Chinesisches Stichwörterbuch

Herbstklänge

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Vor einem Jahr bekam ich eine Email von Xiangping Zhou, einem chinesischen Komponisten den ich in Malaysia kennengelernt hatte: ob ich Lust hätte, mit meinem Ensemble sein neugegründetes Festival „Autumn Sound“ in Chengdu zu besuchen und dort ein Konzert zu bestreiten. Ein paar Emails gingen hin- und her in denen ich versuchte ihm zu erklären, dass ich zwar durchaus mit vielen Musikern musizierte, jetzt aber eigentlich kein ständiges Neue-Musik-Ensemble leiten würde. Seine Antwort war, dass er ohnehin nur drei Leute einladen könnte, was nun auch eher ein Trio, kein Ensemble ist. Erfolgreich handelte ich ihn auf 4 Musiker hoch, denn ich hatte schon die wunderbare Sopranistin Anna Lucia Richter sowie die beiden ebenso wunderbaren Damen des Duo LUXA aus Hamburg (Daria Iossifiva, pf. und Carola Schaal, clar.) im Kopf, mit denen ich schon einiges zusammen realisiert hatte. In Anlehnung an ein früheres Projekt nannte ich das Ganze „Contemporary Band“.
So begann unsere Reise zum ersten Neue-Musik-Festival in Chengdu, der drittgrößten Stadt Chinas.

Anreise

Chengdu ist nicht gerade einen Katzensprung entfernt, und liegt irgendwo im tiefsten Sichuan, genau in der Mitte des Reichs der Mitte. Wenn man sich China als eine Dartscheibe vorstellt, so liegt Chengdu genau im schwarzen Punkt. Vielleicht kennt deswegen niemand hier den Namen dieser Stadt.

Nach langer Internetrecherche gelang es Daria, einen möglichst günstigen Flug über Abu Dhabi zu organisieren, Abflughafen Düsseldorf. Es folgten aufwändigste Visa-Beschaffungen, denn die Volksrepublik China will ganz genau wissen, wer da so in ihr Land kommt. Carola musste glaube ich insgesamt vier Mal zum Konsulat, und Daria entging (kein Witz) nur knapp einem Giftanschlag (allerdings für ein USA-Visum).

In Düsseldorf trafen sich die Musiker der Contemporary Band nach diversen Einzelproben zum ersten Mal gemeinsam und bestiegen hoffnungsvoll und gut gelaunt den schicken Nachtflieger von Air Berlin. Nur um gleich wieder auszusteigen – es war nicht gelungen, das zweite Triebwerk zu starten, was einem Abheben des Flugzeugs dann doch abträglich war. Da schon die gesamte Belegschaft von Air Berlin den Flughafen Düsseldorf nachts um 23 Uhr verlassen hatte, waren es allein 2 Personen, die nun ein Umbuchen der hunderte von Fluggästen zu bewerkstelligen hatten. Irgendwann um 2 Uhr morgens wurden wir als letzte in der Schlange in ein Hotel verfrachtet, hoffnungsvoll, am nächsten Morgen die Reise erneut antreten zu können, die diesmal allerdings mit einem geographisch recht unnötigen Umweg über Peking geplant war und damit in einem viel zu späten Ankunftsdatum am Abend des nächsten Tages resultierte.

Schon 4 Stunden später versuchten Daria und ich am Flughafen, mögliche Verkürzungen der Reise zu erreichen. Am Schalter von Etihad Airways wurde uns gesagt, dass wir ja selbst Schuld seien, mit so einer schrecklichen Airline wie Air Berlin zu fliegen, und dass es ja kein Wunder sei, dass alles dort schief läuft. Das alles unter einem riesigen Plakat, auf dem eine schöne Air Berlin-Stewardess und eine schöne Etihad-Stewardess dem Betrachter glühende Blicke zuwerfen, a la „Komm, flieg mit uns! Wir werden gut für Dich sorgen, lieber Reisender!“

Irgendwann ergaben wir uns in unser Schicksal und checkten schicksalsergeben für den Flug ein. Was auch der Moment war, in dem unsere Klarinettistin entdeckte, dass ihr Reisepass (den, für den sie 4 mal aufs Konsulat gegangen war) sich auf unerklärliche Weise in der Nacht in Luft aufgelöst hatte (er wurde nie mehr gefunden). Schweren Herzens ließen wir sie am Schalter zurück, denn wir konnten den Veranstaltern in Chengdu keine weiteren Ankunftsverzögerungen der Contemporary Band zumuten. Schrecklich hallte das Wehklagen Carolas in unseren Ohren nach, während wir den Flieger bestiegen, der sich nun auch endlich in die Luft erhob.

In Abu Dhabi angekommen, wälzten sich hunderte von Menschen an den Transferschalter. Unklar war, ob man die Koffer nun zwischendrin in Empfang nehmen solle oder diese automatisch bis Chengdu durchgecheckt seien. „No problem, your bags will arive safely in Chengdu“ sagte uns ein Schalterbeamter, und auch nach dreimaligen Nachfragen nickte er enthusiastisch und beruhigend. Sein Grinsen sollte uns im Gedächtnis bleiben.

Nun ging es nach Peking – dort angekommen begrüßten uns riesige und weitgehend leere, für die Olympiade aufgemotzte Flughafenhallen. So ein bisschen wie „Zu Gast bei Freunden“ (wer erinnert sich?) auf chinesisch.

Der Flughafen Peking ist so gestaltet, dass die Entfernung zwischen den Terminals möglichst groß ist. Wahrscheinlich wurde dafür eine spezielle mathematische Formel entwickelt. Man besteigt also eine automatisierte Bahn, die ungefähr die Entfernung zwischen München und Augsburg überwinden muss, bevor man überhaupt annährend daran denken kann, ein weiteres Flugzeug zu betreten. Dort steht man dann in Schalterhallen herum, die ungefähr so groß sind wie ein deutsches Fußballstadion. Am Transferschalter nach Chengdu herrschte große Verwunderung: „Where are your bags?“. Die seien doch automatisch transferiert worden, sagten wir. Allseits verwundertes Kopfschütteln ob der Tatsache, dass man tatsächlich so naiv sei zu glauben, dass Koffer automatisch von Flugzeug zu Flugzeug weitergeleitet werden. Wäre ja auch zu einfach. In diesem Moment wurde uns außerdem mitgeteilt, dass der Flieger nach Chengdu in wenigen Minuten starten würde, was in einem Sprint resultierte, der selbst Usain Bolt alle Ehre gemacht hätte. Mitleidig schauten uns das Schalterpersonal hinterher. „Good Luck“, sagte einer.

Die unerschrockene Contemporary Band: Anna Lucia Richter, M.E., Carola Schaal und Daria Iossifova

Chinesisches Sicherheitspersonal

Wanderer, kommst Du nach China, bedenke folgendes: wenn Du vor einer chinesischen Dame in Uniform stehst, und Du es ganz besonders eilig hast, durch die Sicherheitskontrolle zu kommen, so mache keine unnötigen Bewegungen. Hetze Dich nicht. Stelle Dich frontal vor den Schalter, so dass Dich die Sicherheitskamera voll erfassen kann, und Du von unsichtbaren Röntgenstrahlen durchleuchtet werden kannst. Bleibe so lange wie eine Salzsäule erstarrt stehen, bis die gestrenge Dame Dir genehmigt, Dich weiter zu bewegen.

Tust du es nicht, bist Du selbst schuld, wenn unverständliche chinesische Befehle geschrien werden, und Dich jemand unsanft am Arm packt oder bedrohlich anfunkelt.

Du bist gewarnt worden, Wanderer!

Die Unmöglichkeit der Ankunft eines gewöhnlichen Reisekoffers

Vollkommen übermüdet kamen wir ohne Klarinettistin in Chengdu an. Was natürlich nicht ankam, waren unsere Koffer, und zwar kein einziger. Nun begaben wir uns (gemeinsam mit einem Leidensgefährten, einem Motorradsportjournalisten aus Deutschland, der mir stolz erzählte, dass es bei jedem „richtigen“ Motorradrennen eigentlich immer 5 Tote gibt) an den Schalter für vermisste Koffer, wo wir uns die nächsten Stunden aufhalten sollten. Da es sich bei der Koffersuche um einen Vorgang handelt, der ein gewisses Maß an Bürokratie benötigt, erlebten wir hautnah die große Liebe des chinesischen Volkes zu Formularen. Es gibt grüne, rosa, braune und gelbe Formulare, und all diese Formulare müssen ausgefüllt, mehrmals unterschrieben, kopiert und dann nochmal unterschrieben werden. Bald waren 6 Chinesinnen und Chinesen mit unseren Formularen beschäftigt, die erst einen Teil des Schalters, dann den ganzen Schalter, dann den ganzen Schalter und die nähere Umgebung, auch den Boden, bedeckten. Irgendwann war Qiqi Lui hinzugestoßen, eine Kompositionsprofessorin der Universität, die sich in den nächsten Tagen rührend um uns kümmerte., aber auch sie sah hinter lauter Formularen keine Welt mehr.

Manche Formulare wurden uns mehrmals vorgelegt, und wir füllten sie auch mehrmals aus. Ab und zu ging jemand zu einem Kopierapparat und fotokopierte diese Formulare, oder unsere Reisepässe, und vielleicht auch unseren Geburts- und Heiratsurkunden sowie unsere Studienbescheinigungen der letzten 30 Jahre. Letztlich blieb aber all dies vollkommen erfolglos, der Verbleib unserer Koffer blieb ungewiss. Dies bereitete mir nicht wenig Magenschmerzen, befanden sich in den Koffern doch Schreibmaschinen, Melodikas und Toy-Pianos, die wir für verschiedene Stücke brauchten, ganz zu schweigen von Unterhosen, Strümpfen und Badeartikeln.

Aber wir konnten jammern und klagen so viel wir wollten, gänzlich erfolg- und kofferlos verließen wir den Flughafen und wurden in unser Hotel gebracht. Später am Abend rief Carola an: „Ich bin in Abu Dhabi und steige gerade um“. „HAST DU DEINE KOFFER IN EMPFANG GENOMMEN“ schrie ich ins Telefon. „Äh, nein, wieso?“.
Auch ihr Koffer kam nicht an.

Statistik

In den folgenden Tagen versuchten wir alles, an die Koffer zu kommen. Wir fanden heraus, dass die Koffer über die halbe Welt verteilt schienen. Einer war wohl in Düsseldorf geblieben, oder auch nicht. Auch munkelte von zwei Koffern in Abu Dhabi. Auch in Peking lagerte man mindestens einen unserer Koffer. Was uns dabei zunehmend beunruhigte, war die Tatsache, dass wir nicht die einzigen zu sein schienen, die damit Probleme hatten. Von ca. 20 internationalen Gästen des Musikfestivals vermissten insgesamt 9 Personen ihre Koffer. Das Del Sol Quartett aus San Francisco bekam seine Koffer als erstes zurück, allerdings mit dem kleinen Manko, dass elektrische Mikrophone im Wert von 5000,-USD fehlten. Unsere Contemporary-Ensemble-Koffer trudelten einer nach dem anderen ein, jeweils einzeln vom Flughafen Chengdu abgeholt. Mein Koffer kam als letztes, einen Tag vor unserer Abreise, allerdings ohne meine CDs.

Wahrscheinlichkeit des Ankommens eines Koffers in China: ca. 55%

Wahrscheinlichkeit, dass dann etwas aus dem Koffer fehlt: ca. 53%

Angekommen in der Mitte der Welt: Anna Lucia Richter und Daria Iossifova.

Moritz Eggert
(Fortsetzung folgt)

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Eine Antwort

  1. Aus eigenen vielfachen Chinareisen in früherer Zeit kann ich Ähnliches berichten und besonders durch meine zwar armseligen aber für die jeweiligen Offiziellen vor Ort wohl Anlaß zur Erheiterung und so auch zu relativer Sympathie gebenden Chinesischkenntnisse war es mit vergönnt auch in die Tiefen der chinesischen Bürokratie einsteigen zu dürfen, was mir u.a. eine Verhaftung wegen Besitzes einer Kinderpistole („Toy Pistol“) einbrachte, die erst nach meinem heiligen Versprechen, dieses Instrument nicht im entsprechenden Johann Strauss Konzert einzusetzen, ausgesetzt worden war. Selbstredend durfte ich meine Heimreise nicht mit diesem Instrument antreten, wurde wieder und von den gleichen mich schon herzlich auf chinesisch begrüßenden Beamten verhaftet und erst ganz knapp vor dem Rückflug offiziell „entwaffnet“ und zwar wieder offiziell von der „Toy Pistol“, die man mir binnen 4 Monaten wieder zusenden wollte. Auf die Einhaltung dieser mündlichen Zusicherung habe ich bis heute nicht bestanden…