„Das schrille Schreien von 44 Violinen“
Wenn es irgendein Genre gibt, in dem das Publikum bedingungslos Dissonanzen und fremde Klänge akzeptiert, dann ist es sicherlich der Horrorfilm. Schon mehrmals habe ich hier erwähnt, dass die Soundtracks von Horrorfilmen oft zu den musikalisch interessantesten Hollywoodsoundtracks gehören (siehe zum Beispiel hier), ja dass ganze Generationen von amerikanischen Komponisten ihr Wissen über die zeitgenössische Musik Europas vor allem aus dem Studium der Filmmusik von Filmen wie „Der Exorzist“ bezogen haben.
Dass Neue Musik in Horrorfilmen gerne verwendet wird, hat übrigens meiner Ansicht nach eher weniger damit zu tun, dass es sich für den Normalverbraucher um „dissonant“ und „unheimlich“ klingende Musik handelt. Rein historisch fällt der Beginn des Horrorfilms als eigenständiges und kommerziell erfolgreiches Genre zusammen mit einer der schlimmsten Kulturvertreibungen und rassistischen Verfolgungen in der Geschichte der Menschheit. Viele „entartete“, experimentierfreudige und natürlich auch jüdische Komponisten flohen nach Amerika, wo sie auf ein eher kulturell schwieriges Umfeld stießen, das ihnen ein Überleben als Komponist reiner Konzertmusik schwer machte. Daher landeten viele von ihnen als Lohnschreiber in Hollywood, wo sie mit ihrer oft von der zweiten Wiener Schule geprägten Ästhetik entscheidend zur musikalischen Stilistik von Horror- und auch Science-Fiction-Filmen beitrugen, dazu gehörte auch die Verwendung von experimentellen Instrumenten wie dem Theremin Vox oder dem Trautonium. Einflußreiche Lehrer wie Schönberg taten ein übriges um ganze Scharen von späteren Filmkomponisten entscheidend mit dem „Geist“ der Neuen Musik zu infizieren.
Natürlich ist die zweite Wiener Schule ästhetisch auch nicht ganz unschuldig an der Assoziation Horror/Dissonanz, waren doch gerade die erfolgreichsten ihrer Werke (man nehme nur Stücke wie Schönbergs „Erwartung“ oder „Lulu“ und „Wozzeck“ von Berg) immer nahe am grand guignol und dem Schauerlichen. Wie auch immer – gäbe es diese Verbindung nicht, stünde es um die kommerzielle Verwertbarkeit von zeitgenössischer Musik noch viel schlimmer als es ohnehin schon steht.
Das hat sich auch die Marketingabteilung der Universal Edition gedacht, die gerade eben eine Werbe-CD mit dem Titel „shocking sounds“ unter die Leute bringt, die sich vor allem an angehende Schocker-Regisseure wendet.
„Die Synapsen schnattern, die Nackenhaare sträuben sich, da Herz pocht im Hals und das Blut friert im Bruchteil einer Sekunde…wir alle fürchten es – und lieben es: das Grauen. Sei es das quälend langsame Unaufhaltsame, das kommen muß, aber nicht soll, sei es der Schock, der alle Hoffnung mit einem Schlag zunichte macht.“
So beginnt der unglaublich reißerische Text, der das bei weitem schockierendste an dieser CD darstellt. Was wird da beschrieben? Die Reaktion eines Komponisten auf die Absage der Bundeskulturstiftung für ein eingereichtes Projekt? Schauen wir mal, was wir als Erstes auf der CD finden: Friedrich Cerhas „Konzert für Schlagzeug und Orchester“ (!!!), ein ganz und gar freundliches und „normales“ (Cerha möge mir diese Formulierung verzeihen) zeitgenössisches Stück. Wer da „Synapsen schnattern“ hört (wie geht das überhaupt?), bei dem schnattert’s ganz sicher selber, aber woanders…
„Thrill, Grusel, suspense dominiert im Film alle anderen Genres. Die Komponisten der „Neuen Musik“ haben dazu ein riesiges Repertoire des Schreckens entworfen: Von Der Exorzist über Shining bis zu Natural Born Killers reicht die Riege der Filme, die uns mal für mal in neue Dimensionen des Entsetzens warfen, uns jedoch nie von unserem schaurig-schönen Laster befreien konnten.“
Hähhh?????? Warum ist hier „Neue Musik“ in Anführungszeichen? Das hat fast etwas Anrüchiges und Beleidigendes, so wie die „DDR“ in der Bild-Zeitung, vor allem wenn sich auf der CD Stücke wie Stockhausens „Carré Nr. 10“ befinden. Ist das „Neue Musik“ oder Neue Musik? Mal abgesehen davon, dass es sich bei Oliver Stones „Natural Born Killers“ nicht im geringsten um einen Horrorfilm sondern um eine Mediensatire handelt, fühle ich mich von Wolfgang Rihms „IN-SCHRIFT“ (ein weiteres Stück auf der CD) jetzt auch nicht gerade in „neue Dimensionen des Entsetzens“ geworfen, geschweige denn von irgendeinem „schaurig-schönen Laster“ befreit (was auch immer der Texter hierbei meint???). Wird hier auf Rihms Zigarrenkonsum angespielt?
„….die genannten Beispiele (sind) allesamt Filme, in denen Musik der Universal Edition den schönen Schrecken in das schier Unerträgliche trieben“.
Was natürlich bedeutet: „Wir haben schon einmal haufenweise Tantiemen kassiert, und würden es gerne wieder tun“. Ok, das ist nur verständlich. Aber taugen Anton Weberns „6 Orchesterstücke“ (auch auf der CD) wirklich dazu, „schönen Schrecken ins schier Unerträgliche“ zu treiben? Das mag doch bezweifelt werden….
„Die Schöpfer dieser „Neuen Musik“ bedienen sich dabei eines Instrumentariums, dem die elektronisch, digital erzeugten Klänge nicht einmal ansatzweise die nasskalte Hand reichen können.“
Schon wieder diese schrecklichen Anführungszeichen. Klar, der Verfasser denkt natürlich, dass nur Lady Gaga, Lady Pipi und Lady Popo Neue Musik ohne Anführungszeichen machen, wogegen natürlich Pierre Boulez (mit „pli selont pli“ auf der CD vertreten!!!) der die „elektronisch, digital erzeugten Klänge“ des letzten Jahrhunderts nur mal eben selber miterfunden hat durch die Gründung des IRCAMs, nur „Neue Musik“ in Anführungszeichen machen darf. Natürlich wäre das Reichen einer „nasskalten“ Hand in einem elektrifizierten Studio jetzt auch nicht so unbedingt empfehlenswert.
„“Analoge“ Instrumente scheinen physisch mit jeder Faser der menschlichen Organismus vernetzt zu sein, sie sind der Generalschlüssel zum Zentralnervensystem. Die Schwingungen, die den Hohlkörpern aus Holz und Blech oder der Kehle entströmen lösen Wellen der Erschütterung aus, die sich bis in Mark und Bein fortsetzen: der Hauch einer Querflöte, das apokalyptisch dumpfe Wummern eines Beckens, der dürre einsame Klang einer Gebetsglocke oder das schrille Schreien von 44 Violinen.“
Ok, jetzt geht’s mit dem Texter durch. Der Text wirkt eher, als sei er den Schwingungen eines ganz anderen Hohlkörpers entsprungen… Ob Cristobal Halffter mit seinem „Requiem“ (auch auf der CD) wirklich den Generalschlüssel zu meinem Zentralnervensystem besitzt, wage ich zu bezweifeln, auch verwendet weder er noch irgendein anderer Komponist des 20. und 21. Jahrhunderts „44 Violinen“, denn das überschritte selbst die größten Orchesterbesetzungen unserer Zeit. Das „apokalyptisch wummernde“ Becken müsste man auch noch erfinden, normalerweise scheppert’s da eher…
„Unsere aktuelle Auswahl verspricht dem geneigten Hörer die längsten, aber auch schönsten Schrecksekunden. Für Herzrasen, Schweißausbrüche und schmerzende Kaumuskulatur übernehmen wir keine Haftung, jedoch die Garantie“
Ja, meine „Kaumuskulatur“ schmerzt auch immer beim Anschauen von Horrorfilmen. Und beim Lesen solcher Texte natürlich auch. Aber leider stellen sich beim Hören von Johanns Maria Stauds „Polygon“ (Stück 12 auf der CD) leider keinerlei Herzrasen und Schweißausbrüche ein, dagegen aber ganz sicher beim Anhören des „Grand Prix der Volksmusik“ oder irgendeiner beliebigen anderen Dumpfbackensendung, die uns die Fernsehprogramme so täglich bieten. Dagegen ist kein Staud gewachsen!
Liebe UE, ich finde euch ganz toll, aber diese Werbebroschüre finde ich genauso unerträglich wie die immer wieder neuen Versuche, Mozart Violinkonzerte als „Klassik zum Schmusen“ oder Ravels Bolero als „Klassik zum Poppen“ zu verkaufen. Das wirkt einfach wie Ausverkauf von liegengebliener Ware. Bitte habt ein wenig Respekt vor den lebenden Toten der Neuen Musik – bisher „riechen wir nur ein bisschen komisch“ (Zappa), sind aber ansonsten noch recht rege!
Euer
Moritz Eggert
Guttenbergnote: Alle Zitate sind unverändert aus der Druckversion der Broschüre „filmmusik newsletter 4’10: shocking sounds“, herausgegeben von UE und erhältlich hier
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