Rettet den Kritiker!!! Rettet den Kritiker??? Rettet den Kritiker.
jetzt stellen wir uns einmal vor: der herausgeber einer größeren deutschen, traditionsreichen tageszeitung mit frakturschriftnamen – nennen wir ihn behelfshalber franz schirmmacher – ärgert sich schon seit jahren darüber, dass er immer wieder zeilenweise, ich wiederhole: zeilenweise(!) den kostbaren platz seines feuilletons, der sich herrlich zum abdruck der vollständigen dna der haarwurzelanaylse des nun als fernsehkoch tätigen fußballträners, nennen wir ihn behelfshalber christof daumen, eignen würde, dass dieser kostbare platz, der andernfalls auch wunderbar geeignet wäre digital demente über die folgen digitaler demenz für das leben im virtuellen raum analog zu wort kommen zu lassen, dass also dieser raum, der dem DISKURS im engeren und weiteren sinn zur verfügung steht, immer wieder, schon seltener und weniger raumgreifend, aber eben immer noch REGELMÄSSIG durch eine entsetzliche erfindung des 18. und 19. jahrhunderts missbräuchlich eingenommen wird, die sich die user seiner zeitung, pardon, die leser der papiernen druckexemplare seines gerade erst wieder relaunchten BLATTES mit dem merkwürdigen interesse an klassischer musik, oder, noch schlimmer, neuer klassischer musik, oder kürzer, neuer musik immer noch durchlesen, dass also MUSIKKRITIK in seiner zeitung noch immer nicht ganz abgeschafft ist, nun in die dumme situation gerät, bei, sagen wir einer cocktail party, oder beim golfen oder beim frauentausch auf long island erfahren muss, dass seine freunde das gefühl haben, nun ja, dass sie, zumindest hat er das zwischen den zeilen so verstanden, dass sie das gefühl hätten, dass der musikkritik an und für sich, das verstehe sich ja von selbst, und das wisse ja niemand besser als er, längst keine RELEVANZ mehr zukomme, aber das vor allem SEIN MUSIKKRITIKER in seinen Urteilen viel zu soft und eigentlich auch intellektuell nicht so wirklich satisfaktionsfähig sei, dass er, mit anderen worten und was noch vorsichtig ausgedrückt ist, EINE ANDERE MEINUNG HABE als sie selbst und was ihm denn dabei eingefallen sei, nun ausgerechnet DIESEN KRITIKER in sein haus zu holen, also in sein blatt, das zu ihnen nach hause kommt in blattform, gefaltet, was bliebe ihm anderes übrig, als seinen altgedienten – ein wort, das er normalerweise nicht benutzt, was aber auf diesen kameraden, wie er ihn im geiste immer nannte, durchaus zutraf – MUSIKKRITIKER, nennen wir ihn gerd rodeo, ein wenig zu verpflanzen und ihm eine neue aufgabe zuzuweisen, die er der einfachheit halber und um den skandal möglichst klein und unauffällig zu halten, als „reporter für kulturelle phänomene“ bezeichnete, was bliebe ihm anderes übrig?
Was ordentlich übertrieben klingt und wirkt, wie aus dem handbuch der verschwörungstheorien abgeschrieben, hält seit einigen tagen die englischsprachige, speziell die newyorker musik- und musikpublizisten-szene in atem: wie norman lebrecht am vergangenen montag in seinem immer lesenswerten blog bekannt machte,
http://www.artsjournal.com/slippeddisc/2012/09/exclusive-new-york-times-demotes-a-critic.html wurde der in der neue musik-szene ebenso bekannte und geschätzte wie von beatles-fans für seine biographie über die britische band bewunderte musikpublizist allan kozinn vom Musikkritiker der New York Times zum „general cultural reporter“ „befördert“. Klingt zunächst nach einer solidarischen Aktion unter befreundeten Kollegen. Überraschend und spannend ist jedoch die Diskussion, die sich daraufhin in seinen Kommentarspalten anschloss und die inzwischen in einer eigenen online-petition kulminiert ist: „Reinstate Allan Kozinn as New York Times music critic“ http://www.change.org/petitions/new-york-times-reinstate-allan-kozinn-as-new-york-times-music-critic?utm_campaign=autopublish&utm_medium=facebook&utm_source=share_petition&utm_term=15651040
Die Vielzahl an Solidaritätsbekundungen, an Zeugnissen über die Ernsthaftigkeit und Selbstaufopferung, mit der Allan Kozinn seiner Tätigkeit nachgeht – gipfelnd in rührenden Beschreibungen seiner von Tonträgern, Noten, Büchern und Notizbüchern erfüllten Wohnung (hey, kommmt doch mal bei mir vorbei ;-) – zeugen davon, dass Allan Kozinn tatsächlich Fans unter seinen Lesern haben muss – die offenbar auch nie lange auf eine neue Lieferung ihres Lieblingskritikers warten mussten, der nach Berechnungen von Norman Lebrecht an jedem Arbeitstag seines Berufslebens durchschnittlich einen Artikel in seiner Zeitung veröffentlicht hat. Eine beeindruckende Leistung, rechnet man die übrigen Veröffentlichungen hinzu. Man stelle sich vor, Manuel Brug, Eleonore Büning, Wolfgang Schreiber oder Julia Spinola würden von ihren Vorgesetzten mit neuen Aufgaben betraut und Online-Petitionen sprössen aus dem digitalen Humus, verbunden mit der Hoffnung endlich wieder aus deren Feder das neueste über Simonss Sushi, Danis Cohiba oder Claudios Entrückung zu erfahren.
Wie man an den Reaktionen erkennen kann, sind die vielfältigen Verflechtungen zwischen den Akteuren des „Betriebs“ in Amerika genau so ein Thema. Interessanterweise werden diese immer nur bei Kunstkritikern ins Feld geführt, aber glaubt eigentlich jemand, bei den Sportreportern sähe es einen Deut besser aus? Think!
Interessant ist aber auch, wie in den Kommentarspalten – offenbar von Insidern gefüttert – die Rochaden innerhalb einer großen Institution wieder NYT diskutiert werden. Unter den Kommentatoren scheint es sogar noch nicht einmal unwahrscheinlich, dass Kozinn weichen muss, um einem jüngeren Autor ein neues Spielfeld einzuräumen, der – zu einem Fehlengagement – vom Herausgeber nun mit ins Team geholt werden soll. Dass dabei die ästhetisch-diskursivs Satisfaktionsfähigkeit eines Kritikers eine Rolle zu spielen scheint: das lässt immer noch hoffen, dass der Musikkritik trotz des schweren Standes, dem sie gegenwärtig in allen institutionen ausgesetzt zu sein scheint, noch eine Bedeutung hat, die immerhin groß genug ist, um führungskräfte ins rudern zu bringen. Alles Gute, Allan Kozinn für die Zukunft – und euch in New York viel spannende Musikkritik.
Musikjournalist, Dramaturg
Sowas wie den ersten Absatz dieses Artikels würde ich auf jeden Fall sehr gerne mal in der FAZ lesen :-)
Es gibt leider eine Reihe von fragwürdigen Gründen, die hinter der beschriebenen Umwidmung stecken. Hier mag der Wunsch nach höheren Verkaufszahlen, das Profilierungsgehabe eines Chefredakteurs oder eine Anpassungsstrategie an den vermeintlichen Leserfokus dahinter stecken.
Interessant ist eine Parallele im musikpädagogischen Bereich: Politiker aber auch Musikfunktionäre (!) postulieren immer wieder die Abschaffung (sorry, das wäre zu unverblümt formuliert), die Verbreiterung des Schulfaches Musik. Es sollte durch ein breiter vernetztes und die „reale Lebenswirklichkeit“ besser abbildendes Fach ersetzt werden.
So entwickelte man beispielsweise vor einigen Jahren in Sachsen-Anhalt an verantwortlicher Stelle die Konzeption für das Schulfach „Kulturelle Bildung“. Dieses neue Fach würde nicht nur den (durch das Kultusministerium dieses Landes selbst verursachten) Lehrermangel im Fach Musik kaschieren, sondern böte darüber hinaus beste Möglichkeiten zu weitreichender und derzeit groß in Mode gekommener Projektarbeit. In den Lehrplänen würden Themen wie „Musik und Umwelt“ oder „Musik und Drogen“ an die Stelle von bislang musikimmanenten Inhalten treten. Über die Konsequenzen, die ein solch behördlich verordneter musikalischer Kompetenzverlust für die musikalische Bildung aber auch für das gesamte Bildungsprofil jedes einzelnen Schülers hat, ließe sich trefflich streiten.
Umwidmungen dieser Art in den Bereichen Journalismus und Pädagogik werden von ihren Initiatoren häufig als zeitnahe Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen oder gar als visionäre Handlungen verkauft. Möglicherweise sind sie jedoch nur ein Beleg für mangelnde eigene Kompetenz im jeweiligen Bereich sowie fehlende Kreativität und Standvermögen im Umgang mit Akzeptanzproblemen.
Das Niveau der Kritiker in der FAZ ist doch erbärmlich. Ich würde daher eher eine Petition starten, um Eleonore Büning und Julia Spinola möglichst schnell zu neuen Aufgaben zu versetzen. Beide kennen die Partituren und Quellenmaterial gar nicht oder viel zu schlecht, um Interpretationen auf höherem Niveau zu beurteilen.
Die fehlende Qualität der Kritiker ist der eigentliche Grund, warum heute das Musikfeuilleton keine Bedeutung mehr hat.
Es gibt aber mittlerweile zu fast jedem Thema bessere Informationen in Blogs oder Foren und zusätzlich online Klangbeispiele, die mehr Aussagekraft haben als die meisten Kritiken.
Kritiken waren eine Notlösung einer Zeit, als es keine anderen Medienwege gab, um über musikalische Ereignisse zu berichten. Für den Verleger sind sie sehr teuer (Reisekosten plus Arbeitszeit), aber eine Resonanz des interessierten Leserkreises gibt es fast nicht, egal ob positiv oder negativ.
Die Ausnahmen gibt es, wenn ausgebildete Musiker oder Komponisten schreiben. Immerhin merkt man bei der „Zeit“, dass Claus Spahn einmal Musik studiert hat.
Nehmen wir z.B. ein Standardwerk wie Mozarts Zauberflöte in diesem Jahr in Salzburg. Mehr als alle Kritiken hätten mich Aussagen von Harnoncourt zu seinen neuen interpretatorischen Ergebnissen interessiert. Bei Eleonore Büning und fast allen anderen Autoren reichte es dagegen nicht einmal dazu, eine Verbindung zwischen Tempoveränderungen in einer Arie und dem Textinhalt zu sehen, von den Noten ganz zu schweigen.
Joachim Kaiser war unter anderem wegen seiner Partiturkenntnisse bei Musikern respektiert, jedenfalls innerhalb seiner Spezialgebiete, und ein leidenschaftlicher Musikfan wie Reich-Ranicki hat nie Musikkritiken geschrieben, weil er glaubte, Interpretationen nicht ausreichend auf Basis der Partitur beurteilen zu können.