prejudice lost – schwanenritt nach sachsen-anhalt

Ein Vorstellungsgespräch habe ich mir vor einigen Jahren mal kräftig damit verdorben, dass ich einen Witz schlecht nacherzählt habe. Es ging darin um die Neuansiedlung von Büffelherden in den „neuen Bundesländern“ und ich faselte etwas von wildem Westen und wildem Osten und die Jury musste zwangsläufig den Eindruck gewinnen, dass ihr ein großes Rindviech gegenübersäße. (Und die sind ja angeblich Schuld am Klimawandel.)

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Hollywood-Nails und Windräder

Hollywood Nails und Paradies Grill - unterwegs zum Vorurteil

Hollywood Nails und Paradies Grill - unterwegs zum Vorurteil

Seither freue ich mich über jede Gelegenheit, meine Vorurteile abzulegen. Noch mehr freut es mich bloß, wenn meine Vorurteile sich bestätigen. Der Regionalexpress zwischen Köthen und Dessau ist genau der richtige Ort dafür: Kurz nach Magdeburg kommt die Bahnstation Elsnigk (Anh) wo man am Bahnhof Hollywood-Nails und Paradies-Grills angeboten bekommt. Gleich danach beginnt die Prärie. Und es scheint, als seien die folgenden Bahnhöfe danach ausgesucht, ob eine „Ranch“ oder ein Schrebergarten in der Nähe ist. Eine überirdische Pipeline, die entlang der Bahnstrecke nach Dessau verläuft, wirkt, als hätte jemand der Erde die Haut abgezogen und damit eine kalte, technologische Wahrheit über Natur ans Licht gebracht. Die Bäume haben ihre Blätter verloren und lassen ihre Äste wie Windräder kreisen. Umwelttechnologie, was für ein Ausdruck. Auf der Strecke zwischen Johann Sebastian Bach (Köthen) und Kurt Weill (Dessau).

Es gab ein paar gute Gründe, diese Reise zu tun: schnell noch einmal anschauen, wie das Dessauer Theater ausschaut, bevor brutalistische Sparvorgaben durchgesetzt werden. Liebe Bekannte wieder treffen. Und den Lohengrin von Andrea Moses sehen, der seit seiner Premiere im vergangenen Herbst von einschlägigen Theatergehern hoch gehandelt wird. (Was unter anderem meine freundliche Sitznachbarin, mit der gesamten Familie aus Berlin angereist, bestätigte.)

Ornament und Urheberlosigkeit

Tapete der Meister

Tapete der Meister

In Dessau angekommen, steuert mich mein Telefon ins Pächterhaus, was sich als guter Einstieg erweist in die Dessauer „Verhältnisse“. Auch andere Kölner, die häufiger in Dessau sind als ich, verkehren hier und die kulturinteressierte Wirtin plaudert gern. Schnell weiter in die nahe gelegenen Meisterhäuser: Eine Ahnung bekommen, wie Paul Klee, Oskar Schlemmer, Laszlo Moholy-Nagy hier gelebt haben. Auch hier verrät die Einrichtung viel über das Wesen der Bewohner.
Auf eine Zigarette beim Meister Nachbar - Kandinsky und Klee

Auf eine Zigarette beim Meister Nachbar - Kandinsky und Klee

Wassily Kandinsky, von so viel gläserner Transparenz geblendet, strich seine Fenster von innen weiß – er wollte lieber unbeobachtet sein, wenn ihn die Muse knutscht und beantwortete die sachlich-funktionale Moderne der Architektur mit Schaukelstuhl und Häkeldeckchen. (Dass er der Erstkäufer eines der teuren Breuer-Stühle war, hatte wohl mehr mit Freundschaft zu tun – und war schließlich billig, hat er ihm doch einen Ehrenplatz in der Geschichte des Designs eingeräumt. Wer hätte nicht gern einen sogenannten „Wassilij“ daheim.) Eine kleine Ausstellung über die Geschichte einer Türklinke eröffnet mir ein Nebenkapitel zum Thema „Ornament und Verbrechen“. Aufgrund des Mangels an „Ornament“ erkannten die Richter Herrn Gropius nämlich das Urheberrecht an einer Türklinke ab. Als habe sich hier die urheberlose platonische Idee einer Türklinge materialisiert. Zwar mag das Ornament, frei nach Loos, ein Verbrechen sein – Ornamentlosigkeit ebnet offenbar den Weg für räuberische Kopien.
Die platonische Idee einer Küche?

Die platonische Idee einer Küche?


Einmal durch den Hbf und schon glotzt von gar nicht mal so fern das Anhaltische Staatstheater herüber: Ein großes Haus, Kolossalarchitektur der Nazis, die in Dessau schon 1932 – noch vor der Machergreifung – am Ruder waren. (Unter anderem mit dem Versprechen als erstes das Bauhaus dicht zu machen. Immerhin die Zerstörung der manifesten Häuser ist ihnen nicht gelungen.) Als Zuschauer betritt man ein schönes, lichtes Haus, es gibt keine Logen auf den Rängen, keinen Puppenstubenzierrat: die 1000 Plätze sind allesamt gerade auf die Bühne ausgerichtet: nicht das Publikum soll hier im Widerschein des Kunstereignisses erglänzen, hier gilt’s einzig und allein der Kunst. (Und vielleicht doch auch ein bisschen der Anpassung der Sichtweise?)

Holzschwerter zu Requisiten

Die Vorbereitung für diesen Lohengrin-Besuch war gewissermaßen extraklasse: Vor einigen Wochen hatte ich Gelegenheit mit der Akademie Musiktheater heute Peter Konwitschny zu treffen – anlässlich der Leipziger Premiere seiner 12 Jahre alten aber immer noch sehr sehenswerten, ja, meisterlichen Lohengrin-Deutung. Konwitschny verlegt die gesamte Handlung in ein wilhelminisches Klassenzimmer, das von kurzbehosten Schülern mit Holzschwertern bevölkert und mittels simpler Requisiten nach Bedarf verwandelt wird. Eine grundsätzliche Entscheidung, die den Blick auf die Figurenkonstellationen frei gibt und das gesamte Geschehen in eine Sphäre des „Spiels“ verlegt. Bis bei der Tötung Friedichs von Telramund zum ersten Mal ein echtes Schwert aufblitzt. Aus Schulbankkebbeleien wird ernst, Wirklichkeit bricht in die ästhetische Welt ein, zerstört sie und macht damit die Anwesenheit des „Erlösers“ unmöglich. Die Ankunft Gottfrieds kündet von Krieg und Verderben. Ulf Schirmer war in jedem Augenblick bei der Bühne, er atmete mit der Inszenierung und verlieh nicht zuletzt dem Grauen dieses Lohengrin-Schlusses durch die dynamische Zurücknahme noch eine besondere Schärfe.

Erlösung dem Frager

Nach zwei Konwitschny-Inszenierungen an zwei Abenden hintereinander – eine Adaption seiner Hannoveraner „Al gran sole“-Inszenierung folgte – beging ich den Fehler, ihm die Frage zu stellen, welche Bedeutung „Erlösung“ für ihn habe und ob diese für ihn auf dem Theater möglich wäre. Im Lohengrin ist sie das offensichtlich nicht, die Suche nach Erlösung gebiert das Verlangen nach Führern, was, wie man weiß, unheilvoll sein kann. Für einen kurzen Moment wirkte es in der Nono-Inszenierung, als wolle er – nachdem die Geschehnisse keine Hoffnung andeutete und der Eiserne sich bereits herabgesenkt hatte – eine „Hintertür“ offen lassen. Doch auch sie schloss sich mit erbarmungslosem Geräusch.

Mit meiner Frage war ich – so schien es – sofort in seiner Wagnerianer-Erlösungsschublade gelandet und hatte mich nun für Bedürfnisse zu rechtfertigen, die gar nicht die meinen waren. Im Laufe des langen, nächtlichen Gesprächs, das sich noch an eine lange Publikumsdiskussion zu Nono anschloss, wurde auch jenen, die Peter Konwitschny noch nicht begegnet waren, deutlich, warum er einer der bedeutenden ist. Er ist nicht nur einer der phantasievollsten und musikalisch genauesten in seiner Arbeit. Ein ganz simpler Grund unter anderen mag sein: Er kann länger als alle! Zumindest schien ihn das Gespräch, je länger es dauerte, desto mehr zu erfrischen.

Hoher Besuch

In Dessau, knapp siebzig Kilometer von Konwitschnys Haus in Leipzig entfernt, wirbelt gegenwärtig eine junge Regisseurin in leitender Position gewaltig Bühnenstaub auf: Andrea Moses. Ihr Lohengrin wurde von vielen Beobachtern mit Konwitschnys Schwanenritt in Beziehung gesetzt. Und es geschah, dass der große Mann aus Leipzig nach Dessau kam, um sich diese Arbeit anzusehen.

Andere Waffen

Andrea Moses greift gewissermaßen die Waffe auf, die Konwitschny am Ende zückt. Schon das erste Duell zwischen Lohengrin und Friedrich von Telramund findet mit echten Schwertern statt. Doch das ist unwichtig, denn man weiß bereits zu diesem frühen Zeitpunkt, dass die Waffen mit denen hier wirklich gekämpft wird, gänzliche anderer Art sind. Doch der Reihe nach. Moses verlegt die Oper zunächst ins Parlament, wo ein kritischer Bürger Anklage gegen das bedröhnte Trutscherl Elsa erhebt. Der „Kanzler“ und sein PR-Manager, der Heerrufer, regeln die Redeordnung. Desperate Housewive Elsa erweckt kaum Mitleid und das, obwohl die Empörungsstrategie ihres Gegenspielers mit einem Nachdruck vorgetragen wird, die ihn nicht sonderlich sympathisch wirken lässt. Die Reden werden von einer kleinen Kamera die an der Rampe steht, live gefilmt. Das bringt nicht nur die Sänger näher heran, eine kleine Störung offenbart einen Aspekt, den der Ausdruck „mediale Übertragung“ immer überspringt: ein minimales Delay zwischen Singstimme und Bild offenbart, dass eine Übertragung immer eine Inszenierung ist, eine gemachte Realität, kein Abbild von „Wirklichkeit“. Lohengrin ist jemand, der diese Inszenierung aus dem effeff beherrscht. Mit einem Propagandavideo und Hostessen tritt Andrew Sritheran mit aller nur erdenklichen Obamahaftigkeit auf und hat mit seiner Inszenierung das Parlament schnell um den Finger gewickelt. Schon singen sie ihm nach aus den „Imagebroschüren“ mit dem Schwanenlogo wie die Betschwestern aus dem Gesangbuch und schnippsen mit wie James Last und seine Brüder. Schwupps ist die Luft raus aus der Pathospumpe und die Musik beginnt zu swingen: Gute Unterhaltung. Es wird eng um die Kehle.

Echte Menschen

Moses hält ihr Konzept durch und es geht erschreckend gut auf: Der ach so gute Lohengrin ist ein echter bad guy, der die Machthaber manipuliert und mit ihnen als Marionette an die Macht will. Die Heirat mit Elsa ist bloß Teil der Imagestrategie des geschäftigen Managers. Das gemeinsame Haus war ein echtes Wolkenkuckucksheim. Friedrich von Telramund muss sterben, weil er Beweise hat, die Lohengrin überführen würden. Er zieht sich daher zurück, nicht ohne seinen gleichgeschalteten Anhängern die nächste Marionette zu schicken.

Durchgehaltene Konzepte haben wir schon einige auf der Bühne gesehen. Das eigentlich wunderbare ist, dass die Figuren sich diesem nicht schematisch unterordnen müssen, sondern lebendige Charaktere bleiben, die im Laufe des Abends Entwicklungen durchleben, wo die Schwachen für einen Moment Stärke entwickeln und die Starken mit einem Mal hilflos dastehen.

Schnippsen gegen die Pathospumpe

Witzig ist der Abend obendrein: wenn Telramund seine „Zauber-Anklage“ als Schwanensee tanzt, Elsa sich ihren Retter als Origami-Schwan zurechtbastelt oder die vierte Wand durchbrochen wird. Es sind nie bloß „Regieeinfälle“, die Aktionen geben ihren Figuren eine neue Facette und sind vor allem musikalisch motiviert. Wenn die Jubelchöre von beiden Seiten über den Zuschauerraum hereinbrechen, dann tritt die fetzende Doppelchörigkeit zutage und jede Männerchordumpfheit ist verschwunden. Als Vorbild für ihre Lohengrin-Gestaltung galt der Regisseurin unter anderem Reinhard Mohn, dessen Bertelsmann-Stiftung – wie andere, ähnlich geartete Vereine auch – die Politik unseres Landes stark beeinflusst: para-parlamentarisch. Makaber, dass Reinhard Mohn am Tag der Premiere dieses Lohengrins verstarb. Aber vielleicht ein Indiz: Man darf die Wirksamkeit solcher Kunst nicht unterschätzen! Dass wir sie brauchen zeigt sich alleine daran, dass der Anschein der Harmlosigkeit, den der Claim erweckt, der über der Bühne prangt, gefährlich ist: „Menschen gestalten – Zukunft bewegen“ liest man da. Und in der Wohlproportioniertheit der Silben und der symmetrischen Bauweise kriegt man gar nicht mit, was hier gerade propagiert wird. Wenn man nicht wach bleibt, ist man am Ende selbst ein Schwanenkrieger.

Wenn nicht der Dirigent mein Gastgeber gewesen wäre, müsste ich jetzt natürlich seine Leistung in einem Absatz, nicht unter 30 Zeilen, loben. Weil er aber mein Gastgeber war, verbietet sich das und ich werde allein aus diesem Grund beim nächsten Mal ein Hotel nehmen.

Abendmahlszene

Abendmahlszene


Und wie befand Peter Konwitschny? Er nickte. Und dankte. Es sei schön zu sehen, dass es weiterginge. Er empfinde diese Inszenierung in vieler Hinsicht als eine Fortschreibung seiner Arbeit. Mein lieber Schwan, wer hätte das gedacht.

Neurasthenische Weiterreise

Wenn man schon mal da ist: Gleich weiter nach Magdeburg. In der Landeshauptstadt steht ein recht junger Bau: die alte Oper war 1990 abgebrannt. Doch für eine Landeshauptstadt brauchts offenbar einen Repräsentationsort und so baute man 1996 neu. Unter dem Dach des Theaters Magdeburg sind drei Sparten – Oper, Schauspiel, Tanz – Karen Stone hat in dieser Saison die (General!)Intendanz übernommen. Sie macht ein spannendes Programm an ihren zwei Spielorten, hat beispielsweise eine Reihe von jüngeren Kammeropern – gut, jung, aus den letzten fünfzig Jahren – am Schauspiel auf den Plan gesetzt.

Polyglotte Opernhaltestelle

Polyglotte Opernhaltestelle


An diesem Nachmittag wird im großen Haus Puccinis Gianni Scicchi mit einer buffa des vor allem als Filmmusikkomponisten bekannten Nino Rota kombiniert. Eine kurze Geschichte um einen Neurastheniker – der italienische Titel lautet tatsächlich „la notte d’un nevrastenico“ – der im Hotel gerne seinen Schlaf finden würde. Um die benötigt absolute Ruhe zu erzielen, hat er gleich die Nebenzimmer angemietet. Der geschäftstüchtige Portier macht ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung, indem er in einem Raum einen Geschäftsmann, im anderen ein Liebespaar unterbringt. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Rotas Musik verfügt über stilistische Wendigkeit wie der junge Schostakowitsch, gepaart mit dem Schmiss eines Leonard Bernstein. Seine Musiksprache zeichnet sich nicht durch große Eigenständigkeit aus, doch für die kurzweilige Kurzoper taugt’s: großer Spaß.
Ottos Schinkelstein?

Ottos Schinkelstein?

Dank einer einfallsreichen Inszenierung in einem überraschenden und stark „bewegten“ Bühnenbild ist der turbulente Gianni Scicchi ebenso kurzweilig und einige Sänger – vor allem Hale Soner als Lauretta und Iago Ramos als Rinucchio – überraschen mit ihren tollen Stimmen. Die gerade frisch, am 1. April angetretene Pressesprecherin des Hauses, als die sich meine Nachbarin entpuppt, rundet den Besuch mit einer Blitzführung durch Magdeburg ab. Man müsste mal wieder hin fahren.

Bauhausweisheit

Bauhausweisheit

Zugdurchfahrt

Und wenn Du, liebe Leserin, lieber Leser, zufällig Kritikerin oder Kritiker bist und jetzt immer noch glaubst, dass Du an Dessau vorbeifahren könntest, weil dort kein ICE hält oder lieber direkt nach Halle durchfahren möchtest, weil es da pittoresker ist, so hast Du Dich getäuscht. Dieses Theaterland ist schön an Ecken, von denen man vorher vielleicht noch gar nicht ganz genau wusste, wo sie sind. Das einzige Mittel dagegen ist: Hinfahren. Und dabei seine Vorurteile aufsuchen. Selbst auf die Gefahr, sie nicht wieder mit nach Hause zu nehmen.

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Musikjournalist, Dramaturg