(Kultur)politischer Leitartikel

…oder was man so schreibt, wenn man im Radialsystem Berlin sitzt und zuviel Zeit hat.

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Zuallererst noch einmal Thema Holland, Muziekcentrum van de Omroep (ihr erinnert euch). Inzwischen gibt es mal wieder eine Online-Petition, in die man sich bis zum Dienstag eintragen kann. Keine Angst, man wird kein Mitglied irgendeiner Geheimorganisation und muss auch nichts spenden, unter den Unterzeichnern der Petition sind Leute wie Simon Rattle, also bitte auch unterzeichnen.

Kleine Anleitung: erst Name, dann darunter Email angeben, in „Bericht“ kann man einen kleinen Text eintragen, die Zahl die darunter abgebildet ist, muss man in dem Feld darunter wiederholen um automatisierte Eintragungen zu verhindern.

Zu Recht weisen inzwischen einige deutsche Kollegen darauf hin, dass die Durchsetzung eines solchen radikalen Kulturkahlschlags (falls also nicht genügend Empörung und Gegenwehr entsteht) durchaus Vorbildcharakter für deutsche Politiker haben könnte. Im Moment hat man den Eindruck, dass bei dem momentan allgemein zelebrierten Abschied vom Multi-Kulti das Kulti gleich mit dem Multi in die Tonne geworfen wird, nach dem Motto: Die Vielfalt hat nicht geklappt, dann brauchen wir auch keine Kultur mehr. Man sollte also diese Entwicklungen in Holland nicht mit dem Gefühl „Sowas passiert bei uns nicht“ überlesen. Es kann sehr wohl bei uns passieren.

Wenn man die Artikel über die Neue-Musik-Veranstaltung Donaueschingen so liest (Danke an Patrick übrigens für seine ausführlichen und gottseidank etwas individuelleren Berichte), und diese mit der kritischen Berichterstattung über betont „multikulturelle“ Festivals wie zum Beispiel das diesjährige Hellerau Tonlagen-Festival vergleicht (dort wurden Folklore, Popmusik und Neue Musik bunt gemischt), gewinnt man den Eindruck, dass auch bei uns ein Zurück zur Tradition langsam Einzug hält. Quasi Altbewährtes gegen Suche und Experiment, „Reinrassiges“ gegen „Vermischtes“.
Streichquartette soll man wieder schreiben, und zwar am besten möglichst ohne Firlefanz wie szenische Einlagen oder Tischeklopfen (das kam bei der Kritik nicht gut an). Und natürlich spielen diese die Ardittis am besten, und sie werden es auch noch in hundert Jahren tun, als Neue-Musik-Cyborgs mit eingebauter Vom-Blatt-Spiel-Garantie. Und auch die gute alte Mikrotonalität, die als Selbstzweck ja fast schon ein bißchen Staub angesetzt hat, soll wieder Modell für die Jungen sein, wie der große Erfolg von Haas‘ Stück erweist.

Ich will mich darüber nicht lustig machen – es hört sich schon so an, als sei das diesjährige Donaueschingen eines der interessanteren Festivals gewesen und sicherlich waren alle Stücke hochspannend und werden noch in Generationen Musikwissenschaftler beschäftigen. Aber es fällt auf, dass zum Beispiel auch die Salzburger Biennale eher auf die etablierten Namen setzt. Ist also das Heil in der Tradition zu suchen? Sicherlich nicht nur das Übel – ich glaube auch, dass man sich die Tradition immer wieder produktiv vergegenwärtigen muss, aber momentan ist schon eine gewisse Ratlosigkeit und erhöhte Kritikbereitschaft gegenüber neuen Konzepten und Versuchen zu spüren.

Junger Komponist möchte man im Moment eigentlich nicht sein – vor einem befindet sich eine hohe Mauer aus ewig jungen Szenehengsten mittleren Alters, die schon alle Plätze besetzt halten (oder noch darum ringen, welche zu erlangen), und dahinter oder vielmehr darüber thronen die ewig jungen Altstars der Szene, meistens so um die 80 (auch wenn der Respekt spürbar abnimmt, siehe meine Beobachtungen zu Henzes letzter UA). Und drum herum ganz viele Leute, die ganz genau wissen, wie man zu komponieren hat, um Erfolg zu haben, und genau dies auch befördern (und das andere nicht).

Von außen steigt spürbar der Beweisdruck, und das fördert die Vorsicht der Neuen Musik im Moment. Zunehmend lesen wir diffamierende Kommentare über Neue Musik (oft en passant in irgendwelchen Interviews hingeworfen) oder sehen hämische Fernsehbeiträge öffentlich-rechtlicher Sender. Dies wiederum scheint bei unseren Machern die Wirkung zu haben, eher die „sichere“ Schiene zu fahren. Faszinierende (oder – nach den Unkenrufern – auch sinnlose) Strohfeuer wie Sounding D sind (leider) schnell abgebrannt und harren vergeblich einer Fortsetzung, die ja die ganze Sache erst zu einer Sache machen würde. Radiosender und Streichquartette dagegen wird es länger geben. Wirklich? Bei ersterem habe ich so meine Zweifel – schon jetzt spricht man allerorten von dem „Verschwinden der Sender“ in sowohl Fernsehen als auch Radio, und eine Zuwendung zu einem zunehmend individuell zusammengestellten Programm, bei dem man kaum noch wahrnimmt, von welchem Sender das eigentlich kommt).

Nun gut, in diesem Kontext ist es klar, dass ein Wolfgang Rihm – fest und klug in der Tradition verankert – alles richtig macht. Und auch weiter richtig machen wird. Und das gönnen wir ihm von Herzen. Nicht alles muss Experiment und Aufbruch sein, aber dennoch sehnt man sich nach etwas anderen, einer neuen, unverbrauchten Stimme, einem neuen Zugang zu Musik und deren Präsentation. Eigentlich gefällt mir das Hellerau-Programm vom Lesen her (wie es war, wage ich nicht zu beurteilen, da ich nicht dort war), wenigstens weht hier ein Hauch des Unerwartbaren, der letztlich Kunst doch befördert. Und ist Kunst nicht generell auch Zusammentreffen sehr divergenter, vielleicht auch überraschender Elemente?

Der Erfolg gibt aber der neuen Sehnsucht nach Tradition Recht – Stolz wird überall betont, wie voll Donaueschingen diesmal gewesen ist. Ich freue mich darüber, ganz ehrlich!
Vielleicht brauchen wir aber eben auch gar keine jungen Komponisten mehr – lasst uns die Neue Musik einfach in der Zeit einfrieren und wir machen immer so weiter. Neue Musik wird zu so einer Art Jazz – irgendwie auch ein bißchen historisch geworden (nichts gegen guten Jazz übrigens, ich liebe ihn, aber das ist leider das Bild, dass die Till Brönners dieser Welt befördern: der „nette“ Jazz). Auch die Neue Musik kennt diejenigen, die es vor allem schaffen, das Image eines intellektuellen Komponisten zu pflegen, den Status Quo zu bewahren. Vielleicht brauchen wir das in einer unsicher gewordenen Welt (war sie jemals sicher?). Mehr als einen wirklich beunruhigenden und verstörenden jungen Komponisten suchen wir junge Komponisten, die dies möglichst handsam repräsentieren und im Kontext mit der Tradition auch nicht zu viel auffallen.

Vielleicht brauchen wir aber auch etwas ganz anderes. Eine ganz andere Art von Musik. Eine Art Gegenbehauptung zu der Geek-Culture, in die sich unsere Kultur zunehmend verflüchtigt – alles hat seinen eigenen Spezialistenkreis, und auch der Speed Metal-Fan grüßt den Death-Metal-Fan schon nicht mehr. Und der Ferneyhough-Fan nicht mehr den Philip Glass-Fan.

Vielleicht geht das aber schon nicht mehr, und es ist ein komplett irrationaler Wunsch, dass die Musik wieder aus sich selber heraus aufbricht, und nicht, weil es jemand durch eine Versuchsanordnung herstellen möchte…Vielleicht bleibt alles so wie jetzt, für immer, für alle Zeiten. Aber man darf ja träumen, an einem schönen Sommertag in Berlin.
Man darf träumen, dass einem ein frischer Wind ins Gesicht bläst, und dass es dann auch Leute gibt, die dies wahrnehmen.
Weiterhin Suchende sollen wir sein, denn auf absolut nichts ist Verlass.

Moritz Eggert

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3 Antworten

  1. Max Nyffeler sagt:

    Mit vielem in diesem nachdenklichen Text bin ich einverstanden, doch in einem Punkt möchte ich doch einen anderen Gesichtspunkt vertreten: Das läppische Herumgeklappere auf Holzbrettern und das Anzupfen von schlappen Stahldrähten im Stück von Alan Hilario war für mich keineswegs ein mind opener und nicht einmal eine lustige Provokation, sondern bloß ein trauriges Eingeständnis der Unfähigkeit, mit der Gattung Streichquartett – die nun einmal von der Tradition nicht abzulösen ist – etwas Konstruktives anfangen zu können.
    Augen- und ohrenfällig war für mich die Arroganz des Komponisten: Was er praktizierte, war eine demonstrative Geringschätzung der Fähigkeiten des hoch qualifizierten JACK Quartet und nebenbei auch eine Publikumsverarschung. Den Buhs nach zu schließen war ich nicht der Einzige, der so dachte.
    In der bösen Finanzwirtschaft würde so eine kontraproduktive Aktion zu Recht als Kapitalvernichtung gegeißelt. In der guten Neuen Musik wird es aber als positives Beispiel von künstlerischer Fantasie oder sogar von Freiheit hingestellt. Für mich ein Zeichen, wie dumm der Betrieb manchmal sein kann und auf welch haarsträubende Art in den Kreisen der sog. Avantgarde das Wertesystem durcheinander geraten ist. Sinnfreie, aus Langeweile geborene Überbauspinnereien, über die nicht nur ein Karl Marx, auf den man sich in diesen Kreisen ja manchmal noch zu berufen pflegt, laut gelacht hätte.
    Die JACKs taten mir leid, dass sie so einen Schwachsinn vorführen mussten. Auch Ablingers „Experiment“ verriet null Auseinandersetzung mit der Gattung und war nicht viel mehr als ein spontaner Einfall mit einem 50-cm-Radius.
    Die Ardittis als Platzhirsche haben sich aus den aufzuführenden Stücken die Rosinen herausgepickt: Ferneyhough, Dillon, Manoury. Die braven „Jungen“ hingegen mussten dann mit dem Schrott vorliebnehmen, der übrig blieb.
    Als Zeuge dieser Aktion konnte man lernen: Die Gleichung „Anders als Normal = Provokation = Gut“ geht eben nicht glatt auf. Um ein bisschen Nachdenken kommt man auch beim Komponieren von Streichquartetten nicht herum (obwohl es ja scheinbar überholt ist). Das ist immerhin eine Erkenntnis, die man nach der dreitägigen Internierung in der avantgardistischen Schwarzwaldklinik nach Hause tragen kann.

  2. Erich Hermann sagt:

    @ Moritz Eggert: Mir aus dem Herzen gesprochen…
    @ Max Nyffeler: Avantgardistisch ist ein allzu großes Wort für diesen Kramladen.

    Mir scheint, das System des Grünen Punkts habe sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund ausgerechnet in der Neuen-Musik-Szene am nachhaltigsten durchgesetzt: Trennung und Wiederverwertung. Wer hat denn Kompositionsaufträge für Donaueschingen bekommen (abgesehen von denen, die ohnehin alle paar Jahre was abbekommen)? Leute, die schon Stücke in … ach, ich habe keine Lust, schon wieder in dieses ewige „der hat aber“ zu verfallen. Ich stelle lediglich fest, daß mich die Mehrzahl der Stücke in Donaueschingen (soweit ich sie aus dem Radio kenne) sowie die Mehrzahl der Stücke in Darmstadt (kenne ich live) schlichtweg nicht interessieren. Hilflos ist das Prädikat, das mir zu den meisten Stücken einfällt. Selbst Bernhard Langs Monadologie IX war eine Enttäuschung für mich (wie auch schon die Monadologie VII in Darmstadt), obwohl ich ästhetisch eine Menge für ihn übrig habe. Mich stört, daß jetzt schon die Komponisten selbst ihr einmal erworbenes „Markenzeichen“ als Verkaufsargument vor sich hertragen: Lang ist der mit den Loops, Rihm ist der Expressiv-Eruptive, Ferneyhough ist der Komplexe, Tsangaris ist der mit dem Musiktheater usw. Klar, als junger Komponist ist man froh, wenn irgendjemand ein Markenzeichen auszumachen meint, das einem dann Aufträge verschafft. Beinahe notgedrungen macht man sich dieses (vermeintliche) Markenzeichen zu eigen, weil man die Entwicklung eines Personalstils mit der wiederholten Anwendung eines kompositorischen Kniffs verwechselt. Spricht erstmal nichts dagegen. Aber irgendwann, vielleicht mit Ende vierzig, mittlerweile von einer Professur versorgt, könnte man ja nochmal etwas wagen, nochmal alles aufs Spiel setzen. Das wäre mal was. Sich nicht drum scheren, was irgendein Feuilleton zusammenschmiert, was die Kollegen denken, was die „Fans“ sagen. Ligeti hat das vorgemacht, als er plötzlich mit seinem Horntrio dastand, seine frühen und mittleren Sachen (zum Großteil tolle Musik!) in allen Ehren, aber alles nichts im Vergleich zu dem Schritt, den er weitergegangen ist in seinen späten Stücken. Und auch für die Haltung von Henzes letzter Oper habe ich große Sympathien (ja schon klar, das ist alles rückwärtsgewandt und überhaupt komponiert Henze ja gar nicht mehr selbst), und sei es nur, weil die Feuilletonisten sich darüber mit süffisantem Lächeln mokiert haben.
    Wer macht das heutzutage noch, seinen Ruf aufs Spiel zu setzen? Wieso hängen sie alle so an ihrem „Ruf“ (sowohl dem gesellschaftlichen wie an dem an eine Hochschule). Und von diesen denkfaulen Akademikern erwartet man eine Bewegung? Von Komponisten, die sich selbst in der Haltung von Revolutionären gefallen und dabei spießiger als der letzte schwäbische (oder badische oder hessische oder brandenburgische etc.) Kleingärtner sind?
    Es gibt vielleicht bessere Zeiten, um ein junger Komponist zu sein. Aber keine Zeit hat die jungen, die unverbrauchten, die unbekümmerten und in gewissem Sinn auch naiven Komponisten mehr gebraucht als die heutige.

  3. querstand sagt:

    EINSPRUCH, Moritz!! Aber nur zum Thema „Mikrotonalität“! Was Patrick Hahn vor bald 2 Wochen kurzerhand manchmal gern gewesen wäre, war ich: Hörer am Äther. Zugegeben, ausser Manoury und Ferneyhough wirkte der Rest der Quartette dröge, Bernhard Lang loopt sich auch besser live, wobei ich bei den haydnschen „Sieben letzten Worten“ in der Quartettversion schon immer das Handtuch warf, sei es als Hörer oder dilettierender Spieler, jedes Beethovensche Dauerqratett, jede Kaiserquartettandantevariation verspricht da mehr Schlagobers. Ich bevorzuge die Orchesterversion, auch Langs Orchestermusik macht mich „geil“! Ich schnitt die Quartette für mich mit, lustigerweise total gescheitert…

    Anders das „Herz“ der Musiktage, die Orchesterkonzerte, durchaus spannend, vielleicht hätte man Ospald mit Dusapin austauschen sollen, wobei die Ospald-Kantate mir zu lang war, ein kraftvoller Beginn, dann ein Generve, das sich so zog wie Ablinger wohl auch, wobei der wenigstens komische Sachen verrichten liess, derweil Ospald sich selbst exekutierte.

    Die Mikrotonalität: man sollte den Ansatz Wyschnegradskys und Haas‘ nicht in einen Topf werfen. Der erste unterteilte fröhlich theoretisch die Chromatik, Haas bewegt sich weniger im Bereich einer weiteren Unterteilung des Chromas denn in der Konstruktion einer neuen Harmonik, die als Obertonharmonik von Natur aus genauer als in Halb-, Viertel- oder selbst Zwölftelton unterscheidet. Die Überschneidung zwischen Beiden besteht nur in der Verwendung von sechs in Zwölfteltönen gestimmten Klavieren und dem daraus resultierenden Klang, der elektronisch anmutenden Dekonstruktion der pianistischen Wundermechanik. Warum aber Klaviere? Synthesizer wäre hübscher gewesen. Es faszinierte Haas daran wohl die Möglichkeit eines mikrotonalen Dauertremologlissandos. Das klang auch „geil“, war leider dennoch kein „L’Espace Acoustique“, kam bei weitem nicht an Grisey heran.

    Entlarvend waren eigentlich die Videos der NMZ: bei Globokar wünschte man sich sofort den SWR mit seinem TV-Teil in Pflicht genommen, so gut gemacht die diesjährige Übertragung im Radio auch gewesen sein mag, wie unglaublich schlecht dagegen das immer noch zu kürzende Kürzungsopfer RBB, die bei Metanoia am 3. Oktober auf die Stille und Lautstärke als „keine Probleme der Technik und Ihres Empfängers, sondern so ist Neue Musik“ hinwiesen. Und Haas tappte in die Stolzfalle, wie genial doch die Zwölftelung des Ganztones sei. Man sah förmlich das „Boa, ist so toller als Vierteltöne“ in seinen Augen. Obwohl er mit seiner Teilung der Töne an die Obertonreihe ran möchte, gibt er den „Futurismus-Clown“, der eine noch grössere Unterteilung der Oktave als Neuerung ausgibt. Das sei als Denker Busoni, als Anwender Haba und Wyschnegradsky erlaubt, diese Ives-Ignoranten, der dies Alles schon viel früher machte, Haas macht sich aber mit solchen Äusserungen unglaubwürdig!

    Es geht bei spektralem Schreiben aber v.a. um harmonische Fragen, ohne dem emanzipierten Material wieder Funktionen wie in der Dur-Moll-Zeit zuzuordnen. Darüber hätte er sprechen sollen oder warum sein Stück so ähnlich im Klang tremolierend beginnt wie Skrijabins Promethée – Poème du feu, wohl auch ein Bezugspunkt für Wyschnegradsky. Und so leistet er dem Klischee Vorschub, welches Dich Moritz zurecht gähnen lässt und Dich ebenfalls in das Oktavunterteilungsdilemma tappen lässt.

    Dabei bietet die Obertonharmonik mit oder ohne Mikrotöne die perfekte Rutschbahn durch die verschiedenen Stimmungssysteme der Historie und des Weltkreises. Statt Gamelan-Skalen auf die schwarzen Tasten oder in Ganztonreihen zu pressen, lässt sich das via Naturtonharmonik exakt ausnotieren, neben dem Stilkontrast ein fliessender Übergang zwischen den Weltmusiken bauen, ohne nur rhythmische oder klangliche Parameter zu verändern. Wie Du siehst, habe ich in den letzten Sätzen das Wort „Mikrontonalität“ durch Natur-/Obertonharmonik ersetzt. Es geht muss eine andere Nomenklatur verwendet werden. Darin zeigt sich Haas als trauriger Clown: er meint was anderes, er macht v.a. was Anderes und wirft mit Bezeichnungen um sich, die wohl zum Donaueschingen-Darmstadt-Sprech gehören, aber ganz was anderes, abgestandenes meinen.

    A propos, zur Vollständigkeit: Maestro Zender, der Karge, benutzt in seinen Kalligrafien für Orchester auch sechs in Zwölfteltönen gestimmte Instrumente. Nur reichert er das Klaviergedonner mit drei Harfen gegen nur drei Klaviere an und schreibt kurze Stücke, die filigraner, figurenreicher sind, als das Stück Haas‘. Ein vielleicht „spinnerter“, ganz anderer Ansatz, der einerseits nach hinten in die Tradition gewandt ist, andererseits diesen nur durch die haarkleine Obertonharmonik den Mut hat: die Musik von Wolfgang von Schweinitz. Wann kommt der endlich wieder nach Darmeschingen-Donaustadt? Oder ist der zu esoterisch, befürchtet man einen Reinfall wie bei Stahnkes wunderbaren Violinkonzert? Immerhin scheint das SWR-Orchester begriffen zu haben, dass diese Musik mehr als Ignoranz verdient, in dem es Haas seinen Preis zusprach. Wenn es aber einer solch clownesken Bezeichnungsschnittstelle bedarf, wie altbacken und zäh ist doch dieser südwestdeutsche Musikmarkt, der sich als den offensten gibt, aber schneckt und suppt wie die Reformfreude der katholischen Kirche. Falls der Rotstift kommt: den Vatikan wird es wohl auch nach dem SWR und den Musiktempeln des Ländle wie Südhessens noch geben.

    Ja, der Spektralismus selbst ist dröge geworden, wirst Du Moritz jetzt sagen. Aber bedenke: schreiben unsere Kollegen Dolezel, Schiefer und Hurt jetzt nicht auch obertongebunden? Grad der Leopold Hurt kommt ja durch seinen Lehrer Kiesewetter aus einer Ecke, die man als postmodern bezeichnen könnte, die aber einfach nur traditionsverbunden blieb und trotzdem modern war. Erstaunlicherweise konnte Kiesewetter vormals mal einen Stuttgarter Kompositionspreis der „Gehobenen Unterhaltungsmusik“ gewinnen derweil sein Kind Hurt jetzt den Stuttgarter Kompositionspreis 2010 gewann. Ein weiteres extremes Kind Kiesewetters ist ja der Ferneyhough-Lachenmannüberflügler Klaus Hübler… Bleiben wir bei Hurt: der flocht früher auch ohne Naturtonrutschbahn die Stile der Welt. Richtig „cool“ wird es aber jetzt, seitdem er diese hölzernen Kontraste fliessender gestaltet. Da sind viele Musiken sein eigen, werden aber so nur zu einer, die facettenreicher ist als alle Haasschen Tremoli oder Lanschen Loops: so müssen wir die Österreicher mal wieder schrecken. Bis auf Alban Berg werden trotzdem in Zukunft nach Austria eingwanderte oder mit migrationshntergrund versehene Komponisten dort mehr Bedeutung erlangen als all diese Cerhas und Kreneks und Einems oder Haas und Langs, siehe Brahms, Beethoven und Mozart, wozu auch Hurt das Zeugs hätte, falls der Klimawandel ihn nach Wien spülen sollte oder er doch gerne in Bayern, seiner Heimat hängen bliebe…

    Da fällt mir noch was ein: ich hoffe, dass die Mikrotonalität oder die neuere Obertonharmonik auch in München auf dem Lehrplan steht? Bose benutzte ja Mikrotöne, um stilistische oder räumliche Fremde zu suggerieren. Er war so einer der Ersten, der hier einen sinnvollen Gebrauch eröffnete, der durch die Obertonharmonik noch vielmehr zuliesse. Ich hoffe, dass dieser Stand der Technik gehalten wird…