Kulturhöhepunkte 2009

Was mir 2009, insbesondere bei den Donaueschinger Musiktagen, nicht gefallen hat, dürfte deutlich geworden sein. Aber es ist ja nicht so, dass Musikkritiker nach Langweiligkeiten und Enttäuschungen lechzen. Im Gegenteil. So gab es dieses Jahr im positiven Sinne herausragende Erlebnisse, die die Erinnerung an das kulturelle 2009 – freilich: Berlin-zentriert, aber ich wohne nun mal hier – überdauern werden.

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Ebenfalls ein Fehlschluss ist es, zu glauben, Musikkritiker in Berlin würden ausschließlich zwischen Konzerthaus und Philharmonie pendeln. Mein geschätzter Kollege Kai Luehrs-Kaiser beispielsweise berichtet nicht nur von Opernaufführungen, sondern auch vom Varieté-Theater und von Auftritten Helge Schneiders. Und das Schlimme ist: er ist auch noch in allen Bereichen kompetent – und unterhaltsam.

Deshalb möchte ich auch Erfahrungen in kulturellen Bereichen anführen, über die ich sonst nicht schreibe und (mit einer Ausnahme hier) auch nicht schreiben werde; Erfahrungen, die ich mir aber immer noch sehr gerne in Erinnerung rufe und die, wenn schon nicht näher erläutert, so doch hier zumindest erwähnt werden mögen.

KINO
Februar 2009
Doubt (Glaubensfrage)
Regie & Drehbuch: John Patrick Shanley
Mit Meryl Streep, Philip Seymour Hoffman, Amy Adams u. a.

KLAVIER
13. Februar 2009 (Berlin, Philharmonie, Kammermusiksaal)
Klavierabend mit Grigorij Sokolov
Ludwig van Beethoven: Sonate A-Dur, op. 2 Nr. 2
und Sonate Es-Dur, op. 27 Nr. 1
(„Sonata quasi una fantasia“)
Franz Schubert: Sonate D-Dur, D 850

Sokolov ist für mich mit seiner musikalischen Kompetenz, seinem Geschmack, seiner intelligenten und doch virtuosen Art Klavier zu spielen, zur Zeit – und natürlich nicht erst seit gestern – der größte Pianist weltweit. Am 13. Februar konnte man in dem letzten Satz der einmalig weltfernen Sonate D-Dur, D 850 von Schubert einen ganzen Saal weinen sehen. Auch die „Sonata quasi una fantasia“ Es-Dur Beethovens hatte ich so überzeugend noch nicht gehört – tatsächlich klang sie unter Sokolovs Händen so, als komponiere er sie just in dem Augenblick des Spielens. Einige Monate zuvor hatte ich Leif Ove Andsnes mit diesem von mir sehr geschätzten Stück erlebt. Eine solide, gute Interpretation. Aber kein Vergleich mit Sokolov. Sokolov am 13. Februar 2009: Der beste Klavierabend des Jahres, zugleich der beste, den ich je hörte – und es gab nicht gerade wenige Klavierabende in meinem Leben (500?). Ich freue mich schon auf den 25. März 2010. Dann wird Sokolov wieder in Berlin zu Gast sein. Das Programm steht noch nicht fest.

Grigorij Sokolov

Grigorij Sokolov

THEATER
17. Februar (Berlin, Maxim Gorki Theater)
Der Geisterseher
Nach Friedrich Schiller
Mit Paul Schröder und Jirka Zett
Regie: Antú Romero Nunes
Ausstattung: Julia Plickat
Dramaturgie: Nina Rühmeier

NEUE MUSIK
28. März (Berlin, Philharmonie, Großer Saal)
Konzert im Rahmen der MaerzMusik
SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Leitung: Sylvain Cambreling
u. a.
Mark Andre: …auf…
(Uraufführung der vollständigen Trilogie für Orchester)

Von Mark Andres …auf… hatte ich den dritten Teil bei den Donaueschinger Musiktagen 2007 gehört. Aber erst im Gesamtkontext konnte diese Trilogie – zumindest bei mir – die volle Wirkung entfalten. Andres Werk bewies, dass selbst mit Spieltechniken (Bartók-Pizzicato) und Gesten („Stuttgarter Crescendo“), von denen ich glaubte, sie gehörten endgültig in den Neue-Musik-Topos-Katalog, etwas möglich ist, was – obwohl Andre streng gläubig ist – auf undogmatische Art und Weise erschüttern kann. Es kommt eben auf das „Wie“ an. Und Andre schaffte es mit seinem Werk, eine existenzielle Haltung so zu musikalisieren, dass das …auf… seines Titels zu einem AUF! wurde – gleichzeitig zu einem komponierten Protokoll des Scheiterns, des aufbegehrenden Dröhnens, des zerknirschten Nachdenkens. Eine bleibende Erfahrung.

Mark Andre und Sylvain Cambreling nach der Uraufführung der ...auf...-Trilogie

Mark Andre und Sylvain Cambreling nach der Uraufführung der ...auf...-Trilogie

THEATER
9. April (Berlin, Maxim Gorki Theater)
Kaspar Häuser Meer
Von Felicia Zeller
Mit Britta Hammelstein, Bettina Grahs und Rebecca Klingenberg
Regie: Marcus Lobbes
Bühne: Christoph Ernst
Musik: Udo Selber
Dramaturgie: Josef Mackert

KLASSIK
11. September (Berlin, Philharmonie, Großer Saal)
Konzert im Rahmen des Musikfests Berlin
Chicago Symphony Orchestra
Leitung: Bernhard Haitink
u. a.
Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 15 A-Dur, op. 141

JAZZ
29. Oktober (Berlin, Quasimodo)
Mike Stern Band
Mike Stern, Gitarre
Randy Brecker, Trompete
Chris Minh Doky, Bass
Dave Weckl, Schlagzeug

THEATER
20. Dezember (Berlin, Schaubühne am Lehniner Platz)
Dritte Generation
work in progress
Regie: Yael Ronen
Eine Koproduktion der Schaubühne mit dem Habima National Theatre of Israel und der Ruhrtriennale 2009 im Auftrag von Theater der Welt 2008 Halle

Ein Abend zum Thema Holocaust, Schuld, Vorurteil, Israel, Palästina – und, aus meiner Sicht, ein Abend zum Thema: Wie man heute noch politisches Theater macht, ohne peinlich oder altbacken zu sein. Ein befreiender Abend. Ein Abend, der aber auch zeigt, dass es auch die dritte Generation in Israel wohl noch lange Zeit nicht schaffen wird, in Frieden zu leben. Tolle Schauspieler mit viel Witz und Improvisationstalent (vor allem der deutsche „Moderator“ ist zum Heulen komisch, wenn er sich alle paar Minuten für alles und jeden entschuldigt…), tolle Ideen. Und danach: ein Dokumentarfilm zur Entstehung dieses internationalen Projekts mit israelischen, palästinensischen, arabischen und deutschen Schauspielern. Daran anschließend: eine Diskussion mit einigen der Beteiligten. Dieses (von Politikern Israels teils schon boykottierte) Stück wurde bereits an verschiedenen internationalen Orten präsentiert und wird wohl noch in einigen anderen Ländern gezeigt werden. Würden es auch die verfeindeten Parteien in Israel sehen, würde das eine Annäherung bedeuten. Denn nur mit Lachen (und davon gibt es eine ganze Menge an diesem Abend) kann man diesen überaus ernsten Themen, diesen grotesken Vorgängen dort ehrlich und aufklärend begegnen.

Dritte Generation - in der Schaubühne am Lehniner Platz

Dritte Generation - in der Schaubühne am Lehniner Platz

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.