Klangbesäufnis in Neufundland Teil 5: Abschied und Ankunft
Ich hätte noch viel erzählen können aus dem schönen Neufundland, aus St. John’s, einer der weltweit verrücktesten Musikstädte.
Über „Crazy Deb“ – ein Monstrum von Frau, die bei den spätabendlichen Improvisationssessions in der Musikkneipe „The Ship“ die schrillsten Performances pflegt und mit ihren Publikumsbeschimpfungen die Leute ins Freie treibt, aus der diese dann beim nächsten genialen Schlagzeugsolo von Curtis Andrews wieder hineingelockt werden.
Über bizarre Einbürgerungsituale, genannt „screeching in“, in denen Nichtneufundländer gezwungen werden, bizarre Sprüche nachzusprechen, einen gummiartig vergammelten Fisch zu schlucken sowie den Hintern eines ausgestopften Vogels zu küssen, während eine leprechaunartige Wirtin ihnen mit einem Holzlöffel die Backen prügelt.
Über das von oben bis unten mit Schlagzeug und Fundstücken aus aller Welt gefüllte Haus von Kathy Clarke-Wherry, voll von Erinnerungen an ihren Mann Don und stets ein willkommen heißender Ort für alle Mitarbeiter des Festivals.
Über Mac Furlong, den Ansager alles Konzerte, dessen Rücken- wie Brustbehaarung wild aus seinem T-Shirt quillt und der in der Lage ist, einen großen Saal allein durch seine Wortwahl eine halbe Stunde lang glänzend zu unterhalten, während hinter ihm der großartige Joshua Fried verzweifelt versucht, sein aufwändiges Elektronikequipment für „Radio Wonderland“ zu verkabeln, einer Performance in der er zufällige Radiosendungen mittels verschiedener Algorithmen in peitschende Clubmusik und neue Kompositionen verwandelt.
Über meine open air performance „Breaking the Waves“, ein monströses Unterfangen mit 50 Mitwirkenden (12 Schlagzeuger, 7 Blechbläser, 3 Schauspieler in Kostüm und Gasmaske sowie allen Musikern des Festivals) das wieder einmal erst an schlechtem Wetter zu scheitern drohte, dann aber doch gut über die Bühne ging, zur allgemeinen Erschöpfung aller (nie wieder werde ich vorschreiben, dass ein Raum mit 500 gefüllten Wassergläsern vollzustellen sei – denn wenn man das selber aufbauen muss, verflucht man den Komponisten).
Über den Wind, dem es immer wieder gelang, einzelne Partiturseiten den Notenständern zu entreißen und diese quasi als Opfer dem Ozean zum Fraß vorzuwerfen, was zur Folge hatte, das Teile der Musik plötzlich improvisiert werden mussten.
Über das unglaublich sättigende typische Neufundländische Frühstück mit Baked Beans, Bologna (=englischer Leberkäs) und Teigwaren, die man in Bayern als „Ausgzogne“ bezeichnen würde, dort aber noch zusätzlich mit Butter bestrichen werden.
Über meine Gastgeber Geoff und Alison Younghusband, die in einem Haus wohnen, das von oben bis unten mit wundersamen Krimskrams gefüllt ist.
Über das Nachtleben von St. John’s, am meisten personifiziert durch die berüchtigte „George Street“, in der es wochentags so zugeht wie irgendwo in Deutschland am Samstag Abend vor der beliebtesten Kneipe der Stadt.
Über die einzigartige Musikkultur Neufundlands, die eigentlich weltberühmt wäre, wenn die Neufundländer nicht lieber einfach Musik machen würden anstatt diese clever zu vermarkten und zu präsentieren.
Über meine endlose Rückreise über London und Tirol – an letzterem Ort musste ich dann noch zu später Stunde mit dem Quintetto Amadeo ein Konzert geben und bekam dafür zur Belohnung von Maestro Gustav Kuhn den Rücken geknetet.
Über meine Heimkehr nach München als Verschollener, kaum vom Sohn erkannt, vom Eheweib schmerzlich vermisst….
All dies würde ich tun, wenn ich nicht schon längst WIEDER im Flugzeug sitzen würde, diesmal auf dem Weg nach Brasilien um das „Amazonas“-Projekt aufzuführen. Erinnert ihr euch noch daran?
Und wie es dort so zugeht, das werde ich euch gerne weiterhin aufschreiben…
Und hier noch ein paar Bilder und ein Video mit verwackelten Eindrücken von Cape Spear:
Euer
Moritz Eggert
Komponist