„Mir ist klar, dass Sie mich verachten“

Ein Bericht von der Verleihung des GEMA-Musikautorenpreises 2010

Werbung

Gestern fand im axica – direkt am Brandenburger Tor gelegen – die zweite Verleihung des GEMA-Musikautorenpreises statt.

Ein schöner, schön grotesker Abend.

Ausgezeichnet wurden Alex Christensen („Komposition Dance“), Nils Wogram („Komposition Jazz“), Joachim Horn-Bernges („Text Schlager“), Carola Bauckholt („Experimentelle Musik“), David Jost, Dave Roth und Pat Benzner („Komposition Rock/Pop“), Rebecca Saunders („Komposition Instrumentalmusik“), Jan Delay („Text Rock/Pop“), Johannes Kreidler („Nachwuchsförderpreis“), Silbermond („Erfolgreichstes Werk“) und Michael Kunze für sein Lebenswerk.

Vor dem Gebäude konnte ich – umringt von tausenden Reportern, gegen die ich mich mit meinen spitzen Ellbogen durchsetzte – Johannes Kreidler interviewen.

Nach der (das hieß wirklich so!) „Red-Carpet-Situation“, eine Art Situation auf einem, ja, wie soll ich sagen, auf einem roten Teppich, bei dem schon alle möglichen Musikpromis gespottet werden konnten, ging es in ein gläsernes Gebäude, dass bestimmt schon mal von der Scientology gemietet wurde (ich so zu nmz-Redakteur Martin „Hufi“ Hufner: „Das wurde bestimmt schon mal von der Scientology gemietet!“ – und er so: „Ja, ich kann mir auch vorstellen, dass das schon einmal von der Scientology gemietet wurde!“ Und ich dann so: „Meinst du wirklich, dass dieses Gebäude [usw].“).

Dort mussten die Gäste über viele Stunden ausharren

Dort mussten die Gäste über viele Stunden ausharren

Großartig, die anderen Fotografen (ich so zu Hufi: „Könntest du dir auch vorstellen, ein Paparazzo zu sein?“ Er so: „Ja.“) dadurch zu irritieren, indem man für die üblichen Promis (Blümchen, Jan Delay, Nova Meierhenrich, Annett Louisan) kaum Interesse zeigte, sondern viel emsiger die Neue-Musik-Promis (vornehmlich die Nominierten) befragte und fotografierte.

Da kamen dann von filmenden und knipsenden Kollegen Fragen, wie: „Wer war das denn eben, wenn ich fragen darf?“ Ich so zu ihm so: „Das war Johannes Kreidler! Sie kennen Johannes Kreidler nicht?“

Johannes Kreidler und Jasmin Wagner (Blümchen) vor der Verleihung

Johannes Kreidler und Jasmin Wagner ("Blümchen") vor der Verleihung

Der Abend (hier meine kleine und absolut misslungene Audioeinführung) lebte dadurch, dass hier Musiker aufeinander trafen, die sich eigentlich sonst nie treffen. Die Video-Präsentationen für die Kategorien „Experimentelle Musik“ und „Instrumentalmusik“ sorgten im Saal für Irritation, schließlich erschien das neben Kategorien wie „Komposition Dance“ und „Text Rock/Pop“ so herrlich unpassend. Im öffentlichen Bewusstsein existiert die Neue Musik im Grunde nicht, wird sie beispielsweise im deutschsprachigen TV doch so gut wie nie abgebildet (auch das 3Sat-Magazin „Kulturzeit“ kommt selten über dürftige Berichte von Bieito-Skandalinszenierungen und Lang-Lang-Konzerten hinaus).

Carola Bauckholt auf dem roten Teppich. Sie gewann in der Kategorie Vergesslichste Komponistin

Carola Bauckholt auf dem roten Teppich. Sie gewann in der Kategorie "Vergesslichste Komponistin"

Die Neue-Musik-Videoeinspieler erfüllten aber leider nur die gängigen Vorurteile (selbst die Musik von Enno Poppe, dem die Veranstaltung – wie mir, Stefan Fricke und anderen Elfenbeinturmvertretern auch – gut gefiel, klang plötzlich wie ein Klischee von Neuer Musik, von der Ottonormalbürger denkt, sie sei Kunst von Geistesgestörten für Geistesgestörte).

Enno Poppe und Frau

Enno Poppe und Frau

Man muss, um es mit gutem Gewissen positiv zu wenden, von einer seltenen, eigentlich nie dagewesenen Buntheit sprechen, wenn man sich anschaut, welch unterschiedliche Personen der Hoch- und Prekariatskultur nach der Eingangsrede des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Bernd Neumann, als Preisträger oder Laudatoren hintereinander auf die Bühne kamen.

Bernd Neumann und der schöne Harald (Heker)

Bernd Neumann und "der schöne Harald" (Heker)

Der Moderator des Abends: Dieter Moor

Der Moderator des Abends: Dieter Moor

Johannes Kreidler (rechts) und - hier, äh... Dings! (links)

Johannes Kreidler (rechts) und - hier, äh... Dings! (links)

Sicher, eine Selbstinszenierung der GEMA – aber eine legitime, weil bunte, durch den besten Moderator Deutschlands (Dieter Moor) auch ironisch präsentierte und irgendwie ehrliche Selbstinszenierung. Von allen Seiten preiste man die GEMA. Zunächst von Seiten der Politik, dann von den Künstlern, die eben alle GEMA-Mitglieder sind. Die GEMA ist der bunteste Verein der Welt. Jan Delay verkürzte es: „Die GEMA find ich supergeil“, der in der Kategorie „Nachwuchsförderung“ mit 1.000.000 EUR ausgezeichnete Johannes Kreidler gab sich da differenzierter, wie hier eigens dokumentiert.

Johannes Kreidler (Preisträger) und Nike Kinder, schafft Neues! Wagner (Laudatorin)

Johannes Kreidler (Preisträger) und Nike "Kinder, schafft Neues!" Wagner (Laudatorin)

Die Veranstaltung wurde nicht live übertragen (außer zu uns in die Presse-Lounge). Das wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn sie wurde immer wieder durch den nächsten Menü-Gang unterbrochen. Ich war froh, im gemütlichen Pressebereich mich mit Martin Hufner und einem Redakteur von „Musikmarkt“ (Hufi: „Quasi die nmz in kapitalistisch.“) austauschen zu können und, ja, ähem, eigentlich die ganze Zeit zu essen und zu trinken – auch während der gar nicht mal so kurzen Reden…

Martin Hufner (nmz) mit den Waffen eines investigativen Reporters

Martin Hufner (nmz) mit den Waffen eines investigativen Reporters

Als Johannes Kreidler und ich zu morgendlicher Stunde das axica verließen, trafen wir auf die Schlagersängerin Kristina Bach, die die seltsame, aber wohltuende Diskrepanz von medial präsenter Pop-Musikindustrie (die manch einer, wie überraschenderweise Jasmin Wagner in ihrer Laudatio, als „vielleicht nicht so intellektuell“ darstellte und damit gute Selbstironie bewies) und ernster Hochkultur an diesem Abend mit dem völlig unerwarteten Satz „Mir ist klar, dass Sie mich verachten!“ (oder so ähnlich) negativ wendete.

Johannes Kreidler: Gewinner in den Kategorien 'Lebenswerk', 'Nachwuchs' und 'Text Schlager'. Im Hintergrund der weinende (weil: leer ausgegangene) Jan Delay

Johannes Kreidler: Gewinner in den Kategorien 'Lebenswerk', 'Nachwuchs' und 'Text Schlager'. Im Hintergrund der weinende (weil: leer ausgegangene) Jan Delay

Johannes Fundbüro Kreidler (links) und Carola Bauckholt (rechts), die ihren Preis irgendwo hatte stehenlassen

Johannes "Fundbüro" Kreidler (links) und Carola Bauckholt (rechts), die ihren Preis irgendwo hatte stehenlassen

OREN-Gewinnerin Johanna Kreisler

OREN-Gewinner Johanna Kreisler

Pat Benzner (einer der Songschreiber von Tokio Hotel) mit Kreidler

Pat Benzner (einer der Songschreiber von Tokio Hotel) mit Kreidler

Schlechte Symbolik (Folge 816): Ach, hätte er den GEMA-Musikautorenpreis doch WIRKLICH auf den Kopf gestellt...

Schlechte Symbolik (Folge 816): "Ach, hätte er den GEMA-Musikautorenpreis doch WIRKLICH auf den Kopf gestellt..."

Dabei war das ein wirklich abwechslungsreicher, ehrlicher und angenehm privater Abend bei der GEMA. Und dagegen ist nichts einzuwenden, solange das alles wirklich von Sponsoren bezahlt wurde, wie man mir sagte. Ist das jetzt zu naiv?

Abschließend noch ein kleines Interview, das ich zu extrem später Stunde mit einem waschechten Paparazzo vor Nike Wagner und Johannes Kreidler stehend führte.

Liste(n) auswählen:
Unsere Newsletter informieren Sie über Neuigkeiten im Badblog Of Musick. Informationen zum Anmeldeverfahren, Versanddienstleister, statistischer Auswertung und Widerruf finden Sie in unserer Datenschutzbestimmungen.

Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

8 Antworten

  1. Vielen Dank für den schönen Bericht, Arno! Ich wäre ja gerne dabei gewesen, stattdessen verbrachte ich die Nacht in der Notaufnahme und wurde mittels Kortisonspritzen vor dem Erstickungstod gerettet (leider kein Witz).

    Zum Thema „Videoeinspieler E-Musik“ muss ich noch etwas sagen: Ich teile Deine Ansicht, dass das alles eher das Klischee bestätigt. Es gibt dafür aber einen sehr einfachen Grund: ES GAB KEIN ANDERES MATERIAL!! (das kann ich sagen, weil ich bei jeder dieser Preisverleihungen stets verzweifelte Anrufe von den Machern dieser Einspieler bekam, die mich um Hilfe bei der Auswahl baten und selber das Material mit ihnen immer wieder sichtete und Tipps gab).
    Zuerst einmal muss man betonen, dass dieses Filmmaterial nicht einfach willkürlich ausgewählt , sondern in enger Zusammenarbeit mit den Kandidaten erarbeitet wird (die dieses Material entweder selber liefern, oder durch ihren Verlag liefern lassen).
    Im Gegensatz zu den Kandidaten aus der U-Musik (die stets professionell produzierte Videos vorweisen können, selbst wenn sie zum noch wenig bekannten „Nachwuchs“ gehören), ist Videomaterial in der E-Musik (auch im Jazz übrigens) extrem selten, ja sogar verpönt. Charlotte Seither reagierte zum Beispiel richtig beleidigt auf die Nachfrage danach, sie „hätte so etwas selbstverständlich nicht, sondern nur Tonaufnahmen“. Man musste dann mühsam irgendwelche langweiligen Probenaufnahmen von einem Festival ordern, die Charlotte selber gar nicht besaß.

    Das heißt also es gab von fast allen Kandidaten nur ganz wenig bis gar kein Material – daraus soll man nun etwas auswählen, dass innerhalb von ca. 20 Sekunden irgendeinen Eindruck macht!
    Man kann das Fehlen eines solchen Materials nicht den Kollegen zum Vorwurf machen – wir alle wissen, wie schwer sich die Öffentlich-rechtlichen Fernsehsender inzwischen mit Neuer Musik tun (von den privaten ganz zu schweigen, die machen NICHTS, wenn man mal von Alexander Kluges Guerilla-TV absieht) und bis man mal das Glück hat, ein Video von etwas gemacht zu bekommen, kann es lange dauern. Auf der anderen Seite sind inzwischen schon aserbaidjanische Dirigenten in der Lage, einigermaßen professionell produzierte „Heim“-Videos zu Dirigierwettbewerben zu schicken, mit der heutigen Technik ist es eigentlich nicht so schwer, anständige Aufnahmen bei Konzerten zu machen, nur viele interessiert das einfach nicht.

    Man könnte hier lange beklagen, was für eine visuelle Gesellschaft wir geworden sind, und dass es natürlich vor allem auf die Musik ankommt, aber die mangelnde Präsentation der meisten E-Komponisten beim GEMA-Autorenpreis liegt wirklich daran, dass diese kein besseres Material liefern konnten, da kann man dann auch nicht zaubern und etwas anderes draus machen. So unangenehm diese Wahrheit ist – das Bild das hier von der Neuen Musik entstand, ist zwar das Klischee, aber es ist ein selbstverursachtes, nicht eines, das von außen aufgedrückt wurde.

  2. wechselstrom sagt:

    @ Moritz Eggert

    Meine herzlichsten Genesungswünsche!

    – wechselstrom –

    diesmal aus Oldenburg 5 Std. vor Premiere

  3. …schließe mich den Genesungswünschen lückenlos an. Was das Video-Material betrifft grobe Schleichwerbung: Schon mal was von http://www.nmzmedia.de gehört? – Wir produzieren fair und kompetent Komponisten-Bilder – wenn gewünscht. Da helfen Deutscher Musikrat, Schott und überraschenderweise auch die nmz zusammen…

  4. Erik Janson sagt:

    @ Moritz,

    von mir ebenso.

    Christoph, viel Erfolg bei Deiner Opernpremiere!

  5. Kleiner Nachtrag samt Nachfrage:
    1. Arno – wunderbar, konnte nicht dabei sein, wars aber jetzt, dank Dir.
    2. Die Musik, die unter der stylischen Web-Präsentation der axica-location liegt, ist doch sicher GEMA-frei?
    Bitte versichere mich. Oder war da Karel Gott zu hören?
    Oder gar Kreidler?
    Aufklärung ersehnt: Dein alter Theo
    geissler@nmz.de

  6. peh sagt:

    schön daneben geschaut, arno! macht freude zu lesen! (und zu hören.) gute besserung dir, moritz.

  7. querstand sagt:

    @ eggx
    Das klingt ja nach allergischen oder sonstigen giftartigen Dingen. Hoffentlich nicht die „Neue-Musik-Allergie“. Wenn es diese gewesen sein sollte, dann wird es schleunigst Zeit eine neuere Musik zu finden… Wenn man das Alter der Neuen Musik bedenkt, hat man schon oft den Eindruck von infektiöser Fäulnis grosser Teile der Materie. Also rasch Spargel und Bier, das macht Musik, und Dich zum Stier! Gerade wenn Du jetzt als Schamane mimst, kann es natürlich sein, daß Du eine ganz andere Musik herbeiträumst, wenn Du den Amazonas-Konferenz-Tisch bespielst.

  8. Es geschehen Zeichen und Wunder, Christoph! (wechselstrom) – danke für die Genesungswünsche, wird schon wieder. Ich hoffe, Deine Premiere war schön?
    Und danke an alle anderen natürlich auch! Ich zwinge mich schon wieder zu Schamanenproben (ab morgen kommt auch wieder das ZKM ins Spiel – im Moment hauptsächlich TILT von Klaus Schedl).
    Moritz Eggert