Hörst du nix? Tetsuo Furudate sampled Georg Büchner in Bielefeld
Außergewöhnlich lang ist die Liste der „Risiken und Nebenwirkungen“, vor denen das Theater Bielefeld vor der Aufführung der „Death Fragments“ warnt: „Ohrstöpsel erhalten Sie an der Garderobe, in den Laser schauen ist ungefährlich, Achtung, wir schütteln Sie durch und wenn Sie spitze Absätze haben, suchen Sie sich besser gleich den Kavalier, der Sie zum Platz trägt“, so, oder so ähnlich warnt man den wagemutigen Besucher, der sich an die Krippe des jüngsten Kindes des „Fonds experimentelles Musiktheater“ (FexM) wagt. Seit fünf Jahren fördern das NRW Kultursekretariat und die Kunststiftung NRW mit dem FexM Produktionen, die das Verhältnis von Musik, Wort und Szene in einem experimentellen Prozess neu zu bestimmen suchen. Partner sind dabei die nordrhein-westfälischen Stadttheater, die mit Ihren künstlerischen Kräften und ihren Gewerken die neuen Musiktheaterwerke auf die Bühne bringen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass genau so wenig definierbar ist, was denn nun „das experimentelle“ ist, wie es heute schwer fällt, den Begriff „Musiktheater“ auf den Punkt zu bringen. Und so lassen sich die Kriterien für Scheitern und Gelingen einer Produktion jeweils nur aus deren eigenen Voraussetzungen her entwickeln. Für die achte Produktion des FexM – der zweiten unter Beteiligung des Theaters Bielefeld – hat die Jury, bestehend aus Amelie Deuflhard, Paul Esterhazy, Heiner Goebbels und Hans-Peter Jahn eine Einreichung des japanischen Klangkünstlers Tetsuo Furudate
und des niederländischen Medienkünstlers Edwin van der Heide ausgewählt. (Wie man hört, hat ein Großteil der Jury es in den ersten beiden Vorstellungen verabsäumt, sich das Ergebnis ihrer Wahl anzusehen. Es sollte meiner Ansicht nach verpflichtend werden für Jury-Mitglieder, dass sie sich ansehen, was sie mit Ihrer Wahl verbrochen haben, aber das steht auf einem anderen Blatt.)
Furudate ist ein Pionier der japanischen Noise-Szene und entdeckte vor einigen Jahren den in Japan kaum bekannten Georg Büchner für sich. „Death Fragments – Büchner, 23 years old“ ist eine Collage aus Büchners Lenz, Woyzeck, Dantons Tod und zeitgenössischen Dokumenten über Büchner: Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin und der Caroline Schulz, die Büchner während seiner letzten Tage pflegte. Diese zusammengesampelte Textebene handelt nun von der Todessehnsucht des jungen Büchner, dem Wahnsinn seiner Figuren, der – so insinuiert es die Collage – auch Büchners eigener ist. Mit Hilfe des dokumentarischen Materials wird das Geschehen zum Bio-Pic umgewertet. Das Publikum befindet sich auf einem Gitterrost, unter dem sich Lautsprecher und Licht-Elemente befinden, auch eine Rüttelmaschine, die den Grill mal ins Vibrieren bringt. Gespielt wird auf der Kammerbühne des Theaters am Markt. Die Bühne ist beinahe leer bis auf ein Objekt des Künstlers Markus Karstieß – eine Art mit Platin überzogene Keramik-Sonne/Blüte von der Größe eines Wagenrades. Sie dient als Reflektionsfläche für die Laserstrahlen Edwin van der Heides, der mit Lichtbrechungen, Nebel und Laserstrahlen auf subtile Weise Räume schafft, mit kleinen Lichtgesten das „Verrückt-Werden“ einer Welt andeutet und mit sparsamen Mitteln auch narrative Lichtstimmungen erzeugt. Gesungen wird nicht, muss ja auch nicht sein. Und der Sprechtext der Schauspieler wird die meiste Zeit über untermalt von einem tiefen Drone, der sich immer wieder zu exaltierten, explosiven Interventionen steigert und den Hörer einer übergriffigen, gewalttätigen Krachorgie aussetzt und die Überforderung, der sich die Protagonisten ausgesetzt finden, unmittelbar auf den Zuschauer überträgt. Jeder, der schon einmal einen fröhlichen Abend in einer besseren Disco verbracht hat, kennt das Kitzeln in den Eingeweiden, das von solcher Lautsprechermusik ausgeht, wie körperlich man plötzlich hört und wie sinnüberflutend das vor sich gehen kann. Wer sich aus medizinischen Gründen für die Ohrstöpsel entscheidet, dem entgehen freilich die einzigartigen Schärfen, die Furudate seinen akustischen Bombenabwürfen und Erdbebenschlägen zu geben vermag, die scharfkantig bis in die letzte Sinuskurve den Raum durchschneiden.
Aber sei’s drum. Die Ohrstöpsel helfen auch, die gestelzten Textabsonderungen zu ertragen, die da über die Rampe kommen. Denn ganz offensichtlich fehlte der experimentellen Produktion ein Regisseur im herkömmlichen Sinne. So richten sich die Schauspieler – auch Markus Fisher in einer großen Mehrfachrolle als Lenz / Woyzeck / Büchner – allzu früh in einer Tonlage ein, die sie dann auch nicht mehr verlassen. Was noch irgendwie erträglich ist, solange es „Büchner-Texte“ sind, die vorgetragen werden, doch ins schwer Erträgliche absinkt, sobald es ans biographisch-dokumentarische Material geht.
So bleiben die spannenderen, ja, vielleicht auch authentischeren Momente des Abends jene, in denen Leif Elggren aus dem Off mit den Büchnertexten hantiert, in denen sich das Künstlerduo Furudate / van der Heide von der großen expressiven Geste löst und sie ins abstrakt-minimalistische Höllenreich ihrer Kunst überführt. Auf diesem Pfade hätte das „Experiment“ am Ende tatsächlich zu einem neuen musiktheatralischen Ansatz führen können. Doch so blieb der Anspruch wie die Absätze eines High-Heels zwischen den Gitterrosten des Zuschauerraums stecken.
Übrigens: Während der Einführung war zu hören, dass das Theater sich gern für das Büchner-Projekt entschieden habe, da Büchner auch Thema im Zentralabitur sei. Nur so viel noch zur Kunst des Exposé-Schreibens für musiktheatralische Experimentalprojekte. Die letzte Einsendefrist für 2012 endete am 4. April.
Musikjournalist, Dramaturg
Sehr geehrte/r phahn,
ich bin ein bißchen verwirrt.
Anfangs schreiben Sie, dass Sie eine unzumutbare Performance anschauen mussten, und machen alles lächerlich. Aber im weiteren Verlauf Ihrer Rezension können Sie nicht verbergen, dass Sie doch sehr beeindruckt waren. Anders kann ich mir Ihre Wortwahl nicht erklären.
Was denn nun?
Mit freundlichen Grüßen
H. Michalek