Martern aller Arten in Marzahn
Liebe Baddies,
Es ist an der Zeit mal wieder über Kulturpolitik anstatt über Kulturästhetik zu reden. Gerade erhielt ich beunruhigende Nachrichten aus Berlin, die Zukunft der Musikschule Marzahn-Hellersdorf (seit kurzem „Hans Werner Henze – Musikschule“ genannt) und ihres großen Jugendorchesters – das in jahrelanger aufopferungsvoller Arbeit vom Dirigenten Jobst Liebrecht aufgebaut wurde – betreffend.
Hier wird die Bedrohung geschildert:
In einer heutigen Pressekonferenz und zuvor in einem Gespräch gaben
der zuständige Stadtrat Stephan Richter (SPD) und die zuständige
Amtsleiterin Esther Drusche (SPD) bekannt, daß– das Organisationsteam des Orchesters verändert werden müsse
– das im Budget des Orchesters Kürzungen nötig sind
– das man in der Musikschule „weg von Veranstaltungen, hin zum Unterricht“
kommen müsse– das die zukünftigen Projekte des Jugendorchesters reduziert und von der
Amtsleitung genehmigt werden müssenEs zeichnet sich ab, daß die Musikschulleitung, die das Jugendorchester
mitgegründet hat, überhaupt abgelöst werden soll.
Es ist kein Geheimnis, dass ich der Hans Werner Henze – Musikschule als Pianist wie Komponist engstens seit der Gründung des Jugendorchesters verbunden bin. Unter der liebevollen Betreuung des Teams der Musikschule (allen voran Martina und Rainer Feldmann) und Jobst Liebrecht ist hier im Laufe der Jahre ein fantastisches Orchester entstanden, das aufwändige und ungewöhnliche Projekte realisiert. Gleich das erste Großprojekt in Marzahn – die Kompletteinspielung von Henzes Kinderoper „Pollicino“ – war ein vielbeachteter Erfolg, der mit dem Echo-Klassikpreis belohnt wurde (man muß sich das auf der Zunge zergehen lassen: ein Jugendorchester aus einer kleinen Musikschule in Marzahn-Hellersdorf erhält diesen international begehrten Preis!). Seitdem ist dieses Orchester unermüdlich aktiv – sich gleichermaßen für klassische, populäre wie auch zeitgenössische Musik einsetzend – so gab es vor kurzem die vielbeachtete erstmalige Wiederaufführung des „Plöner Musiktages“ von Hindemith, zusammen mit mehreren Auftragswerken von zeitgenössischen Komponisten, auch dies eine enorme Leistung, die manche „Profi“-Hochschule nicht gestemmt hätte. Aber in Marzahn ist das möglich, was ein Wunder ist. Jetzt soll diese mühsame Aufbauarbeit wieder zerstört werden, die Musikschule soll wieder auf ein „unauffälliges“ Niveau zurechtgestutzt werden – schon jetzt ist Rainer Feldmann gekündigt worden, auch die weitere Arbeit des ganzen Musikschulteams inklusive Martina Feldmann und Jobst Liebrecht ist fraglich, nach den Ferien wurde zudem allen Honorarlehrern die Kündigung angedroht.
Wie man sich vorstellen kann, ist die Betreibung eines solchen Unterfangens in Marzahn-Hellersdorf enorm aufreibend, aber eben auch enorm wichtig in einem Bezirk von Berlin, der ganz sicherlich nicht ohne soziale Schwierigkeiten ist und in dem es Kindern und Jugendlichen generell an Perspektiven und Entfaltungsmöglichkeiten fehlt. Nun soll eines der wenigen erfolgreichen Projekte, bei denen man sich ganz bewußt an wirtschaftlich weniger gut gestellte Kinder und Jugendliche wendet, und bei dem alle Beteiligten ohnehin schon mit einem Minimum an Finanzierung Übermenschliches leisten, demontiert, kastriert und damit letztlich auch eingestampft werden. Das ist tatsächlich ein Skandal.
Im Grunde geht es hier um einen allgemeinen Meinungsstreit, der unsere Kulturpolitik seit einiger Zeit durchzieht, nämlich ob man „Breitenförderung“ oder „Elitenförderung“ betreibt (was man dabei immer wieder übersieht ist, dass beides gleichermaßen wichtig ist, und nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden muß, aber das nur nebenbei).
Bei manchem Konzert des venezuelanischen Jugendorchesters unter seinem charismatischen Leiter Gustavo Dudamel sitzt so mancher verträumt und ein Tränchen verdrückend ob so viel Einsatzes für sozial unterbemittelte Jugendliche im fernen Venezuela. Was dabei vergessen wird ist, dass auch im vermeintlich so satten Deutschland solche Basisarbeit genauso engagiert und erfolgreich geleistet werden- nur dass eben nicht so viel darüber berichtet wird.
Deutschland steuert im Moment immer mehr auf eine „Vorzeigekultur“ hin – immer weniger etablierte Opernhäuser, Orchester und Bildungsinstitute werden mit Fördermitteln bedacht, was zunehmend auf Kosten der sogenannten „Provinz“ (siehe auch mein Artikel über Hoyerswerda und Görlitz) oder sozial schwächer gestellten Schichten geht.
Das ist auch ein Problem für die Neue Musik – wir hatten hier schon einige Beiträge, in denen berichtet wird, wie kleine Festivals und Initiativen gerade im Osten der Republik mit immer grösseren Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Insofern ist das Schicksal der Hans Werner Henze – Musikschule nur symptomatisch für eine gesamtdeutsche Entwicklung, unter deren Folgen wir zunehmend leiden müssen.
Daher: helft uns im Kampf für den Fortbestand des Marzahner Jugendorchesters!
Ich bitte das Team der NMZ herzlich, sich dieser Geschichte anzunehmen – viel zu selten wird im Feuilleton der SZ oder FAZ über Initiativen wie diese berichtet, daher sollten wir dies unbedingt leisten. Es ist nocht nicht zu spät, etwas zu tun. Meiner Ansicht nach sind gerade Bezirkspolitiker sehr schnell zum Einlenken zu bewegen, wenn sie merken, dass sich gegen ihre Entscheidungen überregionaler Unmut regt.
Es wäre toll, Anschreiben an diese Adresse zu richten:
BITTE RICHTET ANSCHREIBEN AN
Stadtrat Stephan Richter
Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf
Premnitzer Str. 11
12681 Berlin„buero@stephan.richter@ba-mh.verwalt-berlin.de“
Ich denke, dass jedes Schreiben hilft. Am Besten keine Brandbriefe oder Drohungen, sondern Briefe, die die Wichtigkeit der Orchesterarbeit herausstellen. Wenn mal wieder ein Rundfunkorchester geschlossen werden soll, gibt es gleich tausende Unterschriften dagegen – es wäre doch eine Schande, wenn dies nicht auch bei der Hans Werner Henze – Musikschule Marzahn-Hellersdorf möglich wäre. In gewisser Weise ist nämlich deren Arbeit NOCH wichtiger als die der Rundfunkorchester.
Ich hoffe auf Eure Hilfe, bitte verlinkt diesen Artikel und kommentiert ihn, damit wir viel Aufmerksamkeit erzeugen können.
Vielen Dank
Euer Bad Boy
Moritz Eggert
Komponist
…welches Programm verhilft Taschenrechnern zu Kulturverständnis? Nüvi-Navi? Lieber Moritz, klar, wir kümmern uns um Marzahn. Aber bitte: Überschätze uns nicht.
Herzlich: Theo
geisslr@nmz.de
Lieber Theo Geißler,
Liebe Leute,
Hier mein Programmiervorschlag für Taschenrechner mit includiertem Kulturverständnis:
Eine Musikschule mit gutem Orchesterbetrieb zu schließen geht in 5 Minuten (Arbeitsleistung nahe null), eine ebensolche aufzubauen, dazu braucht es 20 Jahre Arbeitsleistung. Aus ökonomischer Sicht gar kein gutes Verhältnis. Jugendliche aus der Bildung „freizusetzen“ bring Folgekosten, denn man muss ja für diese Leute Ersatzangebote schaffen.
beste Grüße aus Wien
– wechselstrom –