolfgang Rihm oder auch John Adams oder Philip Glass. Steve Reich und Terry Riley sind eher unter c) zu subsumieren. Deren Werke spielen mit Tonhöhen, wie es ein Großteil der tonhöhengebundenen Avantgarde tat: Diese Musiken betrachten Tonhöhe in Akkorden als Bestandteil eines Klangfluidums, das gänzlich von den alten Regeln befreit ist, nicht im herkömmlichen Sinne kadenziert oder dies unterläuft. Wenn sie subkutan Spannung und Entspannung walten lassen, kann dies selbst im seriellen Satz passieren. Dies führt dazu, dass z.B. Xenakis, Nono, Boulez und Stockhausen grundsätzlich meilenweit von Dur-Moll-Harmonik entfernt sind. Dennoch findet gerade in dodekaphonen Systemen in totaler Emanzipation aller Töne voneinander eine gut hörbare Tonzentrierung statt, wenn eine Tonhöhe mehr Gewicht erhält als alle Anderen, bricht sich das alte Spiel von Spannung und Entspannung seine freie Bahn. Und so stehen sie mit ihren Klangströmen wiederum eher Arvo Pärt als Wilhelm Killmayer nahe, ist doch der Tintinnabuli-Stil nichts anderes als ein modaler Klangstrom, kadenzbefreit. Die Nähe des Modalen zur Dur-Moll-Harmonik führt natürlich das „normale Hörerohr“ sofort dazu, diese Musik in ihrer Spannung und Entspannung deutlicher darin wahrzunehmen als die anderen vier Kollegen. Reduktionistische wie minimalistische Musik, nicht minimal-music, die mit einfachem, nicht unbedingt modalem oder traditionell tonalem Material umgeht, ließe sich hier wie im nächsten Absatz einordnen.

Einen anderen Weg geht die Postmoderne, die in ihren Anfängen dem avantgardistischen Klangstromgedanken eher verbunden war als heute. Bernd Alois Zimmermann, Luciano Berio und Alfred Schnittke stapelten wüst verschiedenste eigene und fremde Musikzitate übereinander, dass sich deren Individualität mehr oder minder auflöste und deren Interaktion als Zeitgeräusche eines Klangstromes aufblitzten wie die Polyrhythmik eines Ferneyhoughs oder Stockhausens, welcher den Begriff Zeitgeräusch prägte. Man könnte frech behaupten, dass sich Schnittke in seiner frühen postmodernen Phase und Ferneyhough in der Komplexität und Undurchhörbarkeit ihrer Werke gar nicht so unähnlich sind. Leider wurde die Postmoderne immer mehr als ästhetischer Vorwand benutzt, um insgeheim doch tonal zu komponieren, indem man heute landauf, landab weniger brutal die verschiedensten Stile stapelt oder hart schneidet als kreuzbrav nebeneinander stellt, was wohl manchmal auch unternehme. Am ehesten in der Grundidee bewegt sich die Zitiertechnik, die Musik verwendet, die sie eigentlich nicht mag und dennoch so dicht statistisch verarbeitet und übereinander legt, wie es die Postmoderne in ihren Anfängen wagte. Im eindimensionalen Zitieren überzeugt die Musik am ehesten, die das Fremdmaterial als Tonkonserve einspielt oder es instrumentatorisch und somit klanglich vom Rest der Partitur abhebt.

Der Spektralismus im deutschsprachigen Raum gibt sich als die letztentstandene Methode tonhöhengebundenen Komponierens. In seiner Klangschönheit ist er aber nichts anderes, als eine vornehme Entschuldigung, doch wieder eher mit Spannung und Entspannung umgehen zu wollen als andere Methoden. So kann man sich im spektralen Klangstrom auf Serialismus und Ligetis Kritik daran berufen sowie dessen Mikropolyphonie bemühen, die letztlich auch nur die heimliche tonale Restauration in verborgenerer oder offenerer Ausgestaltung vorbereitete. Dennoch kann man die Tonhöhen emanzipierter anordnen als in der Postmoderne. Irgendwie will man aber doch zur Restauration dazugehören, wie das Beispiel Wolfgang von Schweinitz zeigt: postmodern und doch seriell startete er, schwieg dann in Anbetung der Beatles als die wichtigsten Melodiker des 20. Jahrhunderts und wandte sich schließlich einem minimalistischen Spektralismus zu. So beteiligte er sich und profitierte von den Notationsexperimenten des Plainsound-Teams.

Dies sind die Wege, welche momentan Konvention sind, wenn ehemalige Tonalität oder ihre Wurzeln unter einer anderen Ebene durchscheinen. Postmoderne Statistik wie Spektralismus sind immerhin Wege, diese Klangströme objektiv zu „verwalten“, von Stück zu Stück die Regeln neu aufzustellen und abzuhorchen. Dies wird auch weiterhin ein wichtiger und breiter Pfad bleiben.

Wie kann man heute aber vollkommen neuartig mit einem Material arbeiten, dass im weitesten Sinne in eines der gebräuchlichen oder älteren Stimmungssysteme passt und doch nicht allzu weit von der traditionellen Dur-Moll-Harmonik entfernt ist? Denn eines waren die alten Tonleitern und Kadenzen im Gegensatz zur heutigen Offenheit der Tonhöhengestaltung: sie waren – und sind es wohl auch noch heute – robust genug, ihre formbildenden Tendenzen auszuüben und doch so unterschiedliche Musiken wie Perotin, Josquin, Vivaldi und Mahler zuzulassen. So könnte man schlichtweg sämtliche seriellen Techniken der Parameterbearbeitung beibehalten und dennoch modal oder tonal die Klangbeziehungen gestalten. Ein anderer Weg als die Filmmusik in ihrer oft originell gemeinten „falschen“ Behandlung des alten Tonsatzes kann natürlich auch ein Weg sein. Hier ist das Problem, dass man es sich zu einfach macht und letztlich doch nur einen harmonikfreien Klangstrom kreiert, der nur deshalb konventionell gehört funktioniert, weil er nicht mehr als sieben Töne umfasst.

Ich kann mir vorstellen, melodische Wendungen und polyphone Kadenzen soweit durch eine permanente Entwicklung zu schicken, so dass Spannung und Entspannung bis über die Grenze ausgereizt würden. In klanglicher Hinsicht könnte man wiederum sein persönliches Beziehungsgeflecht von Spannung und Entspannung aufstellen, dass vom Zwölftonakkord oder weit vom Grundton entfernten gestauchten oder gestreckten Spektralklang der Ober- oder Untertonreihe bis zum reinen Oktavklang reicht. Die meisten von uns vollziehen dies rein intuitiv. So aber könnte man sehr wohl auf dessen Regelhaftigkeit hinweisen – ich hatte dies hier im Blog schon einmal ansatzweise im Rudiment versucht. Oder man betreibt dies zwischen Dur und Moll, angereichert mit reduktionistischen Minimalismen und arbeitet dafür motvisch-thematisch auf eine Art, die bei der Konvention ansetzt und es bis in kaum noch unterscheidbare Klangnuancen ausdifferenziert. Oder, oder und oder! Im Prinzip geht es um offene Ohren und einen Willen, nicht nur zu Restaurieren oder zu Vereinfachen oder sich mit dem status quo des anything goes abzufinden. Es bleibt schon unsere Aufgabe, den Klang der heutigen Zeit zu finden und in ein weiteres Stadium der Empfindung von Klangbeziehungen zu überführen und nicht wieder nur reine Tonanderreihungsmethoden zu entwerfen ohne deren sinnlichen Bezug zum Hören zu garantieren. Denn ob wir Komponisten es wollen oder nicht: so frei das individuelle Hören des Zuhörers sein kann, müssen wir es ihm doch voraushören oder die Grenzen schaffen, in denen sich der Zuhörer entfalten kann. Aber ich fürchte, dass die Taxonomie der heutigen Klangbeziehungen erst aufgestellt wird, wenn wieder weitere Komponistensoziologien zu keinen ästhetisch strapazierfähigen Ergebnissen führen werden.

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Eine Antwort

  1. Sehr schöner Aufsatz, v. a. das Tonalitäts-Schema finde ich sehr anregend :-)