Ticktackticktack – Fringeträume aus Edinburgh
Geraume Zeit schon durchzieht ein feiner Hauch von „breakfast“-Fetten meine Kammer unter dem Dach eines B&B-Hauses gegenüber dem Park, in welchem das Golfspiel erfunden sein soll. Heute sieht man nur noch Rugby-Trainierende oder ein seltsam leeres Bowlingfeld, in dessen Absperrung abends manchmal Senioren ihren Blick von Schrottbergen zum Gipfel von Arthur’s Seat schweifen lassen. Wer es noch nicht bemerkt hat: Ich wache gerade in Edinburgh auf. Wie gesagt, fordern mich fettige Gerüche auf, endlich in die Puschen zu kommen. Auch wenn es sich um den Stadtteil Leith handelt, bekannt als zentraler Handlungsort des Filmes „Trainspotting“, mieft es keinenfalls abstoßend, wie jener Film vermuten ließe. Nun denn, zu Tisch! Als letzter betrete ich den georgianisch überladenen „dinner room“, gerate mitten in das babylonische Stimmgewirr von chinesischen Touristen, die merkwürdige Experimente mit lapprigen Toastbrot machen, ernährungsbewusste Französinnen, die sich über „red beans“ mokieren, Orangensaft verschüttende spanische Liebespaare und mit extrem leiernder Stimme ihre „Annabel“ zurechtweisende deutsche Mütter, an deren Seite der Mann gar nicht mehr auffällt. Selbstverständlich ordere ich „full scottish breakfast“ und benötige für dessen Bewältigung solange, bis ich vollkommen alleine bin, nicht einmal mehr das klappernde Abräumgeräusch der polnischen Perlen vernehme, denn ich bin nun ganz und gar im Bann von drei Uhren, die vollkommen unterschiedliche Zeiten für New York, London und Tokyo anzeigen. Nicht nur die Stunden sind divergierend, auch die Minuten! Tick ta hack ticktack ticketick, Tick ta hack ticktack ticketick, Tick ta hack ticktack ticketick, Tick ta hack ticktack ticketick. Die Uhren hängen seit Tagen, wohl seit Wochen an derselben Stelle fest. Tick ta hack ticktack ticketick, Tick ta hack ticktack ticketick, Tick ta hack ticktack ticketick. Ich schweife in die Ferne…
Ganz klar sehe ich plötzlich das Edinburgh Castle vor mir auftauchen. Weiter vorne, auf der anderen Seite der Bank Street sind seltsame Stimmen und Klänge zu hören. An der ersten Ecke steht ein Klavier, genauer ein Flügel. Ein Mann in den besten Jahren rast immer atemloser um das Instrument herum und vollführt merkwürdige Klang- und Spielaktionen. Die Umstehenden werden immer zahlreicher, feuern ihn und lassen ihn förmlich hochleben. So beginnt er seine Vorführung von vorne und rast noch atemloser drauflos. Ein wenig weiter lässt ein anderer Mann, doch jünger als der Erste und auffälliger gekleidet, Spielzeugroboter marschieren, derweil ein Industrieroboter unendlich viele Formulare ausfüllt und immer wieder zu Konfetti zerschneidend in die ungläubig staunende Menge schleudert. Das spaltet die Zuseher in solche, die zustimmend verharren und andere, die wortlos von dannen eilen. Auf einem Steinpfosten balanciert ein schlaksiger Franzose mit Nickelbrille, spricht immer wieder deutsche Worte wie „…ist“, „…auf“, „an…!“ ausruft und dazu einen sehr ernsten Schlagzeuger feierlich eine Pauke traktieren lässt. Auffällig ist dabei die das Händefalten der schweigenden Zuhörerschaft. Auf dem Pfosten gegenüber sitzt ein Spanier, blättert immer wieder Seiten in einem Buch um, wozu zwei Sänger auf einem Holzgestell über ihm „ahh – fssss – ghe“ oder Ähnliches intonieren. Knapp zehn Meter weiter schüttelt ein rothaariger freundlicher Herr immer wieder an seinem Schrank, der dann jedesmal wundersame Klänge für Flöte, Oboe, Streicher bzw. in allen erdenklichen Rottönen wummernde Synthesizer an Stelle von knarzenden Möbeltüren erklingen lässt. Ein sehr akkurat und präzis stampfender wie schreiender, manchmal auch singender Countertenor wird lebhaft von einer osteuropäischen Mama umkreist. Wenige Schritte davon entfernt verengt sich die Passage für die Fussgänger. Dies nutzt der älteste der Herren für unendliche Pizzicati-Unterweisungen für ein paar Violinen, was wie die reinste Sysiphosarbeit wirkt, aber doch gerne ausgeführt zu werden scheint. Ein freundlicher, jüngerer Herr wird von älteren Damen umlagert und löst unter diesen betroffene Rührung aus, wenn er einen Cassettenrecorder abspielen lässt, auf dem ein fast unverständlicher Sopran „Ich bin schwer krank“ säuselt. Mehr Erfolg hat ein leicht jüngerer Herr, der zu seinen wahnsinnigen Klarinettenklängen eine Vokalartistin gurren lässt. Es sind natürlich wieder die gerührten alten Damen, die mehrheitlich an dieser Station hängen bleiben. Wenn man das gurren der Vokalistin entziffert, vernimmt man so was wie „ich bin ein Klon“. So rauschen und hauchen, zirpen und surren noch etliche Andere, verteilen kesse Mädels und adrette Jungs Tausende Flyer und übertönen mit ihren marktschreierischen Aufforderungen, doch sofort um x-Uhr jene „great show“ zu besuchen manchen Performer. Die meisten japanischen Fotoapparate zieht nur ein merkwürdiger Herr mit Brille, Anzug und Koteletten auf sich: Er schwingt mit seiner Linken ein Laserschwert, das wie ein Entenlockinstrument klingt. Seine Rechte stützt er auf einen Stab, der in einen Teppich am Boden mündet. Darüber scheint er wie im Schneidersitz zu schweben…
Es scheppert und das yodaartige Geschöpf zerplatzt! Mit großer Geste und noch grösserem Lärm trägt die polnische Perle meine Frühstücksreste ab. Wer den obigen Absatz genau liest, wird bemerkt haben, wie ich den Kollegen Eggert, Kreidler, André, etc. einen Werbeauftritt auf der Royal Mile bescherte, unterschob. Es geht dabei um das Fringe-Festival für freie Theatertruppen. Immerhin nehmen auch etliche Musikformationen daran teil, natürlich kann man die unter „experimentell“ oder „Neue Musik“ firmierenden Gruppen nicht einmal an einer Hand abzählen. Mein realer Traum neben jenem Wachtraum wäre allerdings wirklich mal in einer verkehrsreichen Zone einer Großstadt ein Neue-Musik-Open-Air ähnlich diesem Fringe-Festival abzuhalten: Arnecke, Widmann, Kampe, Spahlinger, etc. raus aus dem Konzertsaal, hinein in die Fussgängerzonen! Je lauter die Umgebung, umso leiser müsste die Musik erst Recht sein: absolut akustisch entwürdigende Bedingungen, dafür aber die Tuchfühlung mit der shoppenden oder touristischen Laufkundschaft. Apropos Widmann und Eggert: Das erste Adevantgarde-Festival warb mit solchen zarten Auftritten der beiden für sich auf den Straßen der Münchener Fußgängerzone. Das wurde dann später leider nicht mehr wiederholt. Wobei es auch nichts bringen dürfte, nur vereinzelt und zaghaft eine deutsche bürgerliche Meile damit zu bestücken! Es müsste wirklich so dicht zugehen wie in Edinburgh. In Realität ist dies natürlich meist Kunst zwischen Revue, Musical und Zirkus oder haben allenfalls exotische Schauspieltruppen wie schwule Römer, fußballspielende Japaner oder einen „riot“ imitierende Truppen die Chance, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Experimentelleres hat aber ebenfalls gute Aussichten, wenn es sich was Spektakuläres einfallen lässt.
Dieses Jahr gab es immerhin zwei kleine Opernproduktionen, die Zeitgenössisches versuchten unter das Volk zu bringen und dabei immer zwischen allen Genres changierten, von Mystery bis zu Doku-Soap. Gefällig im Tonfall war die Werwolf-Story „The Wolves Descend“ des Bristoler Komponisten Matthew Pearson. Durch die Bank durch das Studentenensemble hervorragend gesungen, für gerade mal sieben Musiker und doch acht Sänger – alle auf einer nicht mal 25 m² großen Bühne, wusste man am Ende nicht wer jetzt Werwolfkiller oder Werwolf sein wollte. Angesichts der schönen Phoebe steht ein kroatisches Dorf Kopf.
Bekannteres bearbeitend, nach mehr „kultureller Relevanz“ heischend „The Francis Bacon Opera“: Ein originales Interview zwischen dem Maler Francis Bacon und Melvyn Bragg in der TV-Sendung „The South Bank Show“ im Jahre 1985 lässt die beiden in drei Szenen erst über die malerische Konkurrenz – ein herrliches Invektiv gegen „depressing Rothko“ – in der Tate Gallery lästern, über das einzige abstrakte Bild Bacons, die Wand an der er seine Farben mischte, in seinem berüchtigt chaotischen Atelier sprechen, bei immer mehr Wein über Sex und mehr sinnieren. Das findet in einem windschiefen quadratischen Plastikgerüst als einziges Teil des Bühnenbilds statt. Ein Klavier begleitet die beiden Tenöre Oliver Brignall und Christopher Killerby, letzterer in seinem vollkommen britischen Duktus wunderbar den Tonfall Bacons imitierend.
Komponiert hat dies der Londoner Stephen Crowe in einer wild mixenden Musik, die durchaus lyrisch aber genauso unspielbar-ätzend sein kein. Crowe komponiert sonst ziemlich „auf dem Materialstand“seiende Musik. Er schafft es aber dennoch immer unterhaltend zu sein, was hierzulande gerne verpönt ist, so aber spielend alle Berührungsängste zwischen einem leicht auf den Stühlen rutschenden Publikum mit Neue-Musik-Hardcore überwindet und dabei zwar leicht an der Grenze zum Banalen vorbeischrammt, dennoch erstaunlich immer wieder die Kurve kratzt. Man kann es teutonisch als nervend ansehen, oder jünger, offener als Abenteuer bezeichnen. Das wahre Abenteuer bleibt aber, von einer radikalen Öffnung der Konzertformen Neuer Musik zu träumen. Einfach mal durchlüften, an die frische Luft, ins Haifischbecken der Strasse… Oder sollte ich weiterträumen müssen?
Komponist*in