Beginn eines polemischen Glossars zur Terminologie der neueren Musik
Als kleine Serviceleistung und um ein wenig Licht in die trübe Suppe der Terminologie in den Kommentarspalten zu bringen.
Regel Nr. 1:
Verwenden Sie NIE einen mit der Ästhetik der klassisch-romantischen Musik in Verbindung stehenden Begriff, insbesondere nicht: Melodie, Rhythmus, Harmonie, Motiv, Tonalität.
Es sei denn: sie werten diesen Begriff auf, indem sie ihn mit der Vorsilbe „poly-“ versehen. Dabei handelt es sich um ein geradezu magisches Präfix, mit Hilfe dessen noch das abgegriffenste Vokabular aufgewertet und in einen aktuellen Kontext gestellt werden kann. Es verleiht dem überkommenen Konzept hinreichend Unschärfe und semantische Aufladung und Vielschichtigkeit, die den semantischen Kern des griechischen „viel-“ ausmacht.
Regel Nr. 2:
Wollen Sie einen Sachverhalt kennzeichnen, der mit den musikalischen Qualitäten wie Melodie, Rhythmus, Harmonie, Motiv oder Tonalität verwandt oder gar identisch ist und die Verwendung der Vorsilbe „poly“ scheint aus unterschiedlichen Gründen nicht angebracht, so geben Sie sich die Mühe und erfinden Sie wenigstens ein paar Ausdrücke die zugleich hinreichend abstrakt und ausreichend konkret sind, um wenigstens in Ihrer Sprache dem Einsatz der musikalischen Mittel ein innovatives Gewand zu geben.
Hier einige Beispiele
Linie: Umfasst sämtliche melodieartigen Phänomene, lässt sich bestens rückbinden an allgemeine ästhetische Diskurse seit der Romantik – „Signatur des Schönen!“ – bis hin ins 20. Jahrhundert. Die Glissandi eines Xenakis lassen sich damit ebenso beschreiben wie die „unendlichen Melodien“ eines Harrison Birtwistle oder die räumlichen Vektoren in der Musik eines Bruno Mantovani.
Geste: Ein Ausdruck, der die theatralischen Qualitäten, die einem Motiv inne wohnen, förmlich ins Sichtbare und Greifbare steigert. Vorsicht: wird im Sprachgebrauch sowohl für die sprechenden musikalischen Gestalten eines Beat Furrer verwendet wie für bis zur Unkenntlichkeit verhuschte akustische Vorbeiflitzer ohne Persönlichkeit. Hier ist Interpretationsvermögen seitens des Lesers/Hörers gefragt.
Puls: elegante Möglichkeit, einen periodischen Rhythmus zu beschreiben, ohne in Retro-Verdacht zu geraten. Impliziert organisches Denken was ein sympathisches Körpergefühl evoziert.
Schichten: Ein Begriff der dazu dienen kann, von der Tatsache abzulenken, dass sich durch Überlagerung verschiedener musikalischer ->Linien harmonische Beziehungen ergeben. Zum Thema Harmonik siehe: -> neue Harmonik.
Textur: Kein Begriff wäre besser geeignet Zusammenhang zwischen unzusammenhängenden harmonischen und rhythmischen Verhältnissen zu stiften. Kann aber auch zur aufwertenden Beschreibung „herkömmlicher“ rhythmischer und harmonischer Verhältnisse dienen. Ausflüge in die Texttheorie wären vor dem Einsatz angeraten um in Zukunft einige der Differenzierungen, die dieser Begriff in anderen Wissenschaften erfahren hat, auch für den musikwissenschaftlichen Diskurs fruchtbar zu machen.
To be continued
Musikjournalist, Dramaturg
Genau so ist es! Aus alt mach neu, allein durch die Bezeichnung! Genial!
im 21. Jahrhundert daher auch bald gefragt
1. Polymelodie (früher: „Fuge“)
2. Polyharmonie (früher: „Modulation“)
3. Polymotivik (früher: „Kanon“)
4. Polystilistik (früher: einfach nur ein Komponist sein und komponieren)
Figur könnte da wohl auch hineinpassen. Oder Komplex. Phase ging zur Not auch noch ebenso wie Moment oder Kalkül. Könnte man jedenfalls in Betracht ziehen.
Moritz, da möchte ich doch widersprechen. Poly steht in den genannten Zusammenhängen fast immer für einen tatsächlich zu bezeichnenden Sachverhalt. Ich würde in dem Fall doch eher zu einem Terminus greifen, der doch den nachgerade genialen Komponisten H.P. Baxxter als Hyper- größerer Verunklarungsmöglichkeiten bietet.
Ja, Martin, ja! Noch viel besser!
HYPERmelodie!
HYPERharmonie!
HYPERmotivik!
HYPERstilistik!
klingt geil und HYPERAKTIV!
Guten Morgen!
Sind Musiker/Komponisten konservative Ärsche? –
Ob man diese Frage polemisch meint oder nicht, die Antwort ist in jedem Fall ein eindeutiges JA!
In früheren Zeiten (also Ende 19. bis weit ins 20. Jahrhundert) galt die „Daumenregel“, dass avantgardistische Entwicklungen zunächst in der Bildenden Kunst bemerkbar sind, dann die Musik im 10-Jahres-Abstand folgt, und zum Schluss mit großem Abstand auch das Theater die neuen Entwicklungen aufnimmt und verarbeitet.
Heute ist selbst die Musik vom Theater überholt worden und sie bildet das Schlusslicht im Kunstdiskurs.
Übrigens: einen echten Diskurs habe ich auch in Darmstadt vermisst – zumindest zwischen KursleiterInnen und TeilnehmerInnen. Eine Ausnahme war bei Christina Kubisch – aber die macht ja auch Klanginstallationen, und das ist wieder in direkter Nachbarschaft zur Bildenden Kunst angesiedelt.
Erik Janson hat es ja schon geschrieben: dieser immer wiederkehrende Ruf „zurück zur Natur“, der in regelmäßigen Abständen variantenreich dahertrabt nervt! Innerhalb des selbsternannten bad-boy-Zirkels scheint er weit verbreitet zu sein. Ich will euere Situation einmal so beschreiben:
Natur ist etwas herrliches und deshalb pflanzt man einen Apfelbaum! Was seid ihr dann: GÄRTNER
Will man ein Naturforscher sein, muss man sich etwas anderes überlegen, oder?
Lässt man einmal davon ab, die Avantgarde zum 1000sten Mal für tot zu erklären, so lassen sich zwei Verständnisse des Begriffs herausschälen:
1. Avantgarden sind die Triebfedern der Kunstevolution. Sie sind die Experimental-Laboratorien, in denen die Formensprache der folgenden Jahre vorausgedacht, ausprobiert etc. wird (Deshalb auch das Verweilen in Expertenzirkeln)
2. Kunst ist eine Form der Evolution und sie wechselt in regelmäßigen Abständen bereits ausprobierte Formkombinationen aus. Diese Ablehnung des Üblichen kann nun selbst neue Formen entwickeln, die man aber nur verstehen kann, wenn man weiß, was vorher üblich war, und was die Erwartung ist, die enttäuscht werden soll.
Dass dann eine rückblickende Bestimmungsweise zum Bestimmungsmerkmal der Avantgarden wird, gehört zu den Paradoxien, die die Neue-Musik-Szene bis heute nicht verdaut hat.
(Die Frage ob das Selbstbeschreibung oder Fremdbeschreibung ist, erübrigt sich in diesem Zusammenhang, oder wird zum Gegenstand einer langweiligen Schuldzuweisungsdebatte)
Sitzen die Avantgarden also im Ruderboot und können nur sehen woher sie kommen während sie das Ziel im Rücken haben? Wie aber lässt sich dann in einer solchen Situation ein „zurück zu … „ überhaupt definieren – führt es sich nicht selbst ad absurdum?
Eines scheint jedoch klar: Wo es genaue Abgrenzungen und Abzirkelungen gibt, ist künstlerisch nur noch die Flucht ins Ornament möglich.
Einen Schönen Tag wünscht
wechselstrom
Für Moritz: Ritalin für großes Orchester mit fett Schlagzeug?
@ wechselstrom: Wenn ich dich richtig verstanden haben sollte?
Ich denke, die Sache ist noch etwas verdrehter aufgehängt. Ich glaube, es geht auch darum, dass den Avantgarden selbst, jedenfalls manchmal, wenn sich selbst einer solchen zuschreiben, auch eine Form von Konservatismus eigen ist. Ein Zurück zu sich selbst und zum Habitus der Avantgarde. Nun ist das ja selbst ein Widerspruch in sich selbst. (Es gab (gibt?) ja eine Zeit, in der man alles sein wollte, nur nicht Avantgarde, weil der Begriff so sehr zeitgeschichtlich verfestigt war und damit zugleich weder der Impuls nach vorne wie zur Umwälzung real werden konnte.) Avantgarde hieß dann nur: Sezession.
Der ungeheure Vorteil: Man kann in der Exklave wirklich fast frei operieren. Doch von solcher Freiheit sind wir heute doch weit entfernt, wie mir scheint. Statt dessen hängt man in den Fesseln von Traditionen, Usualitäten. Der Weg nach vorne endet nicht zuletzt an praktischen wie wirtschaftlichen Mauern. Kaum jemand dürfte das deutlicher ausgesprochen haben als Adorno – sei es in den Vorlesungen zur Musiksoziologie oder eben im „Altern der neuen Musik“.
Gleichwohl kennt wohl jeder von uns ein paar Leute, die man dem Ausbruchszirkel zuordnen könnte. Aber derer sind es wenige.
Das nur schnell ein paar Gedanken dazu. Sozialgeschichtliche Zusätze erlaube ich mir gelegentlich. Jetzt soll es nur bei ein paar Hinweise bleiben.
Morgen Hufner, Liebe Blogger,
Du bist ja wahnsinnig intelligent und scheinst viel von Musiksoziologie, Philosophien, Ästhetik (und Diskursethiken nach otto Apel etc…)zu verstehen. Hier werden nun von Dir Dinge gesagt, die schon zu Anfang dieser Blogs vor paar Wochen (Blog das Ende ist der Anfang) von anderen Leuten angesprochen wurden.
Und nun muss der arme Herr Adorno auch noch seinen Kopf dafür hin halten. Und dann wird uns noch angedroht, dass
noch weitere Vorlesungen in Sachen „Musiksoziologie“ oder Sozialgeschichte folgen werden….
Tja, und dieses ganze Philosphieren über Begrifflichkeiten, Fragen noch Historizität oder Avandgarde oder was gilt noch als „avandgardistisch“
Oder: ist Avandgarde noch möglich…?
Sollten wir Komponisten nicht lieber mal schreiben und zur TAT schreiten, auf das schauen, was wirklich das LEBEN uns bietet, (und die Unbeschreibbarkeit von Musik in manchen Punkten, bzw. deren Differenz zur Sprache nicht mal ZULASSEN) an statt die ewig gleichen, langweiligen Diskurse zu führen? (z.B.: das und das „Melodik“ oder „Hyperharmonik“ etc. gab es in dem oder jenem Jahrhundert schon oder: „das und das ist heute nicht mehr möglich… oder doch noch möglich? oder … blablabla…). Und darüber schlagen sich dann alle mit Lettern die Köppe ein.
Lasst uns doch lieber KOMPONIEREN und die Klappe halten
und später, wenn wir alle berühmt sind, dann können wir auch unsere wohlverdienten Memoiren schreiben.
Insofern fragt Wechselstrom zu Recht kritisch und satirisch nach dem Sinn der hier angezettelten Pseudodiskussion.
Im Übrigen würde ich niemals sagen oder bestreiten,
das MELODIE (von mir aus auch schöne Melodie oder der alte Lude „Rhythmus“ bzw. Groove in meiner Musik keine Rolle spielen würde).
Schönen Tag Euch,
Erik Janson
@Phahn, Liebe Blogger,
was ist/wäre so schlimm daran, wenn man für bestimmte Dinge, die man als Komponist in einem neuen Werk ausprobiert und deren sprachliche Beschreibung mit alten Termini aus der Musikwissenschaft und Analyse schwierig ist, nicht mal die angesprochenen neuen Begrifflichkeiten (war doch von Dir ironisch gemeint,oder?) verwenden würde, z.B. um zu versuchen dem Publikum zu mit zu teilen, was man subjektiv in einem Werk wollte/versuchte.
Muss man da immer zu alten oder von Musikwissenschaftlern oder Historisten vermeintlich „legitimierten“ Begriffen greifen?
Aber bei einem sensiblen Punkt sind wir da schon,
das gebe ich zu (vielleicht @ Moritz, worin Du mir tw. zustimmst vieleicht):
Es ist z.B. die Frage nach dem Sinn und Unsinn von Werkkommentaren oder Reden ÜBER Musik generell.
Wie beschreibt man Musik, deren Formen, Zusammenhänge jedweder Art? Ist es überhaupt sinnvoll dies zu tun oder nicht eher eine Einengung des Hörers? Lenkung des Hörens etc. Und dann ist da noch das Komplexitätsproblem und das
Eingekertkertsein in subjektive Wahrnehmungen und Zeitlichkeiten.
Jeder hört ein jeweiliges Musikstück immer anders als
ein anderer UND jeder – zusätzlich – ist sich selbst immer ein anderer/ hört ein Musikstück morgen anders als heute oder gestern…
In vielen Fällen wäre dann vielleicht Reden Silber aber Schweigen Gold (für das ERSTE Hören zumindest, um dem Hörer die Chance eines unvoreingenommenem, durch Sprache (auch durch Fachsprache!) nicht kaputt gemachten Hörens zu ermöglichen) (Das gilt übrigens meiner Meinung nach sowohl für einen Ferneyhough (mit vielen Tönen, Komplexität etc.)wie für die „neue Einfachheit“.
Wenn, ja wenn da nicht GERADE dieser Musikwissenschafts-
oder dieser Akademismus und dieser Zwang des „Man-muss sich-immer-gleich-legitimieren (damit die Leute nicht gleich „wegrennen“)“ wäre und dieses Denken: „Man-kann nicht einfach mal so Musik schreiben“
heimlich immer lauert.
Und, wenn man mal ehrlich ist: dieses ewige Vorurteil
(dem wir selbst erliegen als moderne Komponisten):
Man müsse seine Musik beschreiben, vermitteln oder sonst was um „verstanden“ zu werden „geliebt zu werden“ (nennen wir es von mir aus so)
das fürhrt doch ein Stück weit gerade in die Vermittlungs-Krisis hinein und in diese ewigen Verkrampftheiten, die wir uns oft selbst schaffen.
Ich würde für folgendes plädieren:
Vor dem ersten Hören eines (neuen) werkes: es in seiner
Unbekanntheit/ NICHTS erläutern.
Dann erst nach dem ersten Hören: Gespräch und/oder Erläuterungen des Komponisten oder schlauer Musikwissenschaftler etc. etc.
Radiosendungen, wo ein Werk zwei mal gehört wird, z.B.
erst OHNE JEDEN KOMMENTAR und Blabla, dann nochmal.
Gab es da nicht mal einen gewissen Herrn Adorno (heute ja „mega“-out…) der u.a. so etwas vorschlug?[sorry „Hufi“, dass ich dir das nun weg genommen hab, mir war gerade danach]
So was mal wieder öfter im Radio, das wäre schon was.
BILDET Künstler, REDET NICHT (oder nicht so viel…)!
E.Janson
@ Janson: Macht ja nichts. Zum weniger Dienlichen: Es würde mich freuen, wenn Ihr das Kollektiv-Ich mal etwas abmildertet.
Zum Sachlichen: Mach!
Mindestens der WDR hatte (hat?) eine solche Sendung, in der regelmäßig Laien mit dem Komponisten eines solchen Stückes und dem Moderator/Redakteur (Brennecke?) dies genau machten – hab ich im fernen Hessen fast immer gehört übrigens. Und ich kann mich auch an ein Konzert mit Musik von Anton von Webern in den frühen 80er Jahren in Wolfsburg erinnern, das genau so ging. War gut.
Und zum Thema: Keine weitere Vorlesungen für Janson – lies einfach drüber weg. Von Adorno gab übrigens manche Vorschläge, aber ich glaube, in der Analyse war er regelmäßig besser. Trotzdem, Artikel „Abstrakt oder konkav?“ (1932):
Nur mal so …
@hufner
die angesprochene Sendung hieß „Workshop Neue Musik“, lief von 1973-97, wurde moderiert von den Redakteuren Wolfgang Becker – dem Initiator der Sendung -, Wilfried Brennecke und Detlef Gojowy. Das Prinzip war in der Tat wie beschrieben: eine Mischung aus musikinteressierten Laien und „Profihörern“ erlebten ein Stück, live oder vom Band, hatten anschließend die Gelegenheit, ihre Erfahrungen auszutauschen und vor allem im Gespräch vom Komponisten Hintergründe über das Stück zu erfahren. Dabei sind tolle Sendungen entstanden – abhängig nicht allein von der Gesprächigkeit und Eloquenz des Moderators sondern natürlich auch in enormem Maße von der Erfahrung der Hörer und ihrer Möglichkeit, musikalische Erfahrungen zu verbalisieren. (Womit wir auch wieder bei der Terminologie wären…) Am Ende wurde das Stück erneut gespielt und war so für Radiohörer und Diskutanten mit der neuen Erfahrung zu hören. Veranstalter experimentieren heute gerne wieder mit solchen Formen, beispielsweise plant man im Bonner Beethovenhaus eine solche Reihe für die kommende Saison. Hinweise auf weitere Veranstaltungen dieser Art sind gern erbeten.
@wechselstrom: Darf ich mir erlauben, hier ein wenig zu kommentieren?
Sehr oft, da gebe ich Dir vollkommen recht. Nur verbirgt sich das Konservative gerne unter dem Deckmantel des scheinbar Modernen, hierzu hat Hufi schon einiges gesagt.
Vollkommen d’accord.
Äh, ok, wo steht hier irgendwo „zurück zur Natur“? Ich habe keine Ahnung, von was Du sprichst, ganz ehrlich…
Na ja, irgendeinen Namen brauchte der Blog. Wir hätten’s natürlich auch „Die fröhlichen Gärtner“ nennen können, aber mich interessiert halt Gartenarbeit nicht so (siehe oben). Und ein Blog mit wechselnden Autoren ist auch kein „Zirkel“ und vor allem nicht „selbsternannt“. Das sind einfach so Floskeln von Dir, die irgendetwas implizieren sollen – wenn man etwas öffentlich macht, ist es dann sofort ein „Zirkel“ oder „selbsternannt“? Bist Du ein „selbsternannter“ Komponist, weil Du ein Stück aufführst? Man kann absolut jede individuelle Aktivität als „selbsternannt“ deklarieren, genausogut kann man es aber auch lassen…
Darf ich den Satz mal so umschreiben, dass er stimmt? Das wäre dann „DIE Avantgarde war die Triebfeder EINER Kunstevolution“. Bis zum 20. Jahrhundert wurde der Begriff überhaupt nicht für Kunst verwendet, historisch ist er auch eng verknüpft mit der politischen Avantgarde Russlands, es also auf die gesamte Musikgeschichte auszudehnen ist schon eine sehr gewagte, vielmehr schlicht und einfach falsche Behauptung. Noch viel gewagter ist es zu denken, dass man in der Zukunft kontinuierlich von genau dieser „Avantgarde“ sprechen wird – schon in spätestens 50 Jahren wird man den Begriff garantiert nicht mehr für aktuelle Kunst verwenden, darauf würde ich jetzt wetten. Es wird dann neue Begriffe geben, und die sind dann nicht nur „hyper“-anders, sondern haben auch andere Implikationen, Wünsche, Thesen.
Auch hier verwendest Du typische Begriffe und Wertvorstellungen des 20. Jahrhunderts, die sich nicht so einfach in eine generelle Formulierung umwandeln lassen. Fürs späte 20. Jahrhundert stimmt natürlich das „Verweilen in Expertenzirkeln“, davor überhaupt nicht.
Absolut d’accord. Allerdings kann die „Ablehnung des Üblichen“ selber zum „Üblichen“ werden, was Du als Paradoxie bezeichnest, ich einfach als Stillstand. Mich persönlich interessieren immer genau die Sachen, die für absolut und endgültig überkommen erklärt werden, denn das heißt, dass sie jetzt schon lange „unter dem Radar“ liefen und gerade dann daraus neue Impulse entstehen können.
Es ist ein häufig zitiertes aber interessantes Beispiel, dass sowohl Mozart als auch Beethoven in ihrem jeweiligen Spätwerk sich ganz dezidiert mit den damals als tot und überkommen empfundenen Fugentechniken beschäftigten, und daraus entstanden dann doch ziemlich wilde und neuartige Werke
Ich weiß nicht, warum ständig dieses „zurück zu“ thematisiert wird. Mich interessiert ein „zurück zu“ überhaupt nicht – wenn ich in die Vergangenheit blicke, dann nicht, um mich dorthin wieder zurückzusehnen, sondern aufzuzeigen, dass jegliche apodiktische Kunstbehauptung scheitern muß, aufgebrochen werden muß, überkommen werden muß. Und dazu gehört für mich auch manch Apodiktisches in der Neuen Musik. Hieraus den Trugschluss zu ziehen, man wolle zurück und nicht nach vorne, entbehrt der argumentatorischen Grundlage. In gewisser Weise amüsiert und langweilt mich das gleichermaßen. Einerseits ist „Hinterfragung“ und gescheites Getue (das in den zu recht von Erik kritisierten Programmhefttexten und Belehrungen gerne fröhliche Urständ feiert) typisches Merkmal der „Neuen Musik“-Szene, wenn man aber dann letztere nach genau diesen Kriterien selbst befragt, erhebt sich ein großes Greinen und Jammern und der vollkommen absurde Vorwurf, man hätte damit automatisch Konservatives im Sinn.
Das „Konservative im Sinn“ haben dann eher die Leute, die einem genau dies vorwerfen.
Da stimme ich Dir aus vollem Herzen zu. Das ist auch die große Gefahr der Abgrenzung von z.B. „Melodik“ (sorry for flogging a dead horse) – da kommt dann zwangsläufig nur Ornament raus.
Euer
Moritz
@Hufner und Peh etc.,
also, danke für die Ergännzungen. Habe doch nicht Unrecht mit meiner Ansicht dass es zu wenig Gelegenheiten gibt, wo Hörer Werke erst mal unvoreingenommen hören können und dann nochmal.
Die Sendung im WDR (hab ich selbst damals mit Begeisterung gehört) gibt es leider nicht mehr.
Und wer spricht @ Hufner, hier von „kollektiv“-ich, das „abgemildert“ werden solle? Man sollte es doch ertragen, finde ich wenigstens, wenn hier Leute ihren Standpunkt klar vertreten. Hier tun aber manchmal Baddies, wenn mal was kritisiert wird, so, als wollten die Kritiker aller Welt ihre Haltung aufzwingen. Das hatten wir ja alles schon, diese Art der wenig schlagkräftigen Gegen-„Argumentation“, und scheint nun bei der ästhetischen Diskussion nicht viel anders zu sein tw.
Und das komische Adorno-Zitat, wo von „Revolutionären“
und „Feinden“ die Rede ist, passt hier auch nicht so recht her.
Wo wir schon mal beim einander-Zitieren und Kommentieren sind, @Eggy:
“ Es ist ein häufig zitiertes aber interessantes Beispiel, dass sowohl Mozart als auch Beethoven in ihrem jeweiligen Spätwerk sich ganz dezidiert mit den damals als tot und überkommen empfundenen Fugentechniken beschäftigten, und daraus entstanden dann doch ziemlich wilde und neuartige Werke“ (Zitat Ende)
So weit so gut, aber war DAS nicht eine völlig andere Zeit? Zudem glaube ich nicht, dass damals Beethoven/Mozart BEWUSST daran dachten: Jetzt verwende ich die Fugenform, weil ich darin den Altmeister und derzeit in Vergessenheit geratenen Bach übertreffen will o.ä.
Es ist ja nichts Neues, dass Komponisten in ihren Alterswerken auf alte Formen zurück greifen.
Vielmehr wird es ein Stück weit heute aber über-bewertet,
weil die Musikwissenschaft halt immer noch überwiegend konservativ ist. Zweifellos sind es (aber vor allem die Große Fuge!) Meisterwerke, bin ich ja auch ein Fan davon. ABER es wurden tolle Werke, NICHT WEIL Beethoven
bewusst eine alte Form verwendete, sondern weil einfach er AUS DIESER FORM bzw. INNERHALB etwas NEUES gemacht hat. Eben weil der Rahmen gesprengt wurde. Das ist doch ein Unterschied bzgl. der Kausalität und Haltung.
Dann schreibst Du, Moritz weiter:
„Mich persönlich interessieren immer genau die Sachen, die für absolut und endgültig überkommen erklärt werden, denn das heißt, dass sie jetzt schon lange “unter dem Radar” liefen und gerade dann daraus neue Impulse entstehen können.“
Komme da nicht mehr so ganz mit: Wechselstrom (der seine Comments gar nicht so meinte, dass er sich hier als „DER Avandgardist“ oder als deren „Anwalt“ dar stellen wollte) wirfst Du vor, einen Avantgardismus in Schutz zu nehmen, der dann selbst zur Gewohnheit/zum Überkommenen werde.
Und dabei ist es ja genauso eine Haltung, die sich selbst ad absurdum führt und überkommen ist, wenn man heute (z.B. nach den ganzen „Neo“-Phasen der Musikgeschichte) immer noch mit gleichem Brusston der Überzeugung sagt: gerade, weil etwas als „alt“/“überkommen“ gelte,
würde man daran fest halten und das sei dann revolutionärer als dasjenige, was sich von vorne herein als „fortschrittlich“ definiere… Auch diese Haltung ist überkommen, führt sich selbst ad absurdum, führt nicht zu wesentlich Neuem und gehört meiner Meinung nach auch mal langsam eingemottet.
Bzgl. Ornamentalem: Was ist am „Ornament“ oder z.B. an melodischen „Floskeln“ und am experimentellem, humoristischem oder karikierenden oder wie auch immer Umgang MIT überkommenen Melodie-Formeln denn so schlecht und verwerfenswert?
Daraus lugt wieder ein wenig die Lehrmeinung derjenigen heraus, die aller Welt glauben machen wollen, sie wüssten, was „Melodie“, was „Melodik“(eine „gute Melodie“, im alten, trad. Sinne oder in Form von Regeln o.ä.?) sei.
Was macht denn dann, Moritz, Deiner Meinung nach eine handwerklich „gute“ oder progressive Melodik aus?
Oder woraus „flüchten“ denn dann heute die Tonsetzer?
Und ebenso stört mich das Wort-im-Mund-Umdrehen des Avandgardebegriffs von Wechselstrom, bzw. der ja den Begriff gar nicht historisch verwenden WOLLTE.
Der Avandgardebegriff wird doch heute in der Kritik, im ganzen Diskurs schon längst nicht mehr nur auf eine bestimmte Epoche oder Strömung bezogen, in welcher er damals erstmals auf tauchte.
ZUdem, Moritz, scheinst Du Wechselstroms kritisch kommentierenden Zusatz „(deshalb auch das Verweilen in Expertenzirkeln)“, den Du selbst noch zitierst, dann geflissentlich zu ignorieren. Und -wie Du an anderen Stellen in diesen Blogs selbst schreibst: Begriffe ändern sich, aber (Zusatz): Begriffe ändern auch ihre Kontexte und Verwendungen und verlieren dann trotzdem nicht unbedingt ihre Legitimität.
ZUm Schluss noch ein dritte Ausführung von Dir, Moritz,
die verdreht, was ich gesagt habe bzw. mir Dinge in den Mund legt die ich weder geschrieben noch gemeint habe:
„Einerseits ist “Hinterfragung” und gescheites Getue (das in den zu recht von Erik kritisierten Programmhefttexten und Belehrungen gerne fröhliche Urständ feiert) typisches Merkmal der “Neuen Musik”-Szene, wenn man aber dann letztere nach genau diesen Kriterien selbst befragt, erhebt sich ein großes Greinen und Jammern und der vollkommen absurde Vorwurf, man hätte damit automatisch Konservatives im Sinn.
Das “Konservative im Sinn” haben dann eher die Leute, die einem genau dies vorwerfen.“ (Zitat Ende)
Hier werden /in Moritz Comment vom 19., 9:30) scheinbar polarisierend 2 Dinge vermischt, die gar nichts miteinander zu tun haben (und was von mir auch nie hier so vermischt wurde):
A) dass Programmhefttexte in der „Neuen Musik-Szene“ (welche Szene meinst Du?, es gibt viele) mit „Hinterfragung“ und „gescheitem Getue“ zu tun hätten.
B) Es wird implizit polarisiert. Es wird so getan, als gebe es hier als „die Konservativen verschrieenen“ (die wahrhaften Goddies, oder die, die ihre „klare Tonsprache bzw. die für sich „sprechende, romantische Sprache der Musik“ nicht hinter Programmtexten oder hinter „schlauem Getue“ verbergen müssten…). Und auf der anderen Seite stehen die angeblich bösen „Baddies/Avandgardisten“ mit ihrem „Getue“ und ihrem Bürger-Verschrecken oder mit ihrem „Hörgenüsse-Verleiden“ durch ihre „bösen, alles mögliche „hinterfragenden“ Programmtexte“…
Also, so meinte ich meine selbstkritischen Ausführungen bzgl. Programmtexten in Neuer Musik nun wirklich nicht.
Also: neue Gräben, neue Verdrehungen, Polarisierungen statt offener Diskurs?
Dass wir das Apodiktische überwinden müssen – in Tradition WIE Moderne gleichermaßen – damit bin ich ja vollkommen d´accord. Das aber hat hier – weder Wechselstrom noch ich – bestritten.
@ Janson: Nur zum Kollektiv-Ich. Ich finde es einfach etwas anmaßend zu schreiben:
Mal abgesehen davon, dass dies als „Androhung“ verstanden würde, wenn ich davon spreche, dass mir etwas auf der Zunge liege, was das eine ist, finde ich das „uns“ für eine Einzelperson dann einfach nicht passend. (Ich könnte ja jetzt mit Adorno kommen („Wir sagen und ich meinen ist eine der ausgesuchtesten Kränkungen.“), aber das drüfte ich ja wohl auch nur missverstanden haben.) Wollet „Ihr“ (Janson) das einfach nur akzeptieren. Zumindest vielleicht, wengistens etwas?
@ Hufner,
achso, dieses kleine stichelnde Wörtchen hat so verstört.
Na dann, sorry dafür. Aber das hier ist auch – zumal was mir hier schon alles an den Kopf geworfen wurde in den Blogs – auch kein Kindergeburtstag.
Aber denke (@ meines Wörtchens „uns“): Habt IHR Euch mal gefragt (oder, sorry: DU, Hufner)warum hier reihenweise Leute aus den Blogs ausgestiegen sind, die zuvor noch mit bloggten?
Mit dem „uns“ maßte ich mir an (vielleicht ein Fehler – zugegeben) hier stellvertretend für so einige andere Leute zu sprechen, die es hier in mancherlei Hinsicht Leid sind bzw. ausgestiegen sind.
Aber O.K.: ich Denke ICH (diesmal nicht „kollektiv“ also bitte nicht „missverstehen“…) lass es mal mit dem Bloggen und warte mal, ob da noch was kommt und ob hier auch andere Leute nochmal bloggen außer den fast immer selben.
UNd: würde Adorno noch leben, glaube ich, er würde hier
bestimmt nicht mit bloggen und sich wundern, wer hier ihn so immer in Zitaten bemüht, wenn er selbst argmentativ nicht weiter weiß. Aber – ich bin bewusst vorsichtig …- dies ist nur MEINE Vermutung.
Und (@ „Kränkungen“, wenn wir schon so sensibel sind): ICH sagen oder „ich meine, dass“.. und dann aber implizit WIR meinen (oder dem anderen einfach was nach eigener Interpretation in den Mund legen)dies ist für mich eine viel spitzfindigere Kränkung).
Danke.
Entschuldige, dass ich dich gekränkt habe, war jedenfalls nicht meine Absicht. Und das Zitiermonopol gebe ich gerne dem zurück, dem es wirklich zusteht. Auch dafür bitte ich um Entschuldigung.
Hallo Blogger,
ein Zitiermonopol beanspruche ich nicht.
Gekränkt oder geknickt o.ä. bin ich auch keinesfalls.
Werde mich aber wegen wichtiger anderer Dinge (die Arbeit ruft) auf unbestimmte Zeit aus diesem Blog verabschieden.
Wie schon an anderer Stelle bemerkt:
Es ist einfach zu oft Zeit raubend und oftmals drehen
sich leider Argumentationen auf Grund der Form des
Mediums im Kreise.
Noch eine schöne Zeit wünscht,
Erik Janson
Ei, ei, ich wusste gar nicht, dass selbst ernannte Sisyphosse verkappte Mimosen sind. ;-)
Guntram