Magenknurr’n und alte Witze – darmstadt 2010
Manchmal muss man sich schämen. Da sind grandiose Musiker, sie spielen gute Musik – und man verlässt das Konzert vor dem Ende. Aus einem profanen Grund wie: Nahrungsaufnahme.
Eine Marathondistanz haben die Ferienkurskonzerte ihren Hörern gestern Abend offeriert. International Contemporary Ensemble – von deren glamouröser Fundraising-Party Moritz berichtete – und ensemble recherche hatten zusammen geschmissen für einen gemeinsamen Konzert-Abend, der glatte dreieinhalb Stunden währte. Da war das Ende lange noch nicht in Sicht, denn auch das norwegische Ensemble Asamisimasa hatte noch einiges zu bieten. Es war Mitternacht, als offiziell die After-Hour eingeleitet wurde. Man könnte auch sagen: als die erste Pause begann.
Dass er es bei der Programmierung der Konzerte vielleicht etwas zu gut gemeint hat, ist das einzige, was der Stippvisiteur dem künstlerischen Leiter im Laufe seiner ersten „Darmstadt-Ferien“ ins Gästebuch schreiben mag. (Der Ausdruck Gästebuch ist mit Bedacht gewählt, denn als „Gastgeber“ könnte man vielleicht am ehesten die zugleich offene wie verbindliche Art umschreiben, mit der Thomas Schäfer seine Rolle ausübt.)
Darmstadt ist unterwegs: die zahlreichen Fahrräder, die durch die Stadt flitzen, sind vielleicht das sichtbare Symbol dafür und die Meinung der Stammgäste einhellig. Obowhl sich die Zusammensetzung der Dozenten kaum verändert hat, ist der Geist ein anderer. Zugleich straffer und lockerer sei das Programm geworden, sagen Dozenten, die nicht früher ins Bett gehen als ihre Schüler. Wer durch diese Darmstädter Schule will, muss Langeaufbleiber und Frühaufsteher ineins sein und wer’s nicht ist, der muss es werden. Ein berühmtes Bild des jungen Wolfgang Rihm, der auf einer Darmstädter Bank dem Schlummer verfallen ist, hat sich in den vergangenen Tagen mit vielen weiteren Gesichtern überlagert: „Der junge Künstler als übernächtigter Mann“.
Zu den Konzerten aber noch ein paar Worte. Hervorgehoben sei zunächst, dass auch Darmstadt eine Sporthalle besitzt, wo käme man denn dahin, wenn man mal ein Neue Musik-Festival ohne den Geruch von Linoleumboden und Teenieschweiß hätte erleben müssen.
Das Konzert fing extrem erfreulich an: Musikermusik stand auf dem Programm, der tierische Trompeter des ICE, Peter Evans, hat sich und seinen Kollegen an der Gitarre, Klavier und Percussion ein Stück geschrieben, das die Spontankraft des Free-Jazz mit Wille zur Form kanalisierte. Eine hyperaktive Flöte war zunächst die Protagonistin von Jason Eckardts 16, das etwas zu didaktisch den Weg von geräuschhafter Sprache zur großen Melodie nachzeichnete. Aber auch hier darf man begeistert sein, was Claire Chase, die Flötistin, da geleistet hat. Nathan Davis eröffnete dem Publikum „The Bright and Hollow Sky“ und ich habe mir leider nicht aufgeschrieben, warum ich dieses Stück so gut fand, wie ich es fand, ich weiß, das ist peinlich, jedenfalls hatte es wohl etwas mit einer durchaus rockigen Attitüde zu tun, die nicht anders als mitreißend zu beschreiben ist. Von der chinesischen Komponistin Du Yun bekam das Publikum einen „Impeccable Quake“ mit auf den Weg: eine makellose Erschütterung. Dieser Komponistin sei die Bekanntschaft auch mit Sinfonieorchestermanagern empfohlen. Solch unaufdringliche Allusion an ostasiatisches Musikgut mit energetischem Impact kommt nicht nur in Turnhallen.
Anhand des Kontrasts zum Nachfolgenden ließe sich nun vorzüglich über Unterschiede zwischen Europa und Amerika diskutieren, denn mit Rebecca Saunders wurde es wieder anders: Ihre räumliche Collage für zehn Musiker, „murmurs“, spannte fein ziselierte Linien durch den Raum, sponn ein delikates Klangnetz, dessen Farbspiel in der Interpretation des ensemble recherche einen unerhörten Reichtum erlangte. Gleichwohl hatte man in dieser knappen halben Stunde den Eindruck einer viel größeren Hermetik als zuvor: die Musik hätte auch noch eine halbe Stunde so weiter gehen können, sie hätte auch nach zehn Minuten vorbei sein können. Musik wie ein Blick in die Kristallkugel, aus der das Bild, das man darin zu finden hofft, nicht auftaucht.
Nach einer Umbaupause: Klassikerstunde mit ensemble recherche, „Refrain“ (1959) für Klavier, Celesta und Schlagzeug – mit dem von Stockhausen in den 90ern festgeklebten Lineal, offene Form fixiert. Johannes Schöllhorns Boulez-Exegese „berstend-starr“ wirkte zu diesem Zeitpunkt aber bereits vor allem starr, was nur am Hörer lag, nicht am intellektuellen Witz und nicht an der luziden Ausführung.
Earle Brown und Iannis Xenakis wurden, wie angedeutet, einer penne all’arabiata geopfert. Und auch Oyvind Torvunds Plastikspielzeugspiele wurden nicht erreicht. (Ein junger amerikanischer Komponist äußerte sich geringschätzig über dieses „gaming around“, schade, klingt, als ob ichs gemocht hätte.) Simon Steen-Andersens Klavierstück gewann ungemein durch das rückenfreie Kleid der Pianistin, die, unterstützt von zwei Assistenten, dem Klavier allerlei Tonloses zu entlocken vermochte mit einem Stück, das leider bei Weitem nicht an die Qualitäten des Ensemblestücks vom Vortag heranreichte. An Mauricio Pauly erinnere ich mich nicht, Brian Ferneyhougs „Renvoi/Shards“ für E-Gitarre und Vibraphon klangen hübsch schräg, denn Hakon Morch Stene bediente ein Vierteltonvibraphon. Ansonsten der Beweis, dass man Ferneyhough-Gesten auch auf der E-Gitarre produzieren kann, wenn auch irgendwie nicht so überzeugend.
Erwähnung hat allerdings noch Trond Reinholdtsen verdient, dessen „Unsichtbare Musik“ voll auf der Linie des Ensembles Asamisimasa lag: die norwegische Gruppe bewegt sich gelegentlich gern auf neodadaistischen Pfaden. Der Komponist war Teil der Performance und eröffnete das Werk mit musikalischen Begriffen, die vom Ensemble instantan beantwortet wurden: „Unisono“, „Akkord“, „Wiederholung“, „Variation“, „Entwicklung“ etc. Der Witz lag selbstverständlich in Identität oder Differenz zwischen Konzept und Ausführung und drohte sich rasch zu erschöpfen oder in additiver Beliebigkeit zu verlieren. Dann aber gab es gewissermaßen die dialektische Volte, als Reinholdtsen Publikumsreaktionen auf den ersten Vortrag von John Cage bei den Ferienkursen zitierte und mit den Reaktionen auch die Auslöser. Er offenbarte sein Konzept als eine Aemulation des Vortrags von John Cage.
Was sagt das über Darmstadt? Vielleicht: Der Schatz, den die Archive bilden, hält mehr an Aussagen über die Zukunft bereit, als die schon geschriebenen Geschichtsbücher vermuten lassen. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte birgt die Möglichkeit, zu neuen, überraschenden Lösungen zu finden.
Dann aber sagt es natürlich nichts über einen Ort, ein Festival, sondern nur über uns Rezipienten: Gute Witze erzählt man gerne weiter.
Bei einem Kurzbesuch von bloß drei Tagen bleibt nur ein vager Eindruck von der Erfahrung, die diese „Ferienakademie“ zu stiften vermag. Ein wenig ist es ein Festival, ein wenig eine Arbeitsstätte. Es gibt keine Trennung zwischen Produzenten und Rezipienten, alle frickeln irgendwie, irgendwo am selben Ding. Mit diesem Gefühl geht man vielleicht auch wieder anders in den Alltag. Für künftige Jahrgänge fehlt eigentlich nur noch eine Lehr- und Tateinheit, die im Geflecht von Produktion und Rezeption nicht zu vernachlässigen ist: Das Hören.
So sei der künstlerischen Leitung zu guter Letzt die Einrichtung einer Besucherschule empfohlen, für die zertifizierende Ausbildung von Diplomrezipienten. Das verstockte Rührei im Maritim reicht wohl noch für alle. Wenn man genug isst, vielleicht auch bis um Mitternacht.
Musikjournalist, Dramaturg
Klingt weitgehend gut – hoffe, die Musik war wirklich so anregend. Fragt sich nur ganz biologistisch, ob anregende Musik Hunger nach Nahrungsaufnahme oder nach noch mehr Musik verursacht. Ihrem Bericht wohl zu urteilen: nach noch mehr Musik und Ihre Nahrungsaufnahme war rein körperlichen Grundbedürfnissen geschuldet.
Allen „Musikgau“-Vorwürfen zum Trotz überlegt man sich, 2012 doch auch mal dazu zu stossen. Fragt man sich weiters noch, ob solch eine Überdosis an Neuer Musik nicht Schreibhemmungen verursachen könnte, ob wirklich alle Eindrücke notwendig, das Leben verändernd, zumindest Sinnlichkeit vermittelnd sind.
Ich stand 2008 schon mal kurz vor dem Überweisungsträger für die Ferienkurse. Leider siegte mein Geiz! Oder doch die Hybris, eingeladen zu werden und nur dann zu kommen – also auf eingereichte Stücke hin… Als ich dann nochmals die von mir ausgesuchten Sachen überflog, fand ich Alles zu wenig komplex, zu deutlich, auch mal zu schüchtern, trotz Stücken mit 17/32 Takten und 6tel-Tönen, geschweige denn Elektronik, aber die war ja damals gar nicht gefordert. Und einfach zuviel Sachen für Zither, die üblichen Ensemblestücke waren nicht unbedingt für Spezialisten, gingen von vornherein Kompromisse mit der Spielbarkeit ein – so nur mahnende Worte, endlich den Kursbeitrag zu entrichten. Nach einigem Zweifeln dann erlösendes Zerreisen des Überweiungsträgers.
So wurde es 2008 nichts, 2010 nur Blog-Nörgeln, echt verhindert und die Frage, ob sie mich 2012 überhaupt zulassen werden, denn ein Nörgler muss doch noch sein: ja, es sind internationale Kurse, höchstwahrscheinlich mit der diesjährigen Überfülle an Mikrotonalität eine Exportbörse französisch-deutscher-englischer-amerikanischer-skandinavischer Techniken in den Rest der Welt. Für uns aber doch irgendwie nicht neu. Und dementsprechend doch erstaunlich wenig deutsche Komponisten – man traut es sich fast nicht zu sagen. Aber da kommt so eine Idee: die nächsten Ferienkurse finden in dem Heimatland und v.a. Heimatort des oder der Komponisten/-in statt, der/die den Kranichsteiner Preis abräumt! Oder man verlegt die Kurse einfach mal in das Wohnzimmer von Irvine Adritti?
So kommen jetzt schon wieder Zweifel für 2012, rein egoistische: hat man als seit 10 Jahren exstudentischer Mensch überhaupt eine Staubach-Chance, eine Streichquartett-Chance? Oder endet es wieder mit einem zerrissenen Überweisungsträger, trotz dann 31/63-Takte und 9tel-Tönen? Ich höre jetzt schon die Sinnlichkeit von Papierfetzen, da ich wohl wieder ein Schisser sein werde und noch mehr ablästern werde, falls es dann diesen Blog noch geben wird…
Oder mal ganz ehrlich Mädels und Jungs: was kann neben all den Nischennischendiskussionen in Darmstadt die eigentliche Moderne sein? Die Jungen werden auch diesmal die Podien am Ende nich geentert haben, nicht in Darmstadt! Eine echte Revolution wäre allemal die Überkuratierung zu überwinden und nicht nur DJ’s, sondern ganz andere Musiker einzuladen. Oder geschah die Moderne hier schon im Blog, weitab Darmstadts, die Auseinandersetzung zwischen so Unentschiedenen wie mir, konservativeren wie Janson, mit der Bildenden Kunst flirtenden wie wechslestrom, den ganz anderen Eggy, den gemässigten Schweitzer, den provozierenden Kreidler?
Ich hoffe, hier geht es irgendwann einfach mal wieder fröhlich zur Sache, auch wenn die Sao Paulo- und Darmstadt- wie Biennalebeiträge mehr Spass machen als das ewige GEMA-Gedudel oder die Aggro-Berliner! Aber passt auf, sobald wir hier wieder über GEMA und Orchesterfusionen reden, wird es wieder bunter.
Aber warum schweigen die GEMA-Besserwisser der Plörren und die Orchester-Sidos zu Darmstadt? Höchstwahrscheinlich löst der Namen dieser Stadt bei diesen armen Kreaturen nur eines aus: die Angst vor Creditreform, das Finanzauskunftsunternehmen, was einen für solvent oder unzuverlässig erklärt. Und ich kann mir vorstellen, dass jene Überweisungsträger noch mehr Schocker sind als die mit den Kursgebühren…
Darmstadt lässt einen immer wieder erstarren, ich schreib’s mir von der Seele, die anderen sind Stein oder vertonen gerade das Kaiserinnen-Melodram aus dem 3. Akt „Frau ohne Schatten“ mit den AGB’s von Creditreform als neuen Text – doch vorsichtig: der Lizenzanwalt schreibt schon an der Abmahnung!! Wer ist von Euch schneller?!? Also lieber doch in paar Sätze zu den Ferienkursen beigesteuert???
Sich an den Ohren ziehend oder ziehen lassend,
A. S.
@querstand,
auch im Bereich der Zither-Musik-Praxis hat die Elektronische Musik den Anschluss vollzogen:
–> http://www.youtube.com/watch?v=Mi9ZikB_BUA&feature=player_embedded#!
ab Minute 1:24
Beste Grüße aus dem Labor
wechselstrom
@ wechselstrom – erfreulich, mal wieder was zu sehen! Man glaubt’s kaum – letzthin blies ich in ein altes i-Phone (3 Monate alt!) und es klang das „app“ (ein mehr als angebissener, fauler Apfel?) wie eine Okarina! Wann klemmt sich jemand sein iPad unter die Schulter um drauf zu geigen, wann gibt es das KontrabassPad?!? Das kann ich dann meinen armen erwachsenen Laien im VHS-Orchester empfehlen, am Besten mit eingebauter Tonkorrektur! Ha, in Händen von Profis oder gar echten Laien, korrigiert es dann selbst den dilettantischen Laien: einfach Toscanini oder Stokowski oder Harnoncourt einstellen, schon zucken die Hände richtig, alles Diskussionen um Thielemann oder Nagano oder oder erübrigen sich. Bei soviel „Echtheit“ wünsche ich mir dann auch noch das „Lully“-Modell: das iPad in den Fuss gerammt. Ob dann der Arzt wenigestens noch ein echter Mensch oder eine echte Frau sein wird?!?
Aus der Fussmassage,
A. Strauch
habe auf dem Frühstücksfoto oben „Salon Immendorff“ gelesen.
Soviel zur Fröhlichkeit ;)
Das Konzert war wirklich Spitze! Hörenswert und für jeden sicher ein Highlight!
Wenn ich den Text so lese bekomme ich richtige Gänsehaut!!
Ich habe leider keine Karte mehr bekommen :( Wollte auch so gerne dabei sein!
Ich finde die Musik von Trond einfach genial. Ich könnte sie jeden Tag hören und trinke dazu genüsslich ein Glas Rotwein :)
Schön das man gute Musik so schätzt! Da steigt mir sogar die Gänsehaut auf :)
@ Werner, Mario, Maxi, Doris, Erwin: liegt Darmstadt in Austria? Oder seit Ihr die ersten Absolventen der zertifizierten Zuhörer? Oder könnt Ihr auch mehr als 2 Sätze von Euch geben…
das fragt sich querstand
Die Musik ist wirklich der Hammer. Ich war leider bei der Vorstellung nicht da, hab aber von einem Freund der dort war gehört, dass es wunderschön war!!