endzeit-sonate

für die kommentarspalte doch viel zu lang, was theo geißler hier eingestellt hat. dem gebührt mehr raum. er sei ihm hier gewährt. eintrag zurückdatiert.

Hubert Stuppner
Endzeit-Sonate

Werbung

Frankenstein
oder
Die Minnesänger des Untergangs
Eine Satire, ein Totentanz, eine Parabel

1999 ConBrio Verlagsgesellschaft

Einleitung
Ecce Homo: Frankenstein!

Dieses Jahr einmal nicht nach Donaueschingen, sagte ich mir, als
ich vergangenen Herbst, unmittelbar vor Antritt der Fahrt zu den
berühmten Donaueschinger Musiktagen, deren Besuch für meine
musikalische Kunst- und Geistesverfassung zu einem wahren, alljährlich
wiederkehrenden ästhetischen Bedürfnis geworden war,
zufällig und ganz nebenbei im Kulturteil einer mir bis dato unbekannten
„Schwarzwälder Chronik“ von der Eröffnung eines modernen
„Kur- und Krankheitszentrums für leidende zeitgenössische
Komponisten“ las. Dieses Sanatorium sei, so der Chronist, am Ende
eines unglücklichen musikalischen Jahrhunderts in bezeichnender-
Weise vis-à-vis zum exzessivsten musikalischen Dionysos-Fest der
Neuzeit, eben jenen Donaueschinger Musiktagen, die alljährlich
vom Südwestfunk Baden-Baden veranstaltet werden, für alle jene
Komponisten eingerichtet worden, die aus der „musikalischen
Krankheit dieses Jahrhunderts, der Neurose eines kontroversen und
schockierenden Kunst-Verständnisses nicht mehr ein und aus wußten
und physisch wie musikalisch dem Wahnsinn verfielen.“


Diese Musikklinik, las ich, war in bezeichnender Weise just im
alemannischen Dreiländer-Eck, „wo die Inzidenz an geistiger und
künstlerischer Exzessivität traditionell die höchste ist“, auf den Namen
„Schöneberg“ getauft worden, einerseits, um durch den
Wohlklang des Namens, der auf eine liebliche Anhöhe schließen
ließ und den unvergleichlichen Reiz des Schwarzwaldes hervorhob,
„die besorgte öffentliche Meinung in der Badener und Freiburger
Region über die Anwesenheit der musikalischen Exzentriker zu beruhigen“
und andererseits „die Kunst- und Geistesgefährdeten, die
sich in diese Klinik begaben, über die wahre Bestimmung dieses
Etablissements als Verrücktenanstalt und über die Aussichtslosigkeit
einer Heilung jedweden musikalischen Wahnsinns im unklaren
zu belassen.“
Für musikalisch Gewitzte, so der Chronist, sei es freilich klar, daß der
Name „Schöneberg“ eine Anspielung auf „eine der meist verbreiteten
musikalischen Kunst- und Geistesschwächen dieses Jahrhunderts“
enthielt und jene „perniciöse Dodekaphonitis“ meinte, die im Zwanzigsten
Jahrhundert die musikalische Gesundheit von Grund auf erschüttert
und zahllose Komponisten, vor allem aus der zweiten und
dritten Generation, „ins Unglück und in den musikalischen Wahnsinn
getrieben“ habe.
Der Verfasser dieses obskuren und offensichtlich erzreaktionären
Berichtes vermied es zwar, an die für jedes normale Empfinden ekelerregende
Assoziation von „Entarteter Kunst“ in bezug auf die Musik
der Wiener Schule anzuknüpfen, doch konnte man aus dem Zusammenhang
unschwer erkennen, daß dieses Sanatorium, sofern es
tatsächlich existierte und nicht etwa die bösartige Erfindung eines
perversen Phantasten war, in erster Linie den nervlichen Folgeerscheinungen
der radikalen Dodekaphonie schönbergscher Prägung
vorbehalten war, all jenen „avantgardistischen Affektionen“, die „im
Zustande der Normalität“ auf den Donaueschinger Musiktagen vorgestellt
wurden und „auf der Nachtseite der zur Krankheit degenerierten
Kunst“ eben in diesem Sanatorium, gleichsam in einer Art
Dependance des Gesunden vom Kranken, des Normalen vom Abnormalen,
des Ordinären vom Verrückten und umgekehrt, ihr trauriges
wiewohl artistisches Ende fanden.
Die Berichterstattung ging vorsichtshalber auf die Aspekte der vermeintlichen
institutionellen und psychologischen Wechselbeziehung
zwischen den Musiktagen und dem Sanatorium nicht näher ein, doch
war es klar, daß auf Grund der neuen Gegebenheiten möglicherweise
die eine Institution nicht ohne die Existenz der anderen würde
auskommen können, in dem Sinne, daß sich künftighin kein Normaler
am Festival beteiligen brauche, ohne daß ihm im Falle eines
epochalen Mißerfolgs für die restliche Zeit seines Lebens ein Platz im
Sanatorium sicher sein würde und andererseits keinem Kunst- und
Geistesexzentriker, der produktiv genug wäre und unerhörte neue
Partituren schrieb, eine Uraufführung in den Donaueschinger Musiktagen
verweigert werden könnte.
Auf diese und ähnliche Zusammenhänge konnte man aus jenem
Teil dieses wahnwitzigen Berichtes schließen, wo der Artikelschreiber
„die Rolle des deutschen Musik- und Sozialstaates“ würdigte, der,
wie er hervorhob, einerseits die Neue Musik in diesem Jahrhundert
wie kein anderer in der Welt förderte und andererseits „auf sozialer
Ebene durch die Unterstützung eines Sanatoriums für die gescheiterten
zeitgenössischen Komponisten nun alles tut, um die musikalischen
Kunst- und Geistesexzentriker, die er durch die Förderung des
exzessivsten ästhetischen Wahnsinns der Geschichte hervorgebracht
hat, sozial abzusichern und psychologisch zu betreuen.“ „Deutschland“,
stand da nicht ohne vaterländische Genugtuung geschrieben,
„ist auf Grund seines hohen Bruttosozialproduktes ein musikalischer
Wohlfahrtsstaat ersten Ranges, der nach der Mobilmachung in der
modernen Musik, die jener in beiden Weltkriegen an propagandistischer
Schlagkraft nicht nachsteht, nun alles tut, um die Schäden der
ideologischen Feldzüge um Darmstadt und Donaueschingen wiedergutzumachen
und auf soziale Weise zu kompensieren.“ Die Errichtung
eines Musik-Sanatoriums sei daher das beste Beispiel für dieses
Engagement und „ein Zeichen der Pietät für alles Leid, das die Avantgarde
dieses Jahrhunderts der sogenannten Klassischen Musik durch
die Perpetuierung der ideologischen Exzesse angetan hat.“ Dieses
Sanatorium, das außer seiner Funktion als moderne musikalische
Therapieeinrichtung auch „als musikpsychologische Forschungsstätte
für alle Varianten der Abnormitäten neuer Musik“ gedacht sei,
solle deshalb auch „als Mahnstätte für die Folgen der grenzenlosen
ästhetischen Libertinage dieses Jahrhunderts“ gelten und gleichzeitig
das Endstadium der an den musikalischen Verrücktheiten gealterten
Avantgarde markieren.
Ich muß gestehen, daß mich die Wahnsinns-Idee einer Zwölfton-
Klinik in Verbindung mit der historisch durchaus nachvollziehbaren
Endzeitstimmung an der Wende zum dritten Jahrtausend, auf Grund
der endgültig gesicherten Freiheit des modernen schöpferischen Individuums
und der vollkommenen Verdrängung jedweden Tabus von
Schock und Skandal, zunächst eher belustigte als befremdete. Doch
mein Ergötzen verwandelte sich urplötzlich in Entsetzen, als im
Laufe des Berichtes der Name des Gründers und Leiters dieser wahnwitzigen
Institution genannt wurde, jener berühmt-berüchtigte
„Musica Negativa“-Spezialist H. C. Frankenstein aus Ingolstadt, seines
Zeichens Diplom-Dodekaphonist und Professor für musikalische
Stoffwechsel-Erkrankungen im Bereich der von schwarzer Galle
affizierten Seele. Ich kannte Frankensteins nihilistische Methode der
negromantischen Musikanalyse von seinem viel diskutierten „Lexikon
der musikalischen Negativität“ und von einer Reihe negativer
Komponisten-Monographien her, in denen er mit Hilfe nekrophiler
Katalogisierungs-Verfahren den Beweis erbringen wollte, daß auf der
Klassischen Musik von der Renaissance bis zur Gegenwart ein Fluch
laste, der jedes gelungene Musikstück von Anbeginn mit einem, wie
er sagte, „transcendentalen ästhetischen Unglück“ begleite. Ich wußte
auch, daß er mit seinem wollüstigen Interesse für die Anatomie des
Makabren, offensichtlich das Erbe seines berühmten Vorfahren Baron
Victor von Frankenstein, das Morbide und Marode an die oberste
Stelle der „Wissenschaft vom Schwarzen“ stellte, daß er Gräber
von Komponisten aufbrach, Leichen exhumierte oder umbettete und
kranke musikalische Gehirne sezierte; ich kannte auch seine „Neo-
Doktrin des Monströsen“, derzufolge er sich von seinem berüchtigten
Ahnherrn aus Genf darin unterschied, daß er nicht mehr Tote ins
Leben zurückholte, sondern ganz im Gegenteil „die lebenden Komponisten
zum Tode erweckte“. Ich hätte es mir jedoch nie und
nimmer träumen lassen, daß dieser in Musikkreisen zwar heftig
umstrittene, aber doch hoch angesehene Schwarzkunst-Apologet, der
in seiner Jugend als Komponist mit dem Anspruch angetreten war,
die gesamte europäische Tradition mit einem einzigen, unvollendet
gebliebenen Werk zu Ende zu komponieren, auf solcherart zwielichtige
und fragwürdige Weise, noch dazu mit Unterstützung der
öffentlichen Hand, sein Lebenswerk würde krönen wollen. Mein Entsetzen
und meine Neugier wuchsen ins Unermeßliche, als ich beim
Weiterblättern, am Ende des Berichtes, auf ein aktuelles Gespräch
stieß, in dessen Verlauf Professor H. C. Frankenstein dem Redakteur
des Artikels auf allerlei naheliegende Fragen über Zweck und Ausrichtung
des „Schönebergschen Musik-Sanatoriums“ Rede und Antwort
stand und dabei mit Schauer-Begriffen wie „musikalisches
Golgatha“, „avantgardistische Schädelstätte“, „Endstation für die Aussätzigen
der Negativität“, „Eschatologie des Stillstandes“ und „Asyl
für Sakramentales Schwarzes“ das Düstere und Perverse seiner nekrophilen
Veranlagung offenbarte und unmißverständlich zur Schau
stellte. Zwar bemühte er sich nach außen um einen sachlichen und
in Maßen verständlichen Umgangston, nicht nur, um sich in der Öffentlichkeit
günstig zu präsentieren, sondern auch um die Vernünftigkeit,
ja Notwendigkeit seines Unternehmens, nicht zuletzt mit Blick
auf die staatlichen Geldgeber, zu legitimieren, doch konnte man unschwer
hinter der Maske seiner pseudo-wissenschaftlichen Formulierungen
den Zynismus des Sadisten erkennen, der mit dem Leid
der Komponisten mehr spekulierte, als daß er sie zu heilen in Aussicht
stellte. Auf die naheliegende Frage des Redakteurs, wie denn
überhaupt ein Musiksanatorium, das unweigerlich die Erinnerung
an totalitäre Psychiatrie und „Archipel Gulag“ evoziere, in unserer
Zeit zu rechtfertigen sei, antwortete er ausweichend, indem er sich
über allerlei abstruse „Todestrieb“-Theorien, „Schmerzens-Paradoxe“
und „Leidens-Apoplexien“ ausließ, mit deren Hilfe er den zu erklärenden
Sachverhalt in der gewohnten Weise im schwarzen Rauch
seiner Worte erstickte und sich dabei sophistisch aus der Affäre zog.
Auf ähnlich diabolische Weise beantwortete er die Frage, ob man ihn
denn angesichts der humanen Herausforderung seines Unternehmens
als einen „guten Menschen“ bezeichnen könne, mit dem bissigen
Schönberg-Zitat, er halte sich eher für einen „unbarmherzigen Samariter“,
der den leidenden Komponisten am wirksamsten damit
diene, daß er sie für immer aus dem Verkehr ziehe und sie in der so
veranlaßten negativen Existenz innerhalb der Mauern eines Sanatoriums
für weitere negative musikalische Experimente gebrauche. Man
dürfe ja nicht vergessen, daß der miserable Zustand, in dem sich die
Klassische Musik am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts befinde,
medizinische und psychiatrische Experimente geradezu herausfordere,
man brauche darüber keine Krokodilstränen zu vergießen oder
sich pietistisch den Kopf zu zerbrechen, man habe es ja schließlich so
gewollt. Daß im übrigen der endgültige Zusammenbruch der Klassischen
Musik nur noch eine Frage der Zeit sein könne, sei ja doch
klar. In diesem Stadium der Entwicklung müsse man es deshalb als
das einzig Richtige ansehen, die Krankheit nicht noch länger zu verschleppen,
sondern sie durch „Musica-Negativa-Pharmaka“, durch
allerlei „ästhetische Verneinungs-Strategien“, durch „Ligaturen des
Stillstands“ musicaliter und physicaliter zu beschleunigen, damit, zur
Verklärung des Untergangs, noch ein letztes Mal die „Blumen des
Bösen“ blühen.
Mir graute es bei diesen Worten. Unwillkürlich erinnerte ich mich
an einen weiteren seiner skandalösen Aussprüche aus früheren Jahren,
als er auf „Musica Negativa“-Veranstaltungen Land auf Land ab
das Ende der Klassischen Musik voraussagte und dazu immer wieder
seinen diabolischen Refrain sprach: „Von der Negativität sind sie ausgegangen,
zur Negativität kehren sie wieder zurück.“ So wurde mir
allmählich klar, daß hier keine humane Idee von Therapie am Werk
war, sondern wahrscheinlich der versteckte Versuch, das musikalische
Leid in Endzustände zu treiben, um es, mit gestärkter Immunität,
für ein neues Negatives zu disponieren und ewig fortzupflanzen.
Aus diesem Grunde wohl, dachte ich mir, reist er unermüdlich von
Festival zu Festival und sammelt verkrachte kompositorische Existenzen
ein, die er dann, zur besseren Indoktrinierung, mit Exzessivitäts-
Cremen, Radikalitäts-Pudern, Zerrissenheits-Säuren traktiert,
in seinem Sanatorium interniert und schlußendlich als freie kreative
Individuen liquidiert: alles zur Vervollkommnung seiner apokalyptischen
„Disharmonia Mundi“. Sein negativer Zynismus war in der Tat
nicht zu überbieten. „Je mehr eine Musik mich stört, um so mehr
zieht sie mich an“, sagte er. „Je verrückter und perverser Komponisten
sich aufführen, um so normaler erscheinen sie mir.“
Ich dachte mir, daß sein Drang ins Paroxystische, die Kehrseite
seiner eigenen expressiven Impotenz, tatsächlich grenzenlos sei. Er
sprach so ostinat von den „Strategien der negativen Steigerung“,
dozierte so hartnäckig von der „Maximierung der endzeitlichen Exzesse“
und faselte unentwegt von der „Ästhetik des Zusammenbruchs“,
daß mir beinahe übel wurde. Auf die Frage, ob es denn
gegen sein Unternehmen von den zeitgenössischen Musik-Verbänden
und vom organisierten musikalischen Verbraucherschutz nicht
Proteste hagle, gab er zur Antwort, daß ihn die sogenannte öffentliche
Meinung vollkommen kalt lasse und daß ihn noch weniger das
zeitgenössische Publikum kümmere. Dieses sei sogar als eine Art Störfaktor
anzusehen, ein „lebendes Mißverständnis“, das sich auf peinliche
Weise, durch die ungebührlichen Beifalls- oder Unwillens-Äußerungen
zwischen ihn und seine Komponisten stelle. Er äußerte
sich auf die abfälligste Weise über die sogenannten „Tage der Neuen
Musik“ und fand vor allem für jene Kritiker, die alljährlich wie „avantgardistische
Kreuzfahrer das Heilige Land der Neuen Musik erobern“,
kein gutes Wort. Er spottete über die pluralistisch eingestellten Modernitäts-
Rezensenten und über die „widerliche Kakophonie-Begeisterung
der deutschen Feuilletonisten“, die als „Redakteure des Unerhörten“
zu Dutzenden die Festivals der Neuen Musik bevölkerten
und sich „munter zwischen schlecht komponierten Stücken wie durch
die Spielbuden eines irren musikalischen Vergnügungsparks tummelten
oder auf der Achterbahn der Stile wie unartige Kinder Stück-auf
und Stück-ab rutschten“. Er beschimpfte sie obendrein als „geile Erlebnis-
Touristen“, als „aufgeklärte Jahrmarkt-Gourmets“, als „postmoderne
Alles-Fresser“ und „heruntergekommene Wohlstands-Krüppel“,
die alles Zeitgenössische gierig hinunterschluckten und ihren
Hunger nach Neuem dennoch nie stillten. „Sie lieben das Groteske ja
nicht um seiner Einmaligkeit willen oder wegen seines makabren
Apriori an Boshaftigkeit“, sagte er, „sondern weil sie die eigene spießerhafte
Normalität nicht zur Kenntnis nehmen wollen.“ Er, für
seinen Teil, plädiere für die totale kompositorische Enthaltsamkeit
und sei vom Vorteil, musikalisch ein Vegetarier zu bleiben, zutiefst
überzeugt. Er preise die Originalitäts-Potenz der Androgynen, die
Wahnsinns-Kapazität der Unzeitgemäßen, das negative Talent der
Versager. „Ihre Originalität und Oppositionalität“, sagte er, „ist in der
Bereitschaft zum Scheitern und zum musikalischen Selbstmord die
höchste.“ Eine Idee, die sich im Augenblick des Entstehens nicht
auch selbst negiert, betonte er, ist es nicht wert, im Werk weiterzubestehen.
Aus diesem Grunde fiele es ihm auch schwer, irgend ein
Stück zu nennen, das für alle Zeiten als ein Meisterwerk gelten könnte.
Er rühmte den Wert des „ungeborenen musikalischen Lebens“ und
war der Ansicht, daß die größten Werke diejenigen sind, welche nie
geschrieben werden. „Im Augenblick des Zerfalls“, sagte er, „werden
im radikalen Werk ungeheure negative Potentiale frei, die das Herz
des progressiv disponierten Hörers höher schlagen lassen.“ Er habe
übrigens zur Messung dieser perversen Energien ein ,,Stetoskop der
Negativität“ entwickelt, dazu einen musikalischen „Wahnsinns-Seismographen“,
den er in Anerkennung der Verdienste um die negative
Sache der Kunst nach seinem Assistenten und Gefolgsmann Doktor
Scardanelli benannt habe. Mit Hilfe dieser nach oben offenen
„Scardanelli-Skala“, sagte er, sei er nun in der Lage, selbst die kleinsten
Erschütterungen der Negativität nachzuweisen und tabellarisch
festzuhalten. Doktor Scardanelli habe als „Adjutant des Negativen“
wahrlich Großes geleistet: seine „Werkverzeichnisse des Bösen“ seien
die vollständigsten und gründlichsten, die man sich in der zeitgenössischen
„Nekro-Musikologie“ vorstellen könne. Die „dämonische
Hermeneutik“ und die „Metaphysik des Makabren“ seien ohne seine
Mithilfe und ohne die regelmäßigen Blutproben, die er den herun-
tergekommenen und gescheiterten zeitgenössischen Komponisten
entnehme, undenkbar. Hier sei, ohne falschen Stolz gesprochen, tatsächlich
Pionierhaftes geleistet worden.
Als der Redakteur ihn schließlich fragte, ob man denn allen Ernstes
in der Unterscheidung des Negativen so sicher sein könne, wich
H. C. Frankenstein der Frage aus und antwortete, das sei „Sache des
absoluten negativen Gehörs“. Negative Komponisten verhielten sich
grundlegend anders als positive. Während nämlich die Verrückten
auf die wahnsinnigen Stoffe hereinfielen und von ihnen verfolgt
würden, suchten die Normalen positive Stoffe aus und entfernten
sich von ihnen wieder nach Belieben. So einfach sei das mit den
beiderseitigen Aspekten des negativ und positiv besetzten Wahnsinns.
Je mehr ich mich in die Lektüre dieses obskuren Artikels mit der
zwielichtigen Frankensteinschen Postille vertiefte, um so stärker
wurde in mir der Zwiespalt, ob ich mir den Besuch einer solchen
Klinik aus Anstand überhaupt würde leisten können, oder ob es nicht
doch besser wäre, jeder Vereinnahmung und Identifikation mit fragwürdigen
faschistoiden Zielsetzungen von Macht und Manipulation,
zumal in der manichäischen Konfrontation des Guten mit dem Bösen,
des Gesunden mit dem Kranken, aus dem Wege zu gehen. Allein
die Unerhörtheit des Unternehmens und der dunkle Drang, der
uns zu den Nachtseiten des Lebens, zu Wahnwitz und Wollust hinabzieht,
ließen in mir den Entschluß reifen, diesem wie auch immer
entarteten musikalischen „Zauberberg“ einen Besuch abzustatten.
Die Seele ist wie die Neugier ein Faß ohne Boden: sie will angesichts
der vor ihr aufgerichteten Geheimnisse und Tabus mehr und immer
mehr wissen. Wer zu ihr „A“ sagt, muß zu ihr auch „B“ sagen, dachte
ich mir. Nicht einmal Herzog Blaubart, der in seinem Schloß hinter
sieben verriegelten Türen die schrecklichsten Geheimnisse verborgen
hielt und keinen Menschen dahinterblicken ließ, hatte gegen
diese Neugier ein Mittel, sein sorgsam gehütetes Grauen zu schützen.
Also, sprach in mir eine dunkle Stimme, fährst du dieses Jahr nicht
nach Donaueschingen, wo, wie immer, lauter erfolgreiche zeitgenössische
Komponisten auftreten, sondern gehst ins „Schönebergsche
Musiksanatorium“, in dem angeblich gescheiterte Avantgardisten über
den Zustand der Neuen Musik tiefere Auskünfte geben als alle großsprecherischen
Programmtexte der Musiktage zusammen. Es kann
ja tatsächlich sein, dachte ich mir, daß die normalen Komponisten
die „musikalische Kunst- und Geistesgefährdung“ nicht ertragen, daß
sie sich alles Unregelmäßige und Gesetzwidrige vom Leibe halten,
um ihre sogenannte musikalische Gesundheit zu bewahren, während
die vermeintlichen kranken Avantgardisten alles tun, um mit
der kreativen „Kunst- und Geisteskrankheit“ in Berührung zu kommen
und so ihr unglückliches künstlerisches Dasein auf endgültige,
aber ästhetisch eindrucksvolle Weise verwirken. Während in Donaueschingen
in der Mehrzahl die sogenannten erfolgreichen Komponisten
auftreten und viele Worte machen, die Rauch sind, dachte ich,
sagen die gescheiterten Komponisten meistens gar nichts und lassen
statt dessen ihre kranke Kunst sprechen.
Es war nicht leicht, über ungenügend beschilderte Straßen und
schlecht markierte Waldwege, zwischen spärlich belichteten Laubwäldern,
im trügerischen Licht des Spätherbstes, zu dem Schönebergschen
Musiksanatorium, unweit des Städtchens Donaueschingen,
vorzustoßen. Dazu kam, daß sich wegen der großen Dichte an
Sanatorien und Kliniken im Schwarzwald die Nachfrage bei den
Ortsansässigen besonders schwierig gestaltete. Jeder der Gefragten
kannte zwar jemanden, der über das neu erbaute Etablissement
Bescheid wußte, aber dieser Jemand verwies regelmäßig auf einen
anderen Jemand, der wiederum nichts Genaues wußte und seinerseits
auf einen Dritten verwies, mit dem es aber nicht minder schwer
war, die Heilanstalt zu lokalisieren und in der Gegend ausfindig zu
machen. Alle Befragten legten ein seltsam verängstigtes und geheimnisvolles
Gebaren an den Tag, einige schlugen das Kreuz, andere
stießen Gebete und Verwünschungen aus, wieder andere
suchten erschrocken das Weite. Die Mutigsten unter ihnen gaben
warnende Hinweise und konnten es nicht lassen, sich in spöttischer
Weise über meine Neugier auszulassen: „Ach, die Frankenstein-Stiftung?“,
fragten die einen, „Ja natürlich, Blaubarts Klangschloß!“,
spotteten die anderen und „Bewahre uns Gott vor dem Leibhaftigen!“,
sagten sie alle.
Ich verstand aus der Steigerung der Unruhe unter der Bevölkerung
und der Dichte der bösen Titulierungen, von denen „Hypochonder-
Freaks“ und „Elektronische Radaumacher“ noch die
harmlosesten waren, daß ich mich in unmittelbarer Nähe zur
Frankensteinschen Klinik befand. So war ich noch vor Einbruch
der Dunkelheit am Ziel.
Das „Schönebergsche Musiksanatorium“ präsentierte sich von seiner
Konstruktion und Anlage her zunächst gar nicht wie eine krankheitsübliche
Heilanstalt, denn es erschien funktionell und ästhetisch
nach den Prinzipien der rationalistischen Bauweise organisiert, in
der Artikulation des Komplexes in zwölf voneinander unabhängigen
Pavillons offensichtlich auf die metaphorische Vergleichsebene der
Schönbergschen Zwölfton-Reihe anspielend.
Ich ging, bevor ich um die Besuchserlaubnis ansuchte, unschlüssig
und mit äußerst zwiespältigen Gefühlen einige Male um das Gebäude
herum und vergewisserte mich der Kapazität und Ausdehnung
der gesamten Anlage, um mich sowohl im architektonischen
als auch im akustischen Bezug auf die höllische Dimension der Göttlichen
Komödie einzustellen, die ich nun, von den ambivalenten
Gefühlen aufs äußerste angespannt, zu durchschreiten mich anschickte.
So sah ich von weitem, wohl unter dem Eindruck des Gelesenen
und von unsichtbarer schwarzer Magie gelenkt, wie in einem verzerrten
Panoptikum, alle Endzustände von Musik auf einem Male,
sah durch die Gitter der Heilanstalt mondsüchtige, bleiche Gestalten,
Tonkünstler mit verengten Brustkörben, sah schwindsüchtige
Schlafwandler, von klanglicher Askese abgemagerte Artisten, sah rachitische
Komponisten in müder, dahinschleifender Pose, Künstler auf
antriebsgehemmten, paralytischen Beinen, und hörte eine Musik, deren
Töne vor lauter Gehirnpressen nicht mehr ansprach, Klänge, denen
man eine mehrstündige Narkose anmerkte und die erst nach ewigen
Fermaten wieder zum Leben zogen. Ich hörte Akkorde unter ästhetischer
Cortisonbehandlung, Strukturen voller Überspanntheit und
Verunsicherung, und hörte röchelnde Melodien und Harmonien voll
fiebernder Luft. Ich merkte, wie diese Musik, die offensichtlich rasch
gealtert war und also nicht mehr lange zu leben hatte, im Vergleich
zur gesunden doppelt so viel Zeit brauchte, um sich zu bewegen oder
einen Gedanken auszudrücken. Ich dachte mir, daß diejenigen, die
solche Töne produzieren, in bezug auf die gewöhnliche Musik tatsächlich
Ver-Rückte sind, denn während die sogenannten normalen Komponisten
die Zeiten schwer finden und also eine leichte Musik schreiben,
finden diese Tonkünstier die Zeiten eher leicht und schreiben eine
vollkommen unverständliche und schwer verdaubare Musik.
Während ich solches und ähnliches bedachte, las ich an der Anschlagstafel
vor dem Sanatorium viel Aufschlußreiches über Entste-
hung und Ausrichtung der unvergleichlichen Institution. Schwindsüchtige
Schwanengesänge, dachte ich, die Aura des Letzten und
Endgültigen liegt über der Musik, die im Sterben liegt. Über der Gehirnkatastrophe
der Neuen Musik, die ihr Alter erreicht hat, kreist
der Engel des Untergangs. Im Schönebergschen Musiksanatorium,
las ich, waren grundsätzlich keine Kassen-Patienten zugelassen, weil,
so die knappe Begründung, deren geistige und ästhetische Langzeitbehandlung
und Observation bei der Einlieferung von vornherein
feststehe und also keine Versicherung der Welt bereit wäre, bei solchermaßen
fixierter Aussichtslosigkeit nur einen Pfennig zu bezahlen.
An besagter Anschlagstafel vor dem Sanatorium waren für die Insassen,
Woche für Woche, besondere, von der Sanatoriums-Leitung
ausgearbeitete und von höchster Stelle bewilligte „Wahnsinns-Fortbildungskurse,
Seminare der Irrungen und Vorträge über spezielle
Arten der zeitgenössischen Kunst- und Geisteskrankheiten“ angekündigt,
die als eine Art Prolegomena der Metaphysik des musikalischen
Wahnsinns gedacht waren und den Besucher in bezug auf die
abstoßendsten musikalischen Affektionen wohlwollend und verständnisvoll
stimmen sollten. Die Verrückten-Seminare dieser Woche waren
in spezialistischer Weise den neurotischen Störungen des zentralen
musikalischen Nervensystems vorbehalten, insbesondere der
„hirnrissigen Disjunktion von Tonhervorbringungs-Aktionen“, sowie
den verschiedenen Formen der bewußtseinsgespaltenen Aufsplitterung
des Klangbildes. Dieses „Thema generale“ betraf im einzelnen
die Krankheitsbilder der musikalischen Phlegmatiker, deren agogisches
Antriebsvermögen gestört war, die strukturellen Anankiker, die
an einer schweren Form der kompositorischen Zwangsneurose litten,
die Phantasie-behinderten, an musikalischer Insuffizienz leidenden
Ton-Spastiker, sowie die große Gruppe der Epileptiker, die bei
der geringsten musikalischen Aufregung dynamische Tobsuchtsanfälle
bekommen. Die Woche zuvor, das konnte man am Rande der
Tafel noch sehen, waren besagte Wahnsinns-Seminare der Gruppe
der innerlich Gehörgeschädigten vorbehalten gewesen, den
musikalischen Folgeerscheinungen der seelischen Apathie sowie der
Regression der Repetitionskünstler unter musikpathologischen Gesichtspunkten.
Die Woche danach, das stand auch schon fest, würde
das Schönebergsche Musiksanatorium in Absprache mit den Donau-
eschinger Musiktagen „Das Wahnsinns-Phänomen der klanglichen
Gehirnerweiterung“ abhandeln und neben der pathologischen Clusterbildung
auch die daraus resultierende kompositorische Megalomanie
untersuchen, die, wie zu lesen war, „in besorgniserregender
Weise in den umfangreichsten und schwärzesten Partituren der jüngsten
Vergangenheit“ zum Vorschein gekommen sei.
In der Halle des Sanatoriums, die für alle, Kranke, Therapeuten
und Personal, eine Art Aufenthaltsraum und multimedialen medizinischen
Treffpunkt darstellte, konnte man zahlreiche skurrile Figuren,
ästhetische Quacksalber, akustische Medizinmänner und linkischdiabolische
Psychiater beobachten, die unter einer ständig gerunzelten
Stirn, mit lächerlich affektierter Gestik so taten, als müßten sie
alleine und in letzter Instanz über den Ernst der Lage beraten, daneben
obscure Oberärzte und Primare, die in aseptisch weißen Kitteln
mit irgendwelchen Instrumenten hantierten, so als gelte es, eine fatale
Entscheidung über folgenreiche neuromusikalische Eingriffe zu
treffen oder über die Entsorgung ansteckender klanglicher Materialien
eine Verfügung herauszugeben. Ich konnte mich in dieser Halle
der neurotischen musikpsychiatrischen Eitelkeiten selbst vergewissern,
wie hilflos die sogenannten Primare an neuartigen Diagnose-
Methoden arbeiteten, wie kompliziert sich die von ihnen entwickelten
Verfahren der Isolierung von unbekannten pathologischen Tonkomplexen
trotz des Gebrauchs von neuartigen Ton-Sonden und
Klang-Kathedern gestalteten. Ich sah, wie dilettantisch sie mit irreführenden
wissenschaftlichen Bezeichnungen umgingen, mit Tricks
hantierten und nichtsdestotrotz diesen offensichtlichen neuro-musikalischen
Dilettantismus mit der Geste des Unbedingten und Endgültigen
begleiteten. Das sind wohl jene Neurosen-Spezialisten und
musikalischen Wahnsinns-Pfuscher, dachte ich mir, die einige nicht
ohne Ironie als „Verweigerungs-Deuter“ und „ästhetische Abgrunds-
Studiosi“ bezeichnen! Sie gebrauchten durchwegs lateinische und
griechische Formulierungen, wodurch sie sich offensichtlich auf hygienische
Weise von dem musikalischen Leiden distanzierten und
sich jede Möglichkeit der musikalischen Ansteckung vom Leibe hielten.
Die kritischen psychiatrischen Seelenkundler sind, wenn sie sich
wissenschaftlich auf die musikalische Neurose einlassen, nicht nur
die inkompetentesten und gefühllosesten Musikverbesserer, dachte
ich mir, sondern auch die größten Fehldiagnostiker, die es in der ge-
samten Disziplin der Kunst- und Geisteskrankheiten gibt. Diese ästhetisch
Dreimalklugen, die selbst nie einen musikalischen Nervenzusammenbruch
erlitten haben, die das musikalische Leid nur aus
psychiatrischen Fachbüchern der Ästhetik des Untergangs kennen,
besitzen selbst keinen Funken Empathie, die sie zum Mitleiden, zum
Einfühlungsvermögen mit dem musikalischen Schmerz und zur Solidarität
mit den musikalisch Gescheiterten befähigte. Ihr ganzes Leben,
dachte ich, haben die hochsensiblen Komponisten Angst vor
dem geistigen und ästhetischen Zusammenbruch gehabt und sind
nun, nach der schmerzlichsten musikalischen Gehirnkatastrophe, in
die Hände dieser psychiatrischen Pfuscher gefallen, die sie, anstatt
mit einfühlsamen, ganzheitlichen Methoden zu heilen, mit skrupellos
erstellten Tabellen und zynischen Psychogrammen bloßstellen und
kritisch ruinieren.
Ich wandte mich zum Zwecke der Orientierung an den ersten weißen
Kittel, dem ich begegnete, und erkundigte mich über Zeiten und
Formalitäten eines Besuches für musikpsychologisch Interessierte von
außen. Die Auskunft war ebenso knapp wie präzise: jederzeit, aber
nur mit autorisierter musikpsychiatrischer Assistenz. Die Besuchserlaubnis
müsse überdies von der Oberleitung der Klinik im Büro des
Aufnahme-Ambulatoriums genehmigt werden.
Zu besagtem Ambulatorium gelangte man durch einen langen
Gang, der diesen bereits eindeutig zur Klinik gehörigen Raum von
der eher unverbindlichen Allerwelts-Halle des Eingangs abhob und
dem Lärm der Straße entzog. Dieses Ambulatorium diente außer als
Aufnahme- und Einlieferungsstation auch als Voruntersuchungsraum,
in dem die Leidenskapazität der Hospitanten im Augenblick
der Einlieferung, ihre nervliche Belastbarkeit für alle weiteren Kuren
und Schocks geprüft und getestet werden sollte.
Als ich das Ende des Ganges erreichte, trat mir ein hagerer,
ironisch grinsender, offensichtlich gebildeter, in seinem linkischen
Gehabe jedoch unheimlich wirkender Herr entgegen, der sich als
Doktor Scardanelli, seines Zeichens Wahnsinns-Studioso und
Stellvertreter H. C. Frankensteins im Schönebergschen Musik-Sanatorium
vorstellte. Seine spärlichen, gegen den Strich gekämmten
Haare, die einen von den häufigen Aufregungen rot angelaufenen
Kopf zierten, standen ihm allesamt zu Berge, so als würde irgend
eine verdeckte negativ gepolte Spannung sie in die Höhe ziehen.
Es bedurfte nicht vieler Worte und Komplimente, und wir waren
uns über Bedingungen und Modalitäten meines Sanatoriums-Besuches
einig. Doktor Scardanelli führte mich sogleich ins Aufnahme-
Ambulatorium, wo ich die vorgeschriebene Besuchserlaubnis ausgehändigt
bekam und meinerseits die Garantie unterschrieb, für alle
möglichen Konsequenzen nervlicher Art die volle und alleinige Verantwortung
zu übernehmen und gleichzeitig die Anstaltsleitung jeder
zivilen und strafrechtlichen Haftung zu entbinden.
Der Raum, den ich an der Seite Doktor Scardanellis betrat, war
mit den hygienischsten psychiatrischen Geräten, symmetrischen Maß-
Einheiten, seriellen Stethoskopen, krebsgängigen Injektoren, spiegelverkehrten
Tabellen und geometrisch disponierten Strukturen
ausgestattet. Alles streng in Schwarz und in der Verteilung nach dem
Prinzip der Äquidistanz und Gleichberechtigung der Objekte im Sinne
einer höheren Ordnung und menschlichen Indifferenz, vollkommen
kalt und aseptisch angelegt. Die Stationsärzte, sagte mir Doktor
Scardanelli, wechselten in diesem Ambulatorium alle Tage die Präsenz.
Ihre Anwesenheit sei nach dem Prinzip der seriellen Abfolge
genauestens geregelt: zwölf voneinander unabhängige Kontroll-Ärzte
an zwölf voneinander unabhängigen Wochentagen, nach den Gesetzen
der Gleichberechtigung auf demokratisch zweifelsfreie Weise,
also reihentechnisch nach dem Prinzip der Nicht-Wiederholbarkeit
eines Dienstes vor Ablauf der Präsenz aller anderen geregelt.
An diesem skurrilen Ambulatorium, das die Insassen des Sanatoriums
auch „Purgatorium der Zwölfton-Sünden“ nannten, kam in
der Tat niemand vorbei. Alle, sowohl Gesunde als auch Kranke,
mußten sich an diesem Vorort der Hölle einer musikpathologischen
Eignungsprüfung unterziehen und eine Art „Test der musikalischen
Wahnsinnsfähigkeit“, sozusagen „die Talentprobe der transzendentalen
Verrücktheit“, über sich ergehen lassen.
Mir stockte beim Anblick dieser vollkommenen Entsprechung des
Kalten und Gefühllosen mit der Ästhetik des Makabren das Blut in
den Adern. Was ist denn der moderne Leibhaftige äußerlich für ein
Wesen?, dachte ich mir, und suchte am Erscheinungsbild meines
obskuren Begleiters nach den Merkmalen des Schaurigen. Aber sosehr
auch meine Phantasie sich vom abwegigen Gedankengut dieses
Ambientes zu erhitzen begann, ich konnte an ihm nichts auffällig
Unnatürliches erkennen: kein Klumpfuß, kein von Exzessen abge-
magerter Körper, keine rote Hahnenfeder, kein schwarzer Umhang,
keine Spur von Krallen oder Klauen, weder Höllenruß noch Schwefelgeruch,
nicht einmal eine Habichtnase, höchstens ein Paar starr
blickende, funkelnde Augen. Der moderne Mephisto, dachte ich, trägt
die Züge eines philisterhaften Bürgers, dünn, hager und unstet, ein
wenig wie der Teufel in Adalbert von Chamissos „Peter Schlemihis
wundersame Geschichte“, mit einem hämisch verzogenen Mund, wie
der „Signor Dapertutto“ in E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Die Abenteuer
der Sylvesternacht“, oder so wie der unscheinbare „Seelenkäufer
und Prokuristen des Satans“ in Tiecks „Die Bergwerke zu
Falun“. Man kann diesem modernen Leibhaftigen nur wie Luther
begegnen, dachte ich mir, und nach ihm im übertragenen Sinne mit
Tintenfässern werfen.
„Die einzigen Freunde, die wir unter den Tönen haben, sind tote
Töne“, begann Doktor Scardanelli seine unheimliche Führung durch
das Schönebergsche Musiksanatorium. „Man muß in der Musikgeschichte
warten, bis die lebendigen Töne altem und absterben. Erst
wenn die Töne tot sind, kann man sich auf sie kompositorisch einlassen.“
Doktor Scardanelli gebrauchte den Begriff „einlassen“, so, als
näherte er sich einem Leichnam, den es sorgfältig, Faser um Faser,
zu sezieren galt. „Die Musik erkennen wir mit der größten Klarsicht
und Vernunft in dem Augenblicke, da sie vollkommen erkaltet und
erstarrt ist. So wie die Tätigkeit des Psychiaters erst dann den therapeutischen
Höhepunkt erreicht, wenn sie in ihrem Innersten zu Stein
geworden ist, so befindet sich die Musik im Zustand der endgültigen
Abkühlung, im Anblick der kältesten Raison und sentimentalen Rücksichtslosigkeit,
ganz bei sich selbst. Ein erfolgreicher Psychiater wie
ein erfolgreicher Komponist sind vom Mißtrauen gegen alles Normale
und Lebendige beseelt.“ Skepsis gegen das Lebendige, Mißtrauen
gegen das Spontane, das sei die Lebensgrundlage und das Berufsethos
für beide. Mit diesem Problem, das man in gewissem Sinne als
eine Art „Exercitium mortale“ bezeichnen könne, habe er sich eingehend
in Form einer universitären Dissertation über das „Schönbergsche
Musikalische Opfer“ auseinandergesetzt und sich damit für
die Laufbahn eines zeitgenössischen Wahnsinnsforschers habilitiert.
„Das menschliche Gefühls- und Wahrnehmungs-System“, sagte er,
„ist in ein Stadium der vollkommenen Isolation und Inkommunikabilität,
ja Gefühlsdürre, eingetreten.“ Er nannte diesen Zustand das
„Syndrom der kommunikativen Verlassenheit“ und brachte es unmittelbar
mit der höchsten Vergeistigung in Verbindung, die im Stadium
der endgültigen Versteifung der expressiven Strukturen das
Gewebe der Musik befallen habe. Er sprach von „transcendentaler
Geistesarbeit“, die von Nekrophilie angesteckt, eine ausgezehrte Sublimation
hervorbringe, und spekulierte mit der Hypothese, daß die
musikalische Kunst das Höchste mit dem Verlust der inneren Organe
und mit der vollkommenen Störung der im Gehör verankerten Sinne
hervorbringe.
In besagtem Ambulatorium war an diesem Abend der Dienst-Turnus
an dem mir reichlich bekannten Anton von Kalk, einem musikalischen
Nachfahren jenes Anton von Webern, der am Beginn des
Jahrhunderts die Musik in eine neue, folgenschwere Richtung gelenkt
hatte. Da auf Grund der späten Stunde gerade niemand ins
Schönebergsche Sanatorium eingeliefert wurde und ich, was die
Besuchserlaubnis anging, bereits von Doktor Scardanelli bedient worden
war, stand besagter Musik-Neurologe für keine weiteren Informationen
zur Verfügung. Dies paßte übrigens vollkommen in sein
Charakterbild, das, wie ich von der neueren Kunst- und Geistesgeschichte
her wußte, von dem seines geistigen Onkels Anton von
Webern nicht weit entfernt war. Anton von Kalk, so die Charakterisierung
Doktor Scardanellis, sei ein ostinater Statistiker und Reißbrett-
Fanatiker, der keinen auch noch so kurz gefaßten Gedanken
ohne „äußerstes Gehirnpressen“ zustandebringe. Von ihm erzähle
man sich, daß ihn fortwährend die Angst quäle, es könnte ihn jemand
mitten in seiner Geistesarbeit stören und den Gedankengang,
den er gerade begonnen habe, unterbrechen. Er müsse sozusagen
seine Arbeit in vollkommener Verlassenheit, ja sogar Selbstverlassenheit,
angehen und zu Ende führen. Nicht selten, erzähle man sich,
sei er mitten in der Nacht überrascht worden, wie er in einem spärlich
erleuchteten Raum, abwechselnd seine Brille putzte und mit
einem Ohr am Türschloß nach irgendwelchen Geräuschen nach draußen
lauschte. Er sei tatsächlich von der Obsession verfolgt, es könnte
jemand unangemeldet in seine transzendentale Konzentration
hereinplatzen und mit einem Male die subtil gesponnenen Gedankengänge
zum Einsturz bringen. Immer wieder müsse er seine
Geistes- und Gehörarbeit von vorne beginnen, damit er überhaupt
weiterwisse, er müsse sich sozusagen fortwährend vergewissern, wo
er mit seinen Erfindungen stehe und sich so durch die Bestätigung
des Geleisteten in übertragenem Sinne Mut machen. „Er ist ein Fanatiker
der menschlichen Verlassenheit“, sagte Scardanelli. „Er ist
dafür berühmt, daß er, wenn er komponiert, gleichzeitig nach draußen
horcht, um jeder Störung aus dem Wege zu gehen und im selben
Augenblick nach innen lauscht, um den Faden seines dünnen
Einfalls nicht zu verlieren. Manchmal ist er von dieser doppelten Anstrengung
so erschöpft, daß er tagelang völlig leer und ausgelaugt,
wie ein verdorrter Ast, dasitzt und geistesgestört vor sich hinstarrt.
Das ist im übrigen nicht schlimm, weil die Patienten, die sich von
ihm inspizieren lassen, in ähnlicher Weise mit mutistischen Problemen
und Kommunikationsstörungen aller Art behaftet sind, so daß
sie sich über seinen neuropsychologischen Solipsismus im Grunde
nicht wundern. Aus seiner perversen Fähigkeit, mit der Geduld einer
Spinne tagelang, ja wochenlang in einem musikalischen Gehirngespinst
auszuharren und auf einen blitzartigen Einfall zu warten,
hat dieser Musik-Neurologe, zum Nutzen seiner Arbeit im Schönebergschen
Musiksanatorium, ein enormes, wiewohl perverses Einfühlungsvermögen
für alles Ausgezehrte und Verdorrte entwickelt.
Und nichts kann seine Phantasie so beflügeln, wie wenn es wochenund
monatelang nicht regnet. Dann steigt in ihm eine Vision von
Fortschritt und Faßlichkeit auf, die er metaphysisch mit dem Höchsten
und Reinsten in Zusammenhang bringt. Er sagt, es sei ein allgemeines
Gesetz des Geistes, daß das Üppige abgebaut, das Feuchte
vertrocknet und das Lebendige zu Staub wird. Er nennt dieses Zurücknehmen
das ,Gesetz der Landgewinnung und Urbarmachung‘
und beruft sich zur Untermauerung seiner Theorie auf die psychoanalytischen
Gedankengänge von Sandor Ferenczi. So wie die Gliedmaßen
des Menschen eine Art ,Prothese der Seele‘ darstellten, die
den unglücklichen Individuen nach dem Rauswurf aus der thalassalen
Geborgenheit des Urmeeres gewachsen seien, so sei der sogenannte
geistige Mensch nach Überwindung einer im übertragenen
Sinne feuchten See-Existenz, während der Romantik endlich aufs
Trockene gelangt und könne nun, mit Hilfe seiner im Laufe der Jahrtausende
entwickelten rationalen Geisteskrücken, sich rücksichtsloser
als je zuvor auf das karge Landleben der Phantasie konzentrieren.
Erst im Zustand des vollkommenen Austrocknens, sagt
er, gelangt der Geist zu sich selbst. Mit dieser Erkenntnis habe er
sogar ein ganz spezielles historisches Bewußtsein entwickelt, das in
bezug auf seine kargen Erfindungen größenwahnsinnig ist. Er bringt
dabei seine ostinate Verkümmerungsästhetik ohne falsche Bescheidenheit
mit den größten Trieb- und Wahnsinnsschicksalen in der
Geschichte vor ihm in Zusammenhang und spricht gerne vom Weltgeist,
der im Laufe der Jahrhunderte durch Sublimation und Verdünnung
in ihm vollkommen zu sich selbst gekommen sei. Er geht
sogar soweit, daß er seine eigene kreative Abmagerung als eine glückliche
Koinzidenz von Geschichte und Individuum ansieht und sich
musicaliter als metaphysisches Opfer der Geschichte darstellt, das vom
Weltgeist auf dem Weg der Erleuchtung gefordert sei, damit die reine
musikalische Idee durch Struktur und Faßlichkeit zum Vorschein
komme. Er hält sich schließlich zugute, daß er, und nur er, durch
objektive mathematische Strukturen, das Irrationale in der Kunst
gebändigt und zur Raison gebracht habe. In diesem Sinne betrachtet
er Poesie, wie Novalis, als große ,Kunst der Construction der transcendentalen
Gesundheit‘. Sein musik-pathologisches Bekenntnis, das
vor allem seiner Arbeit im Sanatorium zugute kommt, ist vom fanatischen
Glauben getragen, daß alle großen Ideen durch einen Nervenzusammenbruch
und im Zustande einer unheilbaren Zwangsneurose
entstanden sind. Sehen Sie nur die Instrumente auf seinem
Schreibtisch und in der Studierecke! Überall liegen intellektuelle Fangnetze
herum, mit deren Hilfe er Partikel von Gefühlen, Reste von
Enthusiasmus und Splitter romantischer Gefühlspracht wie Schmetterlinge
einfängt, aufspießt und – wie er sagt – in einen höheren
Sinnzusammenhang einfügt. Er verfährt dabei mit der größten Hygiene,
gebraucht aseptische Instrumente, entwickelt prophylaktische
Maßnahmen und hemmt mit seinem unerbittlichen Willen zum System
das Aufkommen unreiner, triebhafter Kräfte. Das Psychische
zum Physikalischen machen: das ist sein Leitsatz in der ständigen
Bereitschaft zur Abstinenz. Da, wo die Seele die Fühler einzieht und
sich scheintot stellt, sagt er, ist die Wahrheit am nächsten, die Kunst
am wahrsten. Erst wenn der Ausdruck sich endgültig nicht mehr
getraut, zum Vorschein zu kommen, könne man seiner Ansicht nach
von Sublimation sprechen und mit der Durchdringung des Lebendigen
durch das Geistige zufrieden sein. Die Fühler einziehen, die Gefühle
ausschalten, die Verbindung zur Außenwelt abbrechen, das sind
seine Vorstellungen von Kunst. Er nennt dieses Verhalten des kreati-
ven Ichs die autoplastische Reaktionsweise, gleichsam als ob die
Schnecke bei Gefahr die Fühler abbaut und sich beleidigt in das Gehäuse
zurückzieht. Deshalb sammelt der Tonkünstler Anton von Kalk
nur noch Splitter von Seufzern, Segmente von Lauten, Schmerzensfasern
und letzte Zuckungen von Ausdruck. Aus ihnen verfertigt er
wie ein Diamantenschleifer Kristalle der Verletzlichkeit, Axiome des
immerwährenden musikalischen Eises. Er nennt sie die ,Strindbergschen
Archetypen‘, die das Vielfältige und Ungeordnete angreifen
und auf wenige Grundmuster reduzieren, oder in Hölderlinscher
Weise die ,Schicksals-Atome‘, deren Aufgabe es ist, in der Kunst dem
reinen Geistigen zum Durchbruch zu helfen. Seine kompositorischen
Befehlsformeln sind deshalb in entsprechender Weise kurz und präzise:
,Urbild! Verwandlung! Rückkehr! Erinnerung! Seele! Geist!‘ So
stark ist sein Drang zur Konzentration, daß er vollkommen und in
beinahe religiöser Weise in der Idee des Absoluten aufgeht. Seine
Ästhetik der totalen Symmetrie, die, wie wir wissen, aus der größten
Instabilität des Ichs entstanden ist, hat beinahe religiöse Züge. ,Daß
sich also die göttlichen Dinge in der Welt in Entsprechungen darstellen!‘,
lautet sein rationalistisches, von Mystik angehauchtes kompositorisches
Credo. Böswillige meinen, Anton von Kalk reflektiere in
dieser Idealisierung strikter Gesetzmäßigkeiten das Beispiel seines
Onkels Anton von Webern, der seine Inferioritäts-Komplexe in der
Verehrung starker Männer und in der Anwendung diktatorischer
Kompositionsprinzipien zum Ausdruck brachte.“
Anton von Kalk muß wohl über das Flüstern Scardanellis ungehalten
gewesen sein, denn er drehte sich unversehens um und stieß,
völlig geistesabwesend, apodiktische Sätze aus: „Innere Reinigung!,
ich sag es: innere Reinigung! Die Gesetzmäßigkeiten sind die einzige
Psychohygiene, die noch möglich ist. Deterministische Entscheidungen,
folgerichtiges Handeln und alle Dinge auf einen Nenner, einen
toten Nenner bringen! Der Mensch, hat schon Strindberg erkannt,
erträgt leichter die vom Schicksal verhängten Schmerzen als die selbstverschuldeten.
Der Wahnsinn verbirgt eine Logik, wenn er zur Katharsis
wird, in der Feuersbrunst der Reinigung liegt Wahrheit. Das
Beste und Haltbarste findest du in der Asche nach der Feuersbrunst:
non multa, sed multum!“
Als ich solches hörte, war ich nicht mehr zum Fortgehen zu bewegen.
Ich bat Doktor Scardanelli, mich im Ambulatorium mit Anton
von Kalk alleine zu lassen und verabredete mich für den Morgen des
darauffolgenden Tages für die Führung im ersten Pavillon des Schönebergschen
Musik-Sanatoriums. Doktor Scardanelli ging auf meine
Bitte ein und verabschiedete sich mit einem hämischen Grinsen.
Anton von Kalk fuhr indessen fort, in monomaner Manier über
das eigene System musikalischer Gesetzmäßigkeiten zu räsonieren.
Ich machte den schüchternen Versuch, durch einen Gruß seine apodiktischen
Behauptungen zu unterbrechen und versuchte, ihn auf
seine musikalische Wahnsinns-Theorie anzusprechen. Ich stellte Fragen
über den Wiederholungszwang, über das unbewußte Symmetrie-
Bedürfnis der Seele im Zustand der Niedergeschlagenheit und
über die neurotischen Gesten beim Komponieren. Anton von Kalk
ging jedoch nur scheinbar auf meine Fragen ein und fuhr in seltsam
stimulierter Weise monologisch fort:
„Wenn man es genau betrachtet, so ist das gesamte System der
Seele eine glücks- und gesundheitsvernichtende Anlage zur Erzeugung
eines noch größeren Unglücks auf einer noch höheren Ebene,
der Kunstebene. Die Seele des Menschen, vor allem seine musikalische,
ist zerrissen und naturgemäß dem Untergang geweiht. Nur Gesetzmäßigkeiten,
unerbittliche Strukturen und die Bereitschaft zum
Totalitären vermögen das Innere zusammenzuhalten!“ Anton von Kalk
wandte sich allmählich mir zu und gab Anzeichen, daß er mich
als Gesprächspartner akzeptierte. „Nehmen Sie das Beispiel der
Musik“, sagte er, „gibt es denn eine Kunst-und Geistesform, die zerbrechlicher
wäre als sie? Zerbrechlicher und anfälliger für die
Ungleichgewichte der Seele? Man muß jeden vernünftigen Kunstund
Geistesmenschen warnen, sich leichtfertig auf sie einzulassen.
Und wehe dem, der sich, ohne sie zu bedenken, ihren Launen ausliefert!
Er verfällt der Paralyse, der Auflösung der Gehirnsträhne, dem
Kollaps der Gehörgänge. Sehn Sie, ich habe diese Kunst wie eine
transzendentale Therapie praktiziert, zuerst die praktische, dann die
theoretische, beide bis zum Letzten und Äußersten. Eine ungeheure
Gedächtnisanstrengung, kann ich Ihnen sagen, eine Gehimbelastung
ohnegleichen! Ich hätte sie ohne System und Geometrie nicht ertragen
können. Nur durch die Geometrie, verstehn Sie, ist es mir
gelungen, im Über-Ich der Seele die Ordnung wiederherzustellen.
Ordnung ist das einzig wirksame Antibiotikum, das wir gegen die
Hitze des Unbewußten haben. Die psychischen und musikalischen
Schutzsysteme, allen voran die zwölf aufeinander bezogenen Töne,
lehren uns diese Wahrheit.“
Manisches Numerieren, dachte ich mir, sprach es jedoch nicht aus,
um den spontanen Fluß seiner freien Rede nicht zu stören. Vorsichtig
fragte ich: „Und die Kabbala? Was hat es mit der Kabbala für eine
Bewandtnis?“ „Ach, die Kabbala!“, ging Anton von Kalk spontan auf
meine Frage ein. „Die Kabbala ist eine numerische Speculatio, die
algebraische Ausstrahlung des Wesens der Gottheit. Der Kabbalist
stellt intellectualiter an den Geist dieselbe Frage wie der Psychologe
spiritualiter die Seele befragt. Die Grundfrage lautet nämlich, ob denn
das Gute und Böse von Anbeginn gezählt wurde und also vorhanden
war, oder ob die Spaltung von Gut und Schlecht erst durch die mathematische
Neurose der Menschen, durch das unbewußte Zählen
der Seele hervorgebracht wurde. Die kabbalistische Lehre, müssen
Sie wissen, beruht, ganz im Gegensatz zur platonischen, die den Kontrapunkt
erfunden hat, auf der numerischen Einheit von Gut und
Böse, von Wahr und Falsch, von Schön und Häßlich, von Gesund
und Krank. Während in der Philosophie des Abendlandes diese Qualitäten
einander schroff gegenüberstehen, vereinigt sie die Kabbala
zu einem unteilbaren Ganzen. Kabbala ist demnach eine zahlenmäßig
definierte Äußerung von Kraft, eine mathematische Ausstrahlung
des Schöpferischen in Gott.“
So meinte es auch Cezanne, dachte ich mir, als er die Natur mit
ihren natürlich vorkommenden Dreiecken, Quadraten, Kreisen, Kegeln
und Pyramiden als das wahre Buch der Philosophie bezeichnete.
„Die Zahlen“, lehrte Anton von Kalk weiter, „sind in der Kabbala,
wie die Buchstaben des Schreibers, konzentrierte Tropfen der Eigenschaften
Gottes, der guten wie der bösen, der schönen wie der häßlichen,
der gesunden wie der kranken. Die Erkenntnis Gottes geschieht
mit Hilfe dieser Zahlen, ihre Kombination erfreut das Herz
und erhebt den Geist. Erkenntnis durch Zählen, verstehn Sie?
Permutation, Temura, Notarikon, Gematria, Nummernspiele, Ziffernreihen,
heilige Symmetrien! Die Zwölf, die Drei, die Eins, Allintervall-
Reihen, pythagoreische Proportionen, enigmatische Quadrate!
In der kabbalistischen Methode der zwölf aufeinander bezogenen Töne
ist der platonische Dualismus von Ich und Über-Ich, von Materie
und Geist, von Trieb und Idee auf vollkommene Weise überwunden.
Dodekaphonie der Seele, verstehn Sie, Demokratie der Affekte, uni-
versale Ordnung im Zeichen der Gleichberechtigung! Zwölfton-Musik
als Überwindung von Konfliktsituationen, Abschaffung der Vorherrschaft
der Dominante; vor dem Gesetz, sagt die Dodekaphonie,
sind alle Töne gleich! Es gibt keine Obertöne und keine Untertöne
mehr, keine Ober-Gefühle und keine Unter-Gefühle, und auch der
Begriff der Ober-Neurose wie der Unter-Neurose ist zu streichen!“
Anton von Kalk wurde mit seiner Verteidigung der Dodekaphonie
immer heftiger, die Worte, die Konzepte überschlugen sich, ich dachte,
daß es vielleicht besser wäre zu gehen. Also machte ich ein paar
Schritte nach hinten und verschwand unbemerkt aus dem wahnsinnigen
Raum.

Liste(n) auswählen:
Unsere Newsletter informieren Sie über Neuigkeiten im Badblog Of Musick. Informationen zum Anmeldeverfahren, Versanddienstleister, statistischer Auswertung und Widerruf finden Sie in unserer Datenschutzbestimmungen.

Musikjournalist, Dramaturg

Eine Antwort

  1. 1. Dezember 2009

    […] endzeit-sonate « Bad Blog Of Musick […]