Wozu noch Darmstadt? – Gastartikel von Malte Giesen

Nachdem ich bereits Schelte abbekam, nicht authentisch, persönlich präsent aus Darmstadt berichten zu können, sondern nur nervig an der sich von dort aus zeigenden Oberfläche im Internet gekratzt zu haben, nun die Stimme eines jungen Kollegen, Malte Giesen, der dankenswerterweise hier nun seine Ansicht schildert. Ein wenig beruhigt mich sein Rufen nach, ich sage mal, Inhalt, Auseinandersetzung, Vollblutmusik! Genauso wie ich via Web scheint er auch die Musiken von Schubert und Kreidler am einrücklichsten zu finden, was meine simple Aussenschau zu bestätigen scheint. Was Malte über seine 80er Generation sagt, trifft bereits genauso auf die meinige, die 70er  Jahrgänge zu: Der EU-Norm-Komponist. So ruft er nach Persönlichkeit, nach Begegnung und Auseinandersetzung. Was soll ich noch sagen? Um ähnlich wie Malte sprechen zu können, wobei ich mir das „dürfen“ jetzt bereits nicht nehmen lasse, werde ich 2014 doch höchstselbst nach Südhessen fahren müssen. Vorerst lieben Dank an Malte Giesen, Bühne frei für ihn ganz persönlich:

Wozu noch Darmstadt?

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Da ich dieses Jahr meinen Einstand in Darmstadt hatte, kann ich schlecht vergleichen, kenne die Aura des Exklusiven nur vom Hören-Sagen. Daher werde ich nun nicht auf einzelne Stücke und Lectures eingehen, auch nicht auf die Netzpolitik des IMD, sondern meine Beobachtung schildern, die ich (nicht nur während meines Aufenthaltes dort) gemacht habe.

Was unterscheidet Darmstadt also von jedem anderen Kurs für Neue Musik, sei es Impuls in Graz, die Session in Royaumont, Acanthes oder die Solitude, bzw. Harvard Sommer-Akademie. Oberflächlich betrachtet ziemlich wenig, die gleichen Prozedere, ähnliche Konzerte, Workshops, Lectures, Reading-Sessions, Unterricht bei den immer gleichen Lehrern. Überall die gleichen Gesichter, die gleichen Partituren, die gleichen Namen für die Stipendien und Aufträge, das gleiche englische Hintergrundgeplapper in den Einzugsbereichen des Festival-WiFis und überall der gleiche Flöten-Workshop mit Eva Furrer. Das alles ist vielleicht für das erste, vielleicht auch das zweite Mal ein guter Einstieg, viel Input, viele Kontakte. Danach aber, da wird es zäh, eine frustrierende Eintönigkeit macht sich breit, man wird träge, schleppt sich kaum noch zu den zahllosen Lectures, packt nicht mehr alle Partituren aus um sich von den alten Herren auf die Schulter klopfen zu lassen.

Auch die Ensembles sind überall die selben. Und wer gespielt werden will, der muss wohl oder übel für diese Besetzungen schreiben, meistens sogar neue Werke. Es gibt ein paar Verdächtige, die wirklich auf jedem, aber wirklich jedem Kurs zugange sind. Nach meiner Rechnung müssten diese ca. 25 neue Ensemblestücke pro Jahr schreiben und versenden. Martin Schüttler sagte einmal, das Ensemble sei das Orchester des 20. Jahrhunderts. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, die Bassflöte mit Elektronik ist das Orchester des 21. Jahrhunderts.

Das, was in unserer Generation der 80er Jahrgänge kennzeichnend ist, keine Ziele, keine politische Einstellung, Lebenslaufpolitur, ein gelebter Hyper-Individualismus, das alles lässt sich auch sehr gut am Großteil des jungen Komponisten beobachten, die versuchen, auf Festivals und Kursen Karriere zu machen. Wo ist der Anspruch geblieben, mit jedem Stück Musik die Frage nach derselben noch einmal neu zu stellen? „It’s not all about novelty“, höre ich dann. Doch! Doch, doch, doch, doch, genau darum geht es! Personal-Stil kann keiner gebrauchen! Leider wurde dieser Anspruch katastrophal missverstanden, wurde zu einer reinen Suche nach neuen Klängen auf traditionellen Instrumenten, in traditionellen Formen, in traditionellen Konzerten degradiert. Diese Entwicklung wurde durch die Struktur der bestehenden Kurse massiv gefördert, die meisten Workshops bestehen nur daraus, den gesamten Katalog an Spieltechniken auf einem klassischen Instrument vorzuführen (Beispiel in Darmstadt: „Split-tones on the trumpet“).

Eine neue Spezies an Komponisten entstand: Der EU-Norm Komponist. Stücke von 8-12 Minuten Dauer, klassische Ensemblebesetzung (besonders beliebt: Flöte, Klarinette, Klavier, Geige, Cello)

enthalten die Gaußsche Normalverteilung an institutionalisierten Spieltechniken, ein Hauch Komplexismus hier, ein Quentchen Spektralismus dort, hier noch eine Fibonacci-Folge, etc.

Und auch die Titel scheinen einer einfachen Regel zu Folgen: Entweder, man nehme einen Begriff aus der Akustik und kombiniere ihn mit einem poetischen angehauchten Begriff. Oder das Stück heißt einfach so, wie das, was darin passiert. Und diese Komponisten machen auch noch massenhaft Karriere. (An dieser Stelle verweise ich auf Michael Rebhahns fantastischen Text in einer der Lectures, ich hoffe, er wird bald irgendwo im Netz zu lesen sein.) Auch der Einsatz von Elektronik, der an vielen Stellen sehr vielversprechend aussieht, wie an den Werken von Schubert, Kreidler, und nicht zuletzt dem Nadar Ensemble klar wurde, läuft gerade Gefahr, der gleichen Entwertung zu unterlaufen wie die erweiterten Spieltechniken der klassischen Instrumente. Positiv anrechnen könnte man die Tatsache, dass durch sie Komponieren sexy geworden ist und durch die Durchmischung mit der weit verbreiteten Elektroszene der Neuen Musik zu einer größeren Resonanz verholfen hat. Doch der überwiegende Eindruck ist:

Komposition ist keine Kunstform mehr, es ist Design. Der heutige Komponist hat keine Ecken und Kanten, bewegt sich aalglatt in bestehenden Strukturen und bedient den Markt.

Ein Hipster der Neuen Musik.

Wer an dieser Stelle aufhört zu lesen, sich dem üblichen Neue-Musik-Gemecker ausgesetzt sieht, der sei nun beruhigt. Denn jetzt kommt das große ABER:

Nirgendwo anders als in Darmstadt habe ich so viele Kolleginnen und Kollegen kennen gelernt, die meine Meinung teilen, denen es ähnlich geht, die für ihre Sache brennen, sich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Musik und der Welt stellen. Nirgendwo anders habe ich solch interessante Menschen getroffen, habe Freundschaften geschlossen, Kollektive gegründet, Pläne geschmiedet, Utopien ent- und verworfen, kurz gesagt: INSPIRATION erhalten.

Und in dieser Hinsicht hat Darmstadt doch noch immer seine Exklusivstellung, seine zentralere Position im Geschehen. Die letzten 45 Ferienkurse sind nicht wirkungslos verhallt oder untergegangen im Brei der Internationalen Szene. Hier trifft man noch auf Idealisten, Querdenker, unbequeme Meinungen und Musik, PERSÖNLICHKEITEN. Menschen, die in ihrem gesamten Streben und Tun (und nicht nur in ihren Stücken oder Texten) eine Weltanschauung vertreten und, ich möchte fast sagen, den Traum einer besseren Welt verfolgen.

Das ist es, was ich vermisse und was die Welt braucht: Vollblutkünstler. Menschen.

Die Musik hat keine Unschuld, sie kann, sie darf nicht nur ästhetische und handwerkliche Oberfläche bleiben. Der Komponist hat, um mit Sartre zu sprechen, eine moralische Verpflichtung gegenüber der Welt.

Vielleicht sehe ich auch alles aus einem zu engen Blickwinkel. Die Neue-Musik-Szene ist eine Szene ohne Zentrum. Jeder empfindet sich an ihrem Rand. Jeder sieht sich, seine Musik oder seine Veranstaltungen als Rand-Entwicklung, als Vorgarten, außerhalb des vermeintlichen Glamours.

Seien wir ehrlich. Die Szene ist verdammt klein. Sie ist eine Welt mit Stars zum anfassen. Auch außerhalb ihres Ereignishorizonts ist die Neue Musik dermaßen autistisch veranlagt, da können bildende Künstler und die freie Elektroszene sich nur wundern (sofern sie überhaupt wissen, dass es so etwas wie Neue Musik gibt).

Kein Mensch kann sich etwas unter dem Begriff Neue Musik oder unter dem Schaffen des Komponisten etwas vorstellen. Was kann der einzelne schon ausrichten?

Viel.

Wenn auch nur ein einziger Mensch nach dem Hören eines Werks der Neuen Musik seinen Begriff von Schönheit oder seine generellen Maßstäbe hinterfragt, eine neue Stufe des Bewusstseins erlangt hat, dann ist damit schon viel erreicht. Das geht aber nicht mit Designklangflächen, Flötengeraune oder Splittones auf der Trompete. Das geht nur mit ganzheitlichem künstlerischem Streben, in ständiger Suche, in Fehlschlägen und Erleuchtungen, in Zweifeln und Hoffen.

In diesem Sinne gilt mein Dank all denen in Darmstadt, mit denen ich getrunken, gelacht, in Konzerten gelitten, gestritten und Zukunft entworfen habe.

Malte Giesen, 12.08.2012

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5 Antworten

  1. Vielen Dank für diesen ganz tollen Artikel, Malte!

  2. Sagen wir so: die Inhalte und das Geschriebene betreffen Darmstadt seit ca. 1985.
    Ein sehr schöne „Sozialstudie“! Ob die aber was ändert? Ich befürchte kaum.

  3. Willi Vogl sagt:

    Als „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ bezeichnete mein Kompositionslehrer Alfred Koerppen die Darmstädter Sommerkurse. Nicht zuletzt durch seine kritische Äußerung neugierig geworden fuhr ich hin und erlebte spannende, anregende und aufregende Wochen mit ambitionierter und exaltierter, aber auch öder und emotionsferner neu komponierter Musik – Musik wie sie in ihrer Art und in dieser Häufung kaum anderswo zu hören ist. Die vorgestellten Werke in der Bandbreite zwischen des Kaisers neuen Kleidern und tiefgründig schillernden ästhetischen Standpunkten wurden wortreich bis hitzig diskutiert.
    Mit Erstaunen und kreativer Verunsicherung nahm ich 1988 als Stipendiat der Sommerkurse einen Vortrag von Claus-Steffen Mahnkopf wahr. Der gleichaltrige Student aus Freiburg stellte hier mit befremdender Eloquenz und horrendem Selbstbewusstsein sein neues Stück für Oboe solo vor. In seinen kompositionstechnischen und ästhetischen Bemerkungen sowie den Einlassungen zur Wirkung, der kompositionsgeschichtlichen und gesellschaftsrelevanten Einbindung bekam ich den Eindruck, hier hat einer den Stein der Weisen gefunden. Einen gleichsam ungewollt kabarettistischen Anstrich bekam der Vortrag zudem durch die Tatsache, dass das Stück im Notentext erst als Torso vorlag und die verbalen Ausführungen zum großen Teil lediglich auf einer detaillierten Konzeption beruhten.
    Man kann sich lebhaft vorstellen, dass diese scheinbar historisch legitimierte, letztlich jedoch hoch spekulative Präsentationsform zu einer kontroversen Diskussion führte. (Nichts für Ungut, lieber Prof. Mahnkopf! Nicht erst unsere jüngeren Leipziger und Hallenser Gespräche brachten mich zu der Erkenntnis, dass Polarisierung eine wichtige Tugend im Zusammenhang mit der (eigenen) Positionsbestimmung sein kann.)

    Wenngleich die in Darmstadt aktiven Spezialensembles die dort gespielten Werke nicht automatisch zur Repertoirefähigkeit oder gar zur Publikumsfähigkeit führen, und der verbale Austausch nicht immer eine kompositorische Entsprechungen im Hintergrund hat, kann man den enormen kommunikativen Wert der Darmstädter Sommerkurse und die damit verbundenen Möglichkeiten zur (eigenen) Standortbestimmung nicht hochgenug einschätzen. Darüber hinaus sind Märkte und damit verbundene Chancen wichtig. Kompositionsbörsen wie Darmstadt mögen eine Momentaufnahme von modischen Strömungen geben und bei ästhetikkonformen Komponisten gelegentlich auch Karrieren befördern. Sie sind jedoch nur ein Element in einer Reihe mit weiteren ebenso wichtigen Vernetzungsmöglichkeiten wie etwa dem städtischen Orchester vor Ort, befreundeten Musikern oder pädagogischen Projekten in Schulen.
    Zudem verändert sich mit zunehmendem Abstand zu meinem damaligen Darmstädter Erlebnis meine Sicht auf das Verhältnis zwischen Entwicklung meines kompositorischen Standpunktes und dem Aufwand zu seiner Vermarktung. Der Blick auf die Werksubstanz wird wichtiger – eine Entwicklung weg von affektiver verbaler Präsentation auf der Suche nach der Emotionalität einer bekennenden Faktur.

  4. malte sagt:

    In der Tat gibt es die beschriebene Problematik schon seit ca. 2 Jahrzehnten, ich will mich auch nicht in die üblichen Kritiken über „die“ Neue Musik einreihen. Ich fand, dass Darmstadt dieses Jahr eher ein Beweis dafür war, dass sich etwas ändert. Johannes Kreidler hat in seinem Blog mittlerweile auch darüber berichtet, ich sehe das auch so wie er. Neue Musik differenziert sich aus, der klassische Konzertsaal beginnt, Randerscheinung zu werden.

  5. Alexander Strauch sagt:

    den vorgang einer ausdifferenzierung der dinge unter dem hut neue musik in neue musiken sowie der daraus resultierenden raumfragen kann man erstens nur begruessen. zweitens ist aber davor zu warnen aus dem differenz ein exkludieren zu machen. die raueme muessen letztlich auch v.a. akustisch sinn machen. nur aufgrund des offoffcharakters und dessen charme sollte nicht massstab der klaerung sein. ich kann nur zu gut verstehen, wenn kommunen auch ihre teuren kulturinfrastrukturen genutzt sehen wollen. was ich nicht goutiere, ist dann die finanzielle ausdifferenzierung auf seiten der kulturbehoerden, wenn unter dem mantel offoff ist sexy neue musik letztlich aus kostengruenden dorthin abgeschoben wird. sprich, neue musik auch ganz anders gearteter natur gehoert sehr wohl auch mal in einen traditionellen groesseren saal. strebt doch das aktuelle vorbild bandbasierter musik sehr wohl auch mal vom bunker in die philharmonie. was von relevanz redet, diese einfordert, gehoert auch mal aufs hauptforum einer stadt. sonst gibts sehr bald wieder nur fruechte von worthuelsen. also die uebliche musikrhetorik, an welch zuletzt herr vogl erinnerte.

    noch was: allgemein wird gerade von gehaltsaesthetischer wende gesprochen. ich simpler kopf verstehe darunter, dass zur form auch gerne wieder aktiv das inhaltliche stark hinzutreten soll. neben konzeptverkuendenden wie konzeptverschweigenden neuen praesentationsformen sollte man aber auch.nicht das dramaturgische element vergessen. da lugt ggf. bald der kitsch um die ecke oder werden doch mal alte kammermusikformate bedient, was manchem denker gar nicht gefallen wird. dennoch sollte man die platte wirkung von in der zeit entfalteten gedankengaengen in, mit u. ueber musik nicht unterschaetzen. was relevanz fordert, muss so nicht nur auf entspr. foren, sd. auch in die hirne und herzen der hoerer. ich kann nur ueber mich sagen: ich fuehle mich gerade schon mal wieder weitestgehend exkludiert und zum kitschmacher reduziert! aber sprach nicht der 80er jahrgangsgenosse benjamin lebert in der zeit davon, dass man sich trotz aller wiederholungsgefahr auch trauen muss, sein eigenes ja zu kitsch und romantischer haltung zu erwecken? was nutzen die besten politismen im powerpointformat, wenn sie.nicht auch mal ganz aplombhaft ihre relevanz in toenen und phon statt nur konzept, konferenz und performance herausschreien? aushauchen? ich stehe sehr wohl im richtigen moment von relevanz des inhalts und der form auf jene emphase…