In der Fremde (1): Stefan Pohlit

Ich möchte mich in den folgenden Artikeln einem Thema widmen, das mich schon seit langem interessiert: Warum kocht die deutsche Musikszene so beharrlich in ihrem eigenen Saft? Warum ist es relativ selten, dass deutsche Komponisten ins Ausland gehen oder dort wirken?
Klar, die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: tatsächlich ist ja die hiesige Kulturlandschaft obwohl auch zunehmend vom Kahlschlag bedroht immer noch immens reichhaltig, wenn es um die Möglichkeiten für Komponisten geht. Warum also gehen? Als italienischer Komponist z.B. ist man dagegen gezwungen, das eigene Land zu verlassen, um überhaupt irgend etwas machen zu können. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, dass die ganze Welt zu uns kommt, aber gehen wir auch in die Welt hinaus? Zieht es uns in die Fremde auch außerhalb der sicherlich wichtigen aber auch abgesicherten Pfade unserer Goethe-Institute?
Hierzu will ich in den kommenden Wochen ein paar Komponisten befragen – alles Künstler, die mich auch musikalisch interessieren. Entstehen sollen kleine Porträts der Menschen, aber auch Anregungen für eine Diskussion, was eine Kulturlandschaft eigentlich ausmacht.

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Stefan Pohlit

Stefan Pohlit

Ich beginne mit dem Komponisten Stefan Pohlit. Stefan stellt sich auf seiner Homepage in einer „30-Sekunden-Vorstellung“ selber so vor:

stefan pohlit erforscht musikalische intervalle als eine sprache subtiler emotionaler beschaffenheiten. auf der einfachen basis arithmetischer beziehungen entfaltet er den dynamischen kontrapunkt eines logischen formalen dramas, das sich in höchste mikrotonale komplexität ausdehnt.

aus seiner interkulturellen perspektive, geschult durch langjährigen aufenthalt im nahen osten, enthüllt der komponist und theoretiker die diskreten verbindungen zwischen musikalischer substanz und den bestimmenden geistigen und sozialen knotenpunkten einer neuen globalen erkenntnis.

Und hier die biografischen Daten: geboren in Heidelberg, Studium bei Komponisten wie Wittinger, Brandmüller, Müller-Siemens und Rihm, frühe Lehrtätigkeit als Dozent, vor allem in Karlsruhe. Seit 2008 lehrt er am Konservatorium in Ankara, Türkei, einem Land, zu dem er sich schon früh und während seines Studiums hingezogen fühlte. Aber darüber wird er gleich mehr erzählen…
Bleibt noch hinzuzufügen, dass Stefan gerade ein großes und gewichtiges Ochesterstück fpr das eclat-Festival in Stuttgart fertiggestellt hat („taroq“, UA 2012) und seine Musik sich sich höchst differenziert dem Mittel der Mikrotonalität bedient, auf eine Weise, die vielleicht den von Rihm immer wieder eingeforderten „Skulpturen aus Klang“ sehr nahe kommt.

Und hier das Interview, das durch die ausführlichen Antworten von Stefan sehr lang geworden ist. Und versprochen, Arno, Fazil Say kommt darin nicht vor…

1) Was hat Dich damals bewogen, in die Türkei zu gehen? Waren es musikalische oder private Gründe, oder einfach nur Neugier auf eine andere Kultur?

Das hatte eine lange Vorgeschichte, und ich würde diesen Weg eher als Etappe einer fortlaufenden Expansion beschreiben. Heute sehe ich Istanbul eher als das Zentrum der letzten elf Jahre, in dem Sinne, wie wir eigentlich immer an dem Ort landen, an den wir auf Grund von den in uns aktiven Persönlichkeits- oder Gedanken-Strukturen am besten hingehören. Von 1993 bis 1999 war die zentrale Stadt in meinem Leben Paris. Nicht, dass ich dort jemals fest wohnte, aber es war die Stadt, die mich kulturell, als Komponist und auch privat am meisten prägte und wohin ich immer wieder gelangte. Bis 1999 wollte ich auch zeitgleich noch Malerei studieren, aber danach haben sich meine Interessen irgendwie verlagert. Ich war auf der Suche nach einer eigenen kulturellen Identität in einem neuen Kontext. Nicht, dass ich das Deutsche an mir verwerfen wollte, ich war einfach innerlich „weiter“ geworden. In Karlsruhe wollte ich mich mit den dortigen Türken verbrüdern. Ich sah es nicht ein, dass ich nur einem Teil unserer Gesellschaft angehören sollte. Im selben Sinne sehe ich mich auch heute eher als „Mensch“ im generellen Sinne als in ethnischen Begrenzungen.
Seit 2000 führten dann meine Aktivitäten immer wieder nach Istanbul. Ich bin eigentlich immer viel unterwegs gewesen, auch in der arabischen Welt, und kam 1999 als Backpacker, auf der Durchreise nach Jordanien, zum ersten Mal nach Istanbul. Es war der Islam, vor allem der Sufismus, der mich besonders faszinierte, und ich lernte ab 2000 mit, für einen Amateur, relativ gutem Erfolg Arabisch. Dazu kamen dann ein paar Tendenzen, die bei meinen Kollegen oft für Kopfschütteln sorgten. Zum Beispiel setzte ich aus Spaß mal einen Muezzin-Ruf auf meinen Anrufbeantworter. Und dann rief Wolfgang Rihm an, um Bescheid zu geben, dass er beim Donnerstags-Seminar in der Hochschule Karlsruhe nicht kommen könnte, und er fügte der Nachricht hinzu: „Sei so gut und verkünde es den anderen – von Deinem Minarett herab“. Die Beschäftigung mit nahöstlicher Musik erwuchs erst aus dieser kulturellen Expansion. Und in Sandeep Bhagwati fand ich damals auch den idealen Lehrer, um diesem Interesse auf den Weg zu helfen. So erhielt ich für 2003 ein Stipendium der Landesstiftung Baden-Württemberg für einen weiteren Auslandsaufenthalt, den ich eigentlich in Jerusalem verbringen wollte. Auf Grund der verstärkten Unruhen in Israel zu dieser Zeit entschied ich mich aber dafür, mit Hilfe bereits bestehender Kontakte diesen Aufenthalt in die Türkei zu verlagern. Dort war ich dann „offiziell“ Student von Nevit Kodalli (1924-2009) in Mersin, verbrachte aber die meiste Zeit entweder mit Reisen nach Ostanatolien oder in Istanbul. Mit wurde von meinen türkischen Freunden ausgiebig geholfen, ich wohnte die meiste Zeit bei dem Dirigenten Murat Kodalli. Durch dessen Kontakte zum Kulturministerium durfte ich sogar das Folklore-Archiv von Ankara besuchen. In Istanbul erhielt ich Einweisung in osmanische Musik durch Cihat Askin und Sehvar Besiroglu, die auch heute, zusammen mit Ruhi Ayangil, meine Dissertation betreuen. Ich wurde dann seit 2003 meistens mit einem Türkischbuch in der Hand gesichtet und arbeitete ernsthafter an einer Spezialisierung in türkischer Musik.
2006 suchte ich nach einem geeigneten Ort für ein Dissertations-Studium, weil es einfach immer evidenter wurde, dass ich für eine dauerhafte Anstellung an einer Universität promovieren müsste. Anstatt meine Besuche in London (wie z. Bsp. bei Musikethnologen wie Owen Wright oder John Baily) weiterzuführen, führte mich dieser Weg wieder in die Türkei. Hierbei waren verschiedene Helfer wieder sehr ausschlaggebend, vor allem der Musikwissenschaftler und Komponist Yigit Aydin, der damals gerade in Marburg promovierte. Als das Staatskonservatorium in Ankara mir dann die sehr selten vergebene Stelle eines „ausländischen Experten“ in Komposition anbot, nahm ich das als Zeichen und bewarb mich für das PhD-Studium am MIAM (Musikforschungs-Zentrum der Technischen Universität Istanbul). Ich bin in den letzten Jahren viel umgezogen, und aus den wenigen Haben, die ich 2007 dabei hatte, ist ein kompletter Haushalt geworden. Seit der Rückkehr von Ankara, 2009, wohne ich auf Büyükada, einer der Prinzeninseln im Marmara-Meer vor Istanbul. Landschaftlich ist das sicherlich der schönste Ort, an dem ich bisher dauerhaft Zeit verbracht habe.

2) Was würdest Du als die gravierendsten Unterschiede zwischen der Deutschen und Türkischen zeitgenössischen Musik(szene) beschreiben? Welche Probleme gibt es/ was ist besser (in der Türkei)?

Also dieses „Besser“ und „Schlechter“ hat mich lange in einem Polaritätsdenken festgehalten, das sich als kaum hilfreich erwies. Ich betrachte Kultur heute mehr als Ganzes, als Auswuchs einer regional oder ethnisch gewachsenen Epistemologie, die derzeit überall immer mehr aufweicht. Die westlich-zeitgenössische Musikszene der Türkei ist zu allererst kleiner als die europäische. Schon deswegen, weil sie auf einer importierten Fremdkultur beruht. Diejenigen, die meine Essays kennen, wissen von meiner langjährigen Kritik an dem Konzept der Verwestlichung, das ich als ein gefährliches Missverständnis betrachte. Als Dozent in Ankara (in der Stelle, die sich auf Grund meines Studentenstatus am Ende nicht recht manifestieren konnte) war es mein Ziel, neue Konzepte zur ästhetischen Transformation zu motivieren, die nicht mehr nach dem Westen schauten, sondern das echte lokal-kulturelle Selbstverständnis kreativ entwickelten. Dagegen wurde ich aber erst einmal darum gebeten, die veralteten Unterrichtsprogramme um die gesamte zeitgenössische Tradition nach 1945 zu komplettieren. Ich denke, die Türken machen am Ende doch genau das, was sie am ehesten für richtig halten. Wenn es aber ein Problem gibt, das ich benennen sollte, so sind es veraltete politische Motivationen, die die Gesellschaft in einen polaren Dialog mit dem Westen stellen: „modern“/“cagdas“ gegen „traditionell“/“geleneksel“ – eine Aufspaltung kultureller Prozesse, die die Neue Musik hier dauerhaft in einer Randposition halten. Hierbei wird auch des Öfteren von westlichen Musiker(inne)n der Islam dämonisiert. Im MIAM gab es lange einen ausländischen Dozenten, der zum Islam konvertiert war, dies aber geheim hielt, um keine ungewollten „Missverständisse“ hervorzurufen. Als Europäer war mir diese Polarisierung fremd. Ich suchte ja gerade das Eigenständige in dieser Kultur und bewege mich heute auch in „traditionellen“ Zirkeln freier als viele meiner komponierenden Kollegen vor Ort.
Die „moderne“ türkische Musikszene ist auch stärker an Amerika orientiert als an Deutschland – was sich nur langsam zu ändern scheint. Ästhetisch steht da Vieles der Jazz- und Techno-Szene nahe, die ja durch die alternativen Clubs in Beyoglu relativ bekannt ist; außerdem Minimal-Music im Americana-Stil. Einige der einflussreichsten Kompositionslehrer, Kamran Ince oder Hasan Ucarsu, haben in den USA studiert, und türkische Student(inn)en folgen meist den Orientierungen ihrer Lehrer(innen). Immerhin war Özkan Manav (wie Hasan Professor am Mimar-Sinan-Konservatorium) in Deutschland. Der amerikanische Komponist Pieter Snapper hat im MIAM ein beeindruckendes Studio für Elektronische Musik aufgebaut, daneben das seit Kurzem eröffnete „State of the Art“-Tonstudio „Babajim“ in Beyoglu.
Meine türkischen Kolleg(inn)en im Ausland aus meiner Generation, Füsun Köksal, Zeynep Gedizlioglu oder Mahir Cetiz, leben im Westen und unterhalten kaum Beziehungen in die Türkei. Istanbul ist somit wohl ein relativ abgeschiedenes Biotop, ein Außenposten der IGNM. Ich denke, man wird mit der Zeit in diesem Außenposten zwangsläufig noch rigider und neugieriger ganz eigene Strömungen entwickeln, die vielleicht dann den Westen wiederum noch neugieriger machen werden. Tendenzen dazu zeichnen sich schon ab in den Bemühungen um intensivere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Bildungseinrichtungen, die früher auch isolierter voneinander agierten. So findet im MIAM alljährlich ein Festival für junge Komponierende statt, an dem alle größeren Konservatorien, bis hin zur Bilkent-Universität Ankara, teilnehmen. Neben Istanbul und Ankara gesellt sich als „Zentrum“ noch die Anatolische Universität in der aufstrebenden Stadt Eskisehir in Westanatolien, die noch nicht über einen eigenen Kompositionszweig verfügt. Dort unterrichtet auch der bekannte Pianist Toros Can.
Es besteht auch eine Reihe von recht guten Ensembles, die jedoch meist an eine relativ isolierte Institution gebunden sind, mit eigenen Zirkeln und eigenen Vorlieben. Seit 2009 gibt es das „Hezarfen“-Ensemble, eine Kammer-Formation, die sich vor allem der Entdeckung junger türkischer Talente widmet. „Hezarfen“ wurde von meinen Freunden, dem Bratscher Ulrich Mertin und dem Komponisten Michael Ellison gegründet.

3) Lässt Du Dich selber von musikalischen Erfahrungen in der Türkei (oder auch anderen Ländern) beeinflussen, oder gibt es einen Teil von Dir, der vollkommen unabhängig agiert (Anmerkung: Wir hatten ja die kritische Diskussion, ob z.B. die vom Siemens Arts Program ins Ausland geschickten Komponisten wirklich anders als zuhause komponieren, wenn sie in einem 5-Sterne-Hotel in Dubai sitzen)

Gute Frage! Also was sich mit mir hier in den letzten vier Jahren ereignet hat, ist so weit und ausgreifend, dass ich heute kaum mehr an diese „Art Programs“ glauben kann. Ich kann sie aber nicht ganz als subventionierten Tourismus abtun, weil ich die Erfahrungen von Márton, Samir und Jörg Widmann usw. zu wenig kenne. Mich hat nur die Art, wie das Konzert des Ensemble Modern im April 2010 in Aya Ärini präsentiert wurde, eher schockiert – trotz der guten Musik. Das klang so nach: „Tadaaa, wir sind die Besten, und wir zeigen Euch jetzt mal, wie’s geht“ – und das vor einem vollkommen unvorbereiteten Publikum. Es ist immer toll, wenn Künstler(innen) mit anderen Kulturen konfrontiert werden. Und wenn das Geld eh da ist… es sind ja tolle Stücke dabei herausgekommen. Es geht weniger darum, dasselbe Geld anders einzusetzen, denn Geld findet sich immer für Projekte. Ich glaube aber eher an die Förderung dauerhafter Strukturen, an Zentren, an „Empowerment“ von Kulturen, ihre eigene Stimme klarer zu formulieren, ein Publikum zu schaffen, einen Nährboden, auf dem alle avancierten ästhetischen Kommentare überhaupt verstanden werden können. Diese Zentralisierung von Kultur aus Europa hat für mich etwas wie eine Suchtkrankheit, es ist ein ewiges Pendel. Dahinter versteckt sich auch das Missverständnis, dass Kulturen statische Gebilde und nicht permanent in Bewegung seien. Ich betrachte Kultur als Prozess, daher bin ich auch kein „Pendler“ zwischen Europa und dem scheinbar ethnisch-„eren“ Osten.
Aber meine Erfahrungen unterscheiden sich davon in einem anderen Punkt: Ich glaube nicht an einen von außen subventionierten Kulturaustausch. Wer sich darauf wirklich einlassen will, braucht keine lukrativen Aufträge und Vergütigungen dafür. Ich fände es produktiver, wenn sich die Aufmerksamkeit mehr auf diejenigen Menschen richtete, die ohnehin – auf Grund eigener Biografie – durch andere Kulturen hindurchgegangen sind – und das oft trotz einer Vielzahl von Schwierigkeiten. Interkulturalität kann man nicht aufpfropfen oder erfinden. Interkulturalität hat auch nicht immer einen braunen Teint oder ein gerolltes „r“. Sie lebt dagegen schon lange in einer Vielzahl von Menschen, die nationale Begrenzungen in ihrer Persönlichkeit aufgehoben haben und auf der Suche nach der „eigenen Kultur“ (im Sinne von Dieter Mack) sind. Viel Inspiration finde ich da bei meinen gleichaltrigen Freund(inn)en mit islamischem Migrationshintergrund. Interkulturalität ist auf privater Ebene bei vielen Menschen schon lange Gewohnheit.
Als ich 2007 hierher aufbrach, hatte ich keine greifbare Aussicht auf Geld, mein DAAD-Stipendium kam erst drei Monate später, und trotz der Risiken spürte ich den Drang, diesen Schritt einfach zu gehen. Und ich habe das Chaos hier nicht nur selbst gewählt, sondern oft in dramatischen Ausformungen durchlitten. Ich hatte keine deutsche Kulturinstitution, die mich vor der eigentlichen Kultur da draußen abschirmen konnte. Ich habe in der Türkei, vor allem anfangs, oft in prekären Verhältnissen überlebt. In Üsküdar hatte ich ein Ostblock-Badezimmer, in dem das gesamte Bad gleichzeitig auch die „Dusche“ war. Regelmäßig wird nachts der Strom für Minuten abgestellt, bei Unwetter bricht er eventuell ganz zusammen. In Ankara habe in meiner leeren neuen Wohnung drei Monate auf dem Boden geschlafen, und als sich mein Leben dort zu materialisieren schien, wurde aus der Stelle nichts mehr. Ich lebe seit zwei Jahren hier ohne festen Job, habe es aber geschafft, hier ohne Sorgen kontinuierlich weiterzuleben und sogar meine Arbeit extrem produktiv weiterzuführen. Ich habe dadurch auch einen Eindruck davon erhalten, wie viel härter noch sich das Leben für einen Großteil der Bevölkerung vollzieht, die ebenso wie ich von einem Tag auf den nächsten zu leben scheinen, jedoch ohne die langfristigen Perspektiven, die ich genieße. Da sind die Kutscher aus Van, die Frisöre aus Gaziantep, die kurdischen Ober in den Cafés auf Büyükada, die quasi rund um die Uhr arbeiten und kaum Perspektiven haben; die Handwerker, die beim „Reparieren“ gleich noch aus Versehen was Anderes zerschlagen; die Wasserhändler, die mich als „Irfan Bey“ kennen. Aber auch die Mitglieder der örtlichen CHP-Partei, die mich jedes Wochenende in Affan Beys bekanntem Schreibwarenhandel mit ihren wahnwitzigen Plänen überraschen und beeindrucken. Ich habe letzten September Joachim Sartorius’ kleinen Schmöker über die Prinzeninseln gelesen. Aber das kommt, abgesehen von der amüsanten Erzählweise, auch kaum über das Niveau des üblichen „fayton gezisi“-Wochenend-Ausflugs hinaus. Ich kenne auf der Insel dagegen jeden Fleck, jeden verlorenen Waldweg, weil ich diesen Ort einfach sehr schätze, und habe außerdem nicht an Sprachbarrieren Halt zu machen. Diesen Winter über habe ich fast durchweg mit Holz geheizt und fast jeden Tag im Wald Holz gesammelt. Dieser bodenständige Aspekt ist mir nicht fremd, im Grunde habe ich darin auch Kindheitserfahrungen vom Dorf in der Pfalz neu aufarbeiten können. Das alles trägt zu einem fortlaufenden inneren Prozess bei, Anziehung und Abstoßung, aus dem heraus, als Spiegel (oder sozusagen „Echo“) sich meine Musik formt. Was mich für viele Jahr zu einem Teilhaber hier machte, hatte daneben sicher mit tiefenpsychologischen Strukturen zu tun, derer ich mir stärker bewusst wurde, die sich auch wieder aufgelöst und in neue innere Expansionen erweitert haben. Es ist ja bekannt, dass ich mich sehr viel mit Spiritualität beschäftige, und diese Themen sind auch gegenwärtig präsenter in meiner Arbeit als noch die Türkei selbst. Zudem natürlich meine mikrotonal-harmonische Arbeit, die mich eigentlich immer mehr als das Interkulturelle beschäftigt haben.

4) Wie hat sich Dein Blick auf die musikalisch/ästhetische Diskussion in Deiner Heimat (D) durch Deine Zeit im Ausland verändert?

Diese von mir so betonte Polaritäts-Struktur sehe ich auch in den Grundfesten der Neuen Musik, und exakt diesen Punkt an ihr habe ich nie unterstützen wollen. Also, in gewisser Weise, hat die Türkei die mir unliebsamen Aspekte an meiner eigenen Musikkultur noch akzentuiert. Das auszuführen, würde wohl einen eigenen Artikel bedingen. Es sind ebendiese scheinbaren Gegensätze zwischen „Tradition“ oder „kollektivem Bewusstsein“ und den Forderungen einer Avantgarde, die diese durchbrechen will. Ich ergreife für keine der unterschiedlichen Pole in solchen Strukturen Partei, weder für die Postmodernen noch für eine Anti-Ästhetik. Ich glaube, dass Alles, dem ich mit einer „Anti“-Haltung zu widerstehen versuche, durch meinen Widerstand umso stärker auf mich zurück schlägt. So ist es mit den Säkularisten und dem dadurch überhaupt erst entstandenen Islamismus in der Türkei. So gehören „Pop“ und „E-Musik“ (vor allem in Form der Avantgarde) in ein universaleres System akzentuierter Gegensätze. Ich glaube nicht, dass sich solche Strukturen halten werden, denn sie tendieren dazu, sich entweder langsam aufzulösen, oder durch Radikalisierung das System zum Kollaps zu führen. Ich glaube, dass in der Kultur eher ein „kollektiv Unbewusstes“ am Werk ist, das sich chronologisch mit der Ausbildung unserer Wahrnehmungs-Organe entwickelt. Die wissenschaftlichen Werkzeuge und die konkreten Beispiele dafür habe ich während meines (stark musikethnologisch geprägten) Doktorandenstudiums in der Türkei erhalten.
Ich habe auch den Fortlauf bzw. die Konsequenzen langwieriger kultureller Prozesse besser verstehen gelernt und ihre Manifestation in der Musik aufgespürt. Zum Beispiel habe ich oft betont, dass sich die islamische Welt momentan nicht in einer Rückkehr zur Vergangenheit bewegt, sondern so etwas durchläuft wie das Abendland in der Gotik. Wenn die Menschen nicht mehr von sich aus – aus ihrem eigenen intuitiven „Leitsystem“ heraus – wissen, wie sie sich kleiden oder verhalten sollen, dann befindet sich ihr kultureller Zustand gewissermaßen auf einer Eisbahn, in einem fortlaufenden Glissando, in einem Übergang. Und ich bin davon überzeugt, dass dieser Übergang in eine neue, harmonische Standortbestimmung einmünden wird. Man muss ihm nur Gelegenheit zur Entfaltung lassen. Ich glaube, ein sehr optimistisches Beispiel bietet sich uns gerade in der arabischen Welt. Und all diese Stellungnahmen treffen auch auf die Neue Musik zu, in ihren eigenen Grenzen.

5) Würdest Du Deine Zeit im Ausland als „karriereförderlich“ bezeichnen? Oder eher als persönlichkeitsbildend (was für Musik natürlich wichtiger sein kann)?

Ich glaube nicht, dass es förderlich war, wenn man den üblichen Karriereweg von Komponierenden in Deutschland als Vorbild nimmt. Dort geht es oft darum, dabei zu sein, Kurator(inn)en zu treffen, obschon diese Hürde durch das Internet etwas gemildert wurde. Mein Interesse, in der Türkei als Komponist hervorzutreten, war auch nie seriös vorhanden. Ich habe das hier immer als Ort meiner Forschung gesehen, so als eine Mischung von Parsifal und Indiana Jones. Ich muss zugeben, dass ich damals in Deutschland immer versucht habe, zu kaschieren, wie anders ich eigentlich war, sowohl in meinen Überzeugungen als Komponist, als auch in meinem Lebensweg. Ich war daher oft zu pessimistisch. Langfristig habe ich durch die Zeit hier unheimlich Kraft gesammelt und bin mir über die verschiedensten Aspekte meiner selbst mehr bewusst geworden. Das sind ja oft mentale Prozesse, das mit dem Selbstbewusstsein. Das wird sich über kurz oder lang sicher „karriereförderlich“ auswirken oder zumindest Aufmerksamkeit anziehen.

6) Wo möchtest Du selber am liebsten dauerhaft leben?

Das ist momentan ganz offen. Ich habe mich innerlich in den letzten Jahren eher nach Indien bewegt, aber ich werde wohl wieder in den Westen zurückkehren. Sicher nicht hier, aber vielleicht später wieder auf so einer idyllischen Insel im Süden mit Holzbauten aus dem 19. Jahrhundert, Pferdekutschen, Pinienwäldern und soviel diverser Kultur. Ich strebe momentan eher eine gute akademische Stelle an…

(Interview geführt von Moritz Eggert)

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