Können Komponisten der Musiktheorie heute noch in die Augen schauen?

Heutige Kompositionsstudenten sind mehr denn je zu zukünftigen Hungerkünstlern verdammt! Mag die Förderung und künstlerische Lehre noch so niveauvoll sein. Trotz der Umstellung von Diplom- auf Bachelor-/Masterstudiengänge haben die meisten Kompositionsabteilungen der deutschen Musikhochschulen eine Aufwertung ihrer Abschlüsse, besonders der Bachelorabschlüsse, verschlafen. Auf einem Nebenkriegsschauplatz, dennoch einem Wichtigen: Die Zementierung der Abkopplung der Musiktheorie von der Komposition.

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Ich spreche aus eigener Erfahrung. Als früher 70er Jahrgang begann ich 1992 mein Kompositionsstudium. In Gehörbildung und Tonsatz wurde ich von Lehrbeauftragten unterrichtet, die zwei bis fünf Jahre vor mir ihr Kompositionsstudium beendet hatten. Ich lernte fleissig, war manchmal sehr gut, manchmal nur gut. So glaubte ich ein wenig, dass ich bei genügender Anstrengung und Leistung in absehbarer Zeit wie die älteren Kollegen Theoriestunden für Studienanfänger, später vielleicht auch Fortgeschrittene geben könnte. Weit gefehlt! Schnell ernüchtert! Das erste Aufwachen kam, als ich sah, wie die besagten älteren Jahrgänge selbst immer mehr unterrichteten, irgendwie auf ihren unterbezahlten Lehraufträgen stecken blieben, viel zu viel Zeit in diese Karriere denn die künstlerische Weiterentwicklung investierten. Wie sollte ich je ein paar Stündchen abbekommen, ohne deren Futternapf zu anzuknabbern? Dennoch hätte ich gerne den Einstieg über die Komposition in die Theorie gefunden. Am Ende des Hauptstudiums das zweite Erwachen: fast nur noch die frischgebackenen reinen Nur-Musiktheoriestudenten, meist Schulmusiker, hatten eine Lehrchance. Hatte ich nicht die Schulmusik im dritten Jahr erst an den Nagel gehangen? Jetzt nochmals Theorie studieren? No, Nein Niet!!

Bis heute hat mich nicht das schale Gefühl verlassen, dass die o.g. älteren ehemaligen Kompositionsstudenten mit der Tonsatzzunft gemeinsame Sache machten, die wackelige, aber begehbare Brücke vom Künstlerufer zum Theoretikergestade hinter sich abfackelten, statt eine Aufwertung des Kompositionsstudiums schon damals zu verlangen. Ziel aller Studienordnungen im Bereich Komposition ist es, gut ausgebildete Künstler zu generieren, denkt man deren Vielzahl. Was fehlt, ist eine pädagogische Bildung, die zur Lehre befähigt, auch schon im Bachelorstudiengang! So bleibt den mit Hochschulreife ausgestatteten Kompositionsstudenten nur der Weg über ein Zweitstudium, eine Promotion, um musiktheoretische Anerkennung zu finden. Aber ist die Theorie, die Musikwissenschaft nicht integraler Bestandteil ihres Studiums, belegen sie nicht überwiegend die gleichen Seminare wie die Theoriestudenten? Im angeblichen Bildungsweltmeister-Freistaat Bayern gibt es bis heute keine wissenschaftliche Abschlussarbeit eines Kompositionsbachelors. An anderen Hochschulen gehört dies längst zum Standard, kann man mit dieser an einigen Häusern mit etlichen Aufholmühen sich höhere Weihen zum Theorieunterrichten erarbeiten. Kann nicht jeder künstlerische Instrumentalstudent immerhin eine pädagogische Prüfung ablegen, muss er es nicht an den meisten Musikhochschulen?

An der Würzburger Musikhochschule ist im Modulplan für den Bachelor in Komposition die Rede von „Strukturen“, Tonsatz, Gehörbildung, Notensatzedition und etlichen Prüfungen in diesen Feldern. Also eine umfassende Ausbildung. Musikpädagogische Wahlmöglichkeiten, gerade in Hinblick Tonsatz als Bestandteil des Studienganges: Fehlanzeige! In München ist es nicht anders. Das soll nicht die künstlerischen Teile an jenen Orten schmälern, kann man doch Musiktheater und Orchesterstücke zur Aufführung bringen. In musikpädagogischer und wissenschaftlicher Befähigung der Absolventen herrscht terra incognita.

Geht man nach Baden, an die Musikhochschule Freiburg, sieht es künstlerisch sehr gut aus, die musikpädagogische Befähigung der Studierenden gibt es hier genauso wenig. Immerhin wird in Musikwissenschaft ordentliches know-how vermittelt, um eine wissenschaftliche Bachelorarbeit abliefern zu können. Mit der allein ist noch keine musikpädagogische Fortbildung gewonnen. Nach dem Master könnte man immerhin versuchen, irgendwo in der Bundesrepublik zu promovieren. Das ginge vielleicht sogar in München, mit heftigen Auflagen zwar, aber erlaubt die Promotionsordnung doch einige Ausnahmen, vorausgesetzt man findet die Gnade des Promotionsauschusses.

An der Robert-Schumann-Musikhochschule in Düsseldorf gibt es das Wahlmodul musikpädagogische Projekte. Die verhelfen auch nicht zum musiktheoretischen Geldverdienen, sind aber ein ausbaufähiger Ansatz.

Viel interessanter wird es an den Musikhochschulen in Hamburg und Leipzig. In Leipzig gibt es im Bachelorstudiengang Komposition das Wahlmodul Fachmethodik Musiklehre/Hörerziehung. Ob die Studenten praktisch auf andere Studierende unterrichtend losgelassen werden, weiß ich nicht. Es findet dennoch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Lehre all der eingetrichterten Theoriekenntnisse statt.

Hamburg mit seiner Musikhochschule könnte man als einzige musiktheoretische Praxisschmiede für Kompositionsstudenten in Deutschland bezeichnen. Endlich findet sich ein Bachelorstudiengang, der die Komponisten einigermassen den Musiktheoretikern gleichstellt, wo Abitur wie das immense Theoriewissen nochmals eine andere Wendung erfahren, als provokant gesagt, den jungen Komponisten nur leicht verwaschene Selbstvermarktungskenntnisse zu vermitteln. Im Vermittlungsmodul 3 sind Lehrproben zu halten, um eine „Reflexion methodisch-didaktischer Grundlagen des Theorieunterrichts und der Vermittlung der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts“ als Qualifikation zu erzielen. Rein theoretisch sind diese Absolventen damit befähigt, ihr Fach und das Nachbarfach Musiktheorie grundständig zu unterrichten. Das schliesst „höhere Weihen“ und Fortbildungen nicht aus, aber die Möglichkeit ein, überhaupt einigermassen von der Theorieseite anerkannt unterrichten zu können. Es gibt immer wieder bzw. noch Ausschreibungen von Lehraufträgen, auf die sich auch reine Komponisten bewerben können. Ob die Hamburger nun bessere Chancen haben als die Münchener, das kann man nur im Einzelfall bewerten. Liest allerdings eine Besetzungskommission die hanseatischen Qualifikationen, dürfte ein ehemaliger Student aus diesem Stall die besseren Karten als jeder andere haben, rein theoretisch betrachtet. Die Einladungsusancen sind wieder ein anderes Kapitel. Und die meisten Stellen im Theoriebereich werden inzwischen nur noch für Absolventen mit reinen Musiktheorieabschlüssen ausgeschrieben. In Hamburg zeigte zumindest die von mir gescholtene brückenabbrechende kompositorische Vorgängergeneration den richtigen Mut und schuf das, worüber deren im Süden verbliebene ehemalige Kommilotonen jammern und klagen: eine gleichgerichtete Aufwertung der Komposition gegenüber der Musiktheorie.

Wie erging es mir weiterhin? Zehn Jahre nach Studienbeginn hatte ich nach x-fachen Blindbewerbungen endlich eine Chance, mich an meiner Heimatmusikhochschule zu präsentieren. Wie zur späten Rache wurde ich gleich einer drittsemestrigen gymnasialen Schulmusikergruppe zum Frass vorgeworfen, die beim Thema Invention für das bachsche Clavichord dieses mit Celesta verwechselten. Mit mir „sangen“ zwei veritable promovierte Musiktheoretiker/-wissenschaftler vor – alle drei wurden wir abgelehnt. Für einen noch nicht eingetretenen Vertretungsfall sollte Personal geschürft werden. Monate später munkelte man, dass dies dann mit einer Person geschehen sei, die sowieso schon am Hause vertreten habe. Und heute? Mein musiktheoretisches Wissen schlummert tief, auch wenn es ständig in Arrangements, Bearbeitungen und Instrumentierungen vielfältig praktisch angewandt wird.

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