Hits der Moderne – weitere Gedanken zur GEMA-Krise
Liebe Baddies,
Hier ein paar weitere Gedanken, angeregt durch eure Fragen und Kommentare:
Das Problem ist durchaus sehr komplex – natürlich werden die eingefleischten Neue Musik Festivals nicht auf das aktuelle Repertoire verzichten und es durch Ravel ersetzen, das ist ja ihre Legitimation, dass sie eben das Neue und nicht das Alte aufführen.
Was wenige wissen: Neue Musik Festivals und Konzertreihen werden dezidiert durch die GEMA gefördert, es gibt dann sogenannte Abgabepauschalen für die Konzerte, die wesentlich unter dem liegen, was normalerweise gezahlt wird, d.h. in gewisser Weise zahlt die GEMA drauf, damit Neue Musik gespielt wird. Wenn das mehr Konzertveranstalter wüssten, dass sie eigentlich mit MEHR Neuer Musik in ihren Programmen GEMA-Abgaben sparen könnten, sähe es vielleicht ein bißchen anders aus im Konzertleben, aber die GEMA macht das aus verständlichen Gründen nicht sehr publik, den Rabatt gibt’s nur „unter der Hand“ auf Nachfrage. Das heißt aber eben auch, dass die GEMA-Einnahmen durch Neue Musik-Festivals eher vernachlässigbar sind bei der GEMA, selbst wenn jetzt überall neue Festivals aus dem Boden spriessen würden, es würde das Aufkommen nur unerheblich vergrössern.
Die so genannten „Veränderungen im Aufführungsverhalten“ betreffen also den normalen, „mainstream“-Konzertbetrieb. So zum Beispiel Hörtnagel in München, der seinen Künstlern grundsätzlich verbietet, Neue Musik zu spielen, selbst wenn diese das wollen. Und dann gibt es das weit verbreitete Phänomen der Kleinveranstalter, die den Komponisten sagen „Wir spielen Deine Musik, aber nur, wenn Du’s nicht bei der GEMA anmeldest“. Es gibt erstaunlich viele Komponisten, die sich darauf einlassen, eben unter der Prämisse „Ich krieg ja eh so wenig von der GEMA“.
Wir dürfen nicht vergessen, dass selbst alle Neue Musik Festivals in Deutschland zusammengenommen nur einen relativ kleinen Teil des Konzertlebens ausmachen, wir neigen auch dazu, die Breitenwirkung von zum Beispiel Donaueschingen etc. zu überschätzen. Wie gering die bisherige Presseresonanz bezüglich den Entwicklungen in Darmstadt sind (Ich wünsche dem neuen Herrn Schäfer von Herzen alles Gute, aber ein Darmstadt in der Alten Oper Frankfurt ist definitiv ein Bruch mit einer geschichtsträchtigen Tradition, da beißt die Maus keinen Faden ab) zeigt ja, wie drängend diese Themen den meisten Feuilletons erscheinen.
Das Problem hat mehrere Facetten – Ich bin zum Beispiel nach einigen Insidergesprächen innerhalb der GEMA nicht mehr ganz so sicher, ob die „Änderungen im Aufführungsverhalten“ nicht auch ein vorgeschobener Grund sind, und nicht in Wirklichkeit die generelle Schwierigkeit der E-Musikabrechnung dahinter steckt (die wesentlich aufwändiger ist, als die U-Abrechnung, die inzwischen hauptsächlich statistisch verwaltet wird, nach dem so genannten PRO-Verfahren, in der GEMA sehr umstritten).
Solche statistischen Verfahren werden in der E-Musik allein in zeitgenössischer Kirchenmusik angewendet, also nach „Stichproben“. Warum solche Stichprobenverfahren in der sonstigen E-Musik eine große Ungerechtigkeit erzeugen würden, kann jeder verstehen der sich überlegt, wie groß die Chance auf eine erfolgreiche Stichprobe bei einem jungen Komponisten mit im Durchschnitt 3-4 Aufführungen im Jahr gegenüber einem Henze mit hunderten von Aufführungen ist. Die Erfolgreichen würden also noch mehr Geld bekommen, die noch Unbekannten noch viel weniger (=0).
Es ist übrigens sehr kurzsichtig zu sagen „Mir egal – ich bekomme ja eh jetzt nur so wenig von der GEMA, da ist es mir wurscht, wenn es jetzt 12% weniger sind“. Überlegt euch mal, was bei einer Gewerkschaft los wäre, wenn ihren Mitgliedern der Mindestlohn um 12% gekürzt würde, es käme zum Volksaufstand! Auch dürft ihr nicht vergessen, dass das GEMA-Aufkommen mit den Jahren der Mitgliedschaft deutlich ansteigt, ich kenne einige ältere Komponisten, die gar nicht mal so berühmt sind, aber ein durchaus angenehmes Auskommen mit der GEMA auf ihre alten Tage haben. Wenn, was ich glaube, diese Entwicklung eher der Anfang eines sich fortsetzenden Trends ist, dürft ihr davon ausgehen, dass in der Zukunft der Verlust deutlich mehr als 12% ist. Und für Menschen, die eh schon am Existenzminimum kruschteln wie viele Komponisten ist es ein Riesenunterschied ob man 300,-EUR oder 150,-EUR im Jahr bekommt. Ich habe beim DKV 3 Jahre lang Bittgesuche von verarmten Komponisten bearbeitet, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was es da für tragische Geschichten gab, manchmal machten schon 50,-EUR einen Riesenunterschied und das Überleben eines weiteren Monats aus. Ich wage gar nicht daran zu denken, wie es für diese Kollegen in Zukunft aussehen wird.
Ich weise darauf hin, dass es nachweislich noch NIE in der Geschichte der GEMA einen solchen Rückgang im Aufkommen der E-Musik gab – bisher war das Aufkommen E-Musik immer relativ stabil, mit nur kleinen Abweichungen, mal nach oben, mal nach unten. So massiv abwärts ging es noch nie! Auch spricht der Brief von zweierlei Rückgang: einerseits werden Summen nachverrechnet, also nicht ausgeschüttet, UND es gab einen Rückgang von 12%. Das nennt man einen „double whammy“.
Tatsache ist aber auch, dass die E-Musik schon seit langem keine solchen populären Werke wie „Bolero“ oder „Carmina Burana“ hervorgebracht hat, und das hat auch mit der ästhetischen Entwicklung zu tun, die solchen „Populismus“ jahrzehntelang verteufelt hat und den Komponisten eingeredet hat, sie sollten so etwas erst gar nicht anstreben, sondern lieber den Darmstädter Tempelwächtern gefallen (um es mal vereinfacht auszudrücken). Nun darf man aber die Wirkung von diesen Werken keinesfalls unterschätzen – für viele waren sie die erste Begegnung mit „anderer“ Musik und haben Lust auf mehr gemacht, ohne solche „Leuchtturmwerke“ (die natürlich nicht notwendigerweise die besten Werke dieser Komponisten sind, aber sicherlich auch nicht die schlechtesten) ist es um unsere Zukunft in mehrfacher Hinsicht schlecht bestellt – finanziell (GEMA) aber eben auch künstlerisch.
In weniger als 20 Jahren werden wir erleben, dass die letzten weithin populären Komponisten des 20. Jahrhunderts, also auch Strauss und Schostakowitsch, endgültig „abgespielt“, d.h. frei sind, und es ist nicht wirklich etwas nachgewachsen. Es gab ja seit Beginn der klassischen Musik immer „Leuchtturmwerke“, auch in den Jahrhunderten davor, hätte es damals schon eine GEMA gegeben, wären Stücke wie „Kleine Nachtmusik“ oder „Für Elise“ unglaubliche GEMA-Renner gewesen.
Wir können Stücke wie „Different Trains“ von Reich oder „De Staat“ von Andriessen durchaus als „Hits der Moderne“ bezeichnen, aber ihr Aufführungsaufkommen ist lächerlich gegenüber Stücken wie „Sacre“ oder „Carmina“.
Dass es diese Art von Hits heute nicht mehr gibt, ist nicht allein Schuld der Komponisten, denn es ist heute unglaublich schwierig eine Massenverbreitung zu finden, auch für die Popmusik. Aber wenn ein Stück eine dauerhafte Attraktivität besitzt, die eben über die Insiderzirkel hinausgeht, ist schon sehr viel gewonnen. Und es hilft auch den ungewöhnlicheren, abseitigeren Sachen, die durch solche Leuchtturmstücke erst auffindbar werden.
Im Klartext: Ohne C-Dur Präludium keine Goldbergvaraiationen, ohne 9. Symphonie keine späten Quartette.
So einfach ist das.
Ich sage es immer wieder – Schuld an der Situation sind nicht nur wir, aber es bringt nichts, anderen die Schuld zuzuschieben. Wir können selber etwas tun, und das hat sehr wohl mit der Art der Stücke zu tun, die wir schreiben. Weder „Bolero“ noch „Carmina“ sind zu ihren Uraufführungszeiten als konservative Stücke empfunden worden, ganz im Gegenteil (wir erinnern uns an die zum Teil extrem aggressiven Reaktionen der ersten Hörer vom „Bolero“, das Stück hatte durchaus etwas Kontroverses). Es IST also möglich, kompromisslose, sich nicht anbiedernde Musik zu schreiben, die dennoch die Möglichkeit hat, sehr unterschiedliche Publkikumsschichten zu erreichen. Unsere eigenen ästhetischen Schranken stehen uns dabei aber oft im Weg.
Euer Bad Boy,
Moritz Eggert
PS: An dieser Stelle sei ein Nachruf auf das Feuilleton der Münchener TZ ausgesprochen, das mit sofortiger Wirkung eingestellt wird. Dieses Feuilleton besaß eine hohe Qualität für ein Boulevardblatt und berichtete regelmäßig über moderne Kunst in allen Formen. Es ruhe in Frieden.
Komponist
Lieber Moritz,
viele komplexe Dinge in einem Text. Was die GEMA-Geschichte angeht, muß man natürlich erstmal sagen, daß einige von den Vielgespielten der Klassischen Moderne uns den Gefallen getan haben, recht lange zu leben. Hindemith wird 2033 frei, Strawinsky 2041, Schostakowitsch 2045 und Orff sogar erst 2052 – ich wünsche uns allen, daß wir das bei guter Gesundheit erleben dürfen, aber ich glaube, um diese Zeit wird die Menschheit insgesamt noch ganz andere Probleme haben als heute und die E-Komponisten werden nicht (nur) finanziell, sondern wörtlich „unter Wasser“ stehen. Das nur am Rande.
Wie du schon selbst klargestellt hast, liegt das Problem eben nicht so sehr darin, daß zeitgenössische Musik insgesamt so wenig gespielt wird, sondern, daß sie da, wo sie gespielt wird, wenig Aufkommen generiert und dort, wo viel Aufkommen generiert wird, immer weniger zeitgenössische Musik dabei ist. In Berlin (ich weiß, du findest die Stadt nicht so doll, aber es ist nun mal so) kann man sich vor Konzerten mit neuer Musik der unterschiedlichsten Art kaum retten, aber das GEMA-Inkasso aus diesen Konzerten dürfte oft minimal sein. (Für Insider: ich bin schon gespannt auf die Diskussionen zum Antrag 30 der Tagesordnung für die GEMA-Versammung in München).
Ich gehöre auch zu den Leuten, die ohne Absicherung durch Unterrichts- oder sonstige Nebentätigkeit versuchen, von ihrer Schreibe zu leben, und bin deshalb für diese Themen sensibilisiert und keineswegs ein Träumer.
Aber dennoch dürfen wir nicht den Fehler machen, den Stellenwert unserer Musik allzu sehr an materiellen Dingen wie GEMA-Erträgen festzumachen, und ebensowenig sollte man als Künstler dauernd an seine Rente denken. Es kann sein, daß wir eine künstlerisch großartige Zukunft vor uns haben, die finanziell schlechter aussieht als heute. Besser als andersrum, würde ich sagen.
Es ist schön, daß wir über die GEMA (noch) in den Genuß relativ großzügiger Erträge und Zusatzleistungen – auch sozialer Art – für unsere Arbeit kommen. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß die meisten von uns den größten Teil dieser Erträge dem (posthumen) Aufkommen der obengenannten und einiger anderer Kollegen verdanken, und wenn dieses Geld irgendwann oben nicht mehr reinfließt, kommt es unten auch nicht mehr raus.
Damit zu dem anderen Punkt, den du mit der GEMA-Geschichte verknüpft hast: „Hits der Moderne“. Dazu zwei schlichte Fragen:
1. Wer mag „Carmina burana“ noch hören? Ich schon lange nicht mehr (um genau zu sein, ich mochte das noch nie, obwohl ich die Qualitäten des Stückes zu würdigen weiß), genausowenig wie viele andere E-Musik-Hits, von Bach bis Bolero.
Und eigentlich möchte ich nicht in 20 Jahren an jeder U-Bahn-Halte Werbeplakate für
„Tanzsuite mit Deutschlandlied – mit dem André-Rieux-Memorial-Quartett, der Molwanischen Philharmonie und großem Feuerwerk im Kati-Witt-Eisstadion“
sehen.
2. Sollen jetzt alle Komponisten versuchen, auch ihren „Bolero“ zu schreiben in der Hoffnung, daß ihre „…gebrochene septolen…fragment…pausen (für H.)…“-Stücke in deren Windschatten dann auch mehr gespielt werden? Ich glaub, das ist nicht ganz zu Ende gedacht, oder ich habe dich mißverstanden. Die „Carmina burana“-Industrie will das Original und wird es immer wollen. Ich hab mich mal mit einem Dirigenten unterhalten, der viel im angelsächsischen Raum tätig ist, und der erzählte mir, daß er da sogar Schwierigkeiten kriegt, wenn er Brahms oder eine unbekanntere Dvorak-Sinfonie programmiert. Also, wie weit soll man da seine Ansprüche runterschrauben? Auf deutsches Philharmoniepublikum, Durchschnittsalter 75, oder solls doch gleich der Mittlere Westen sein?
Deinen Satz
würde ich sofort unterschreiben, aber dabei denkt natürlich jeder was anderes. Jedenfalls bedeutet es für mich nicht, musikalische appeasement-Politik zu betreiben. Appeasement führt immer dazu, daß man über den Tisch gezogen wird.
Das heißt keinesfalls, daß ich der Ansicht wäre, zeitgenössische Stücke sollten möglichst selten und vor wenigen, miesgelaunten Leuten gespielt werden! Aber ich will kein Winz-Repertoire, das hoch und runter genudelt wird, und neben dem viele andere gute oder bessere Sachen vergessen werden. Das haben wir nämlich bei der Musik des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts, und die Wiederentdeckungswelle hat daran noch nicht viel geändert. Ich habe lieber 2000 Stücke, die jedes Jahr je 5mal gespielt werden, als 5 Stücke, die jedes Jahr je 2000mal gespielt werden. Dann hat man nämlich mehr Auswahl, und das ist das Dolle an unserer zeitgenössischen Musik: da ist für alle was dabei. Früher gabs nur Barock oder Rokoko für alle, öde.
Wer „immer an die Leser denken“ will, soll Focus-Redakteur werden. Unser Job als Komponisten ist es, Musik zu schreiben, die wir für gut und richtig halten (und, genau, dabei nicht an ästhetische Schranken zu denken – weder an solche, die vielleicht mal in Darmstadt aufgestellt wurden, noch an solche, die ein Michael Nyman aufstellt). Hingehen und Hören (und „vermitteln“) müssen andere. Man kann die Leut‘ zu ihrem Glück nicht zwingen.
Mir fehlt jetzt die Zeit, das nochmal genau durchzulesen und etwas zu entpolemisieren, ich entschuldige mich schonmal vorweg, falls ich was zu sehr verkürzt dargestellt haben sollte.
Bis zum nächsten Mal,
B.
Der Neue-Musik!!!- Komponist Johannes Kreidler hat es mit seinem GEMA-Aktions-Stück „product placements“ bis in die Massenmedien gebracht, auch auf YouTube zehntausende Klicks. Grins!
@Benjamin Schweitzer:
Du hast mich vielleicht ein bißchen mißverstanden – mir geht es gar nicht um die Stücke wie „Carmina“ selber sondern um eine Situation, in der solche Stücke ästhetisch überhaupt möglich sind UND als gleichberechtigter Teil einer „zeitgenössischen Musik“ wahrgenommen werden, und nicht als getrenntes, Popularphänomen. Dass so etwas auf Kommando nicht geht ist klar, und es ist auch künstlerisch nicht erstrebenswert, sich bei jedem Stück krampfhaft dazu zu bemühen – so etwas kann ja nur funktionieren, wenn etwas authentisch ist, und das sind ja Orff und Ravel letztlich, ob man das mag oder nicht.
Meine Argumentation geht dahin, dass es bei der Beschaffenheit unserer heutigen Neuen Musikszene gar nicht mehr möglich ist, dass Stücke eine solche Strahlkraft entwickeln und quasi über die Expertenzirkel hinaus bekannt werden können. Deswegen ist Dein Beispiel mit der „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ auch so lustig, weil es eben absolut unvorstellbar ist, dass so etwas geschehen könnte. Das war aber noch nie in der Geschichte der klassischen Musik so, dass es eine solche Trennung gab, und diese Trennung haben wir mit unserer „splendid isolation“ auch in gewisser Weise mit verschuldet.
Ich meine damit übrigens nicht, dass die heutigen Stücke in unseren Festivals grundsätzlich nichts taugen, ich denke sogar wie Du, dass eigentlich inzwischen sehr viele junge Komponisten sich wieder um eine mitteilungswillige und dennoch individuelle Musik bemühen, viel mehr als ihre Vorgänger, das ist ganz sicher. Nur ist es traurig, dass die Vermittlungswege wo der „Funken überspringen kann“, auch im kleineren, nicht spektakulären Sinne den Du ja zu Recht verteidigst, nicht mehr funktionieren.
Insofern finde ich solche Wege wie sie Johannes zum Beispiel mit youtube geht wichtig, weil sie uns überhaupt erst einmal wieder ins Gespräch bringt – ich denke, solche anderen Schnittpunkte sind für uns alle fruchtbar, auch wenn man natürlich nicht exakt diesen Weg gehen muß.
Lieber Moritz,
das reizt (mich) doch weiter zum Widerspruch.
Das Problem liegt aber doch wohl ganz eindeutig an der Beschaffenheit der „klassischen“ Musikszene! Es ist ja nicht so, daß die Komponisten sich dagegen wehren, daß ihre Stücke im Sinfoniekonzert eines B-Orchesters aufgeführt werden oder bei den zahlreichen auswechselbaren Mainstream-Festivals. Die Leute, die da über die Programme entscheiden, wissen einfach gar nicht mehr, was in der lebenden Musik abgeht (und was sie ihrem Publikum da vorenthalten), und im üblichen Probenbetrieb sind natürlich viele neuere Stücke gar nicht zu bewältigen.
Was du schreibst, klingt so, als wären die zeitgenössischen Musikfestivals sozusagen die türkischen Männercafés der Musikwelt, wo „Nur für Mitglieder“ außen dran steht – aber die finden ja nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. (Übrigens habe ich letztes Jahr in Donaueschingen ein ganz reizendes Ehepaar um die 80 (!) kennengelernt, die, soweit es die Gesundheit erlaubt, aus Freude an zeitgenössischer Musik zu solchen Ereignissen fahren. Das mag eine seltene Ausnahme sein, aber ich glaube, daß man, würde man gezielt nach solchen Leuten im Publikum suchen, mehr derartige Hörer fände, als es das Vorurteil will.)
Natürlich ist ein Spezialfestival für zeitgenössische Musik auch irgendwo eine Art „Fachmesse“, das hat zum Teil auch seine Berechtigung. Bei der Buchmesse sind auch vor allem Schriftsteller und Verleger zugegen, und bei einem Jazzfestival wird man vor allem Jazzfans treffen, auf einem Mittelaltermarkt Mittelalterfetischisten usw. usw.—
Die Wurzeln dieser Trennung liegen sehr tief, nämlich in der „Verbürgerlichung“ der gesamten Kultur ab der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Kunst sich langsam aus feudalen und Gebrauchs-Zusammenhängen emanzipierte und das Konzept des autonomen, freien Künstlers überhaupt erst entstand. Wir dürfen dabei aber auch nicht vergessen, daß seitdem immer mehr Leute „Kunst“ im weitesten Sinne rezipieren, die früher davon strukturell praktisch komplett abgeschlossen waren. Heute geht auch mal eine Putzfrau oder ein Automechaniker in irgendeine Art von Konzert. Eine Magd oder ein Pferdeknecht im 17. Jahrhundert konnte von sowas nicht mal träumen. Deswegen gibt es viel breitere Publikumsschichten mit ganz anderen, oft sicher „einfacheren“ Ansprüchen an Kultur. Ich weiß, das kann man alles woanders nachlesen, wollt’s nur noch mal gesagt haben.
Du hast selbst auf die Differenz zwischen Kammermusik und Orchesterwerken bei Beethoven hingewiesen: schon da (und davor auch bei Haydn) gibt es einen eklatanten Unterschied zwischen einer gröberen, „lauteren“ Schreibweise für eine Publikumsschicht, die als weniger distinguiert wahrgenommen wurde, und dem Spezialrepertoire für die hochgebildete adlige oder frühe großbürgerliche Elite. Das Beispiel von dem Verleger, der Mozarts Klavierquartette als zu anspruchsvoll abgelehnt hat, ist ja auch legendär. Die Schere war schon damals da, sie ist dann nur immer weiter aufgegangen – nichts grundlegend Neues also. Natürlich war es ein sehr entscheidender Schritt, die Durmolltonalität zu verlassen, aber die „Isolation“ der Neuen Musik ist trotzdem nicht zum geringsten Teil eine von außen gemachte und nicht von den Komponisten mutwillig herbeigeführte. Wo stünden wir, wenn Stalin nicht die geniale Sowjet-Avantgarde der 20er Jahre zurückgepfiffen und eingesperrt hätte, wenn die Nazis nicht alles, was irgendwie mit Anspruch behaftet war, verbrannt, vertrieben und umgebracht hätten? Ich bin überzeugt, daß wir ohne diese unseligen Entwicklungen im 20. Jahrhundert eine viel breitere Akzeptanz moderner Musik viel früher erreicht hätten – und natürlich wäre die Moderne der frühen Nachkriegszeit ohne den (notwendigen!) Kampf gegen die ganzen Nazi-Reste in Kultur und Gesellschaft auch weniger verkrampft und dogmatisch gewesen.
Da kann man jetzt nichts mehr dran ändern, aber wir sehen ja, daß die Zweite Wiener Schule seit einigen Jahren die großen Konzertsäle erobert: mit 60-80 Jahren Verzögerung. „Hits der Moderne“ sind das vielleicht nicht, aber wenn man sich mal genauer anschaut, worum es sich bei diesen „Hits“ handelt, dann wird die Liste gleich hinter Carmina Burana und Sacre übrigens auch schon bald ziemlich dünn. Turangalila-Symphonie, Mathis der Maler vielleicht noch, das eine und andere von Bartok,- das einzige atonale Stück, das halbwegs Abokonzert-tauglich ist, scheint mir das Berg-Violinkonzert zu sein.
Also, deine These, daß es mal eine Moderne gegeben habe, die ein solches Verbreitungspotenzial hatte und „wir“ (wer übrigens?) hättens versaut, die läßt sich so gesehen nicht bestätigen. Man kann einfach nicht die Aufführungszahlen und Verbreitung einer kulturindustriellen Sparte mit dem vergleichen, was wir machen. Das wäre so, als ob man sagen würde, daß sich die Geschäftsidee von Manufactum nicht durchgesetzt habe, weil ja doch immer noch Millionen von Leuten ihre Eierschneider im Ein-Euro-Laden kaufen.
Aber wenn ein ganzer Hangar im Flughafen Tempelhof einen Nachmittag lang quasi ausverkauft ist, weil dort nacheinander „Des Canyons aux Etoiles“ von Messiaen und dann Stockhausens „Gruppen“ gespielt werden, wenn man bis auf die Straße Schlange stehen muß, um noch eine Karte für ein Konzert mit Lachenmanns „Mouvement“ und „Salut für Caudwell“ zu kriegen, kann man auch nicht behaupten, der „Funke“ würde nie überspringen. Selbst bei einer Sonntagnachmittags-Aufführung von Lachenmanns „Air“ im Konzerthaus am Gendarmenmarkt sind nicht mal ein Dutzend Leute rausgegangen (wer das Publikum da kennt, weiß, was das bedeutet!).
Ich würde dem mal folgende Thesen/Beobachtungen/Einschätzungen entgegensetzen:
1. Moderne Musik ist zunächst ein tendenziell elitäres und nischen-affines Angebot, hat allerdings das Potenzial, unter den richtigen Voraussetzungen auch im normalen Konzertleben anzukommen – nur wohl nicht flächendeckend und in extremen Mainstream-Zusammenhängen.
2. Zeitgenössische (jüngere) Komponisten passen sich eher an Strukturen und nicht so sehr an ästhetische Einschränkungen (schreiben mehr Kammermusik/Elektronik und weniger Orchesterstücke oder Opern etc.). Sie finden damit einerseits die Publikumsschichten, die sich schon immer für diese Musik interessiert haben und es auch weiter tun werden (und die es auch weiter geben wird). Andererseits erschließen sie zum Teil eine neue, vorher nicht dagewesene Publikumsschicht, die nach dem Prinzip „überholen ohne einzuholen“ unter Umgehung der guten alten Klassik-Konzertsozialisation gleich zur modernen/experimentellen Musik findet.
3. Dem zu erwartenden Strukturwandel des Musiklebens, insbesondere der Entwicklung hin zu kleineren, flexibleren Klangkörpern, können diese Komponisten entsprechend durchaus gewachsen sein oder sogar davon profitieren.
4. Es bildet sich ein Repertoire von „Klassikern der Avantgarde“ aus, das zwar nicht so oft gespielt wird wie die etablierten Werke der klassischen Moderne, aber im Rahmen der bestehenden Strukturen durchaus präsent ist und auch auf eine nach und nach zunehmende Akzeptanz (oder sagen wir: abnehmende Abneigung) beim Publikum stößt. Daraus wird (hoffentlich!) kein „Kanon“ einiger weniger bekannter Stücke/Namen werden, die alles dominieren, obwohl solche Tendenzen leider schon zu sehen sind.
Jedenfalls bin ich mir sicher, daß es immer, so lange wir generell noch ein kulturelles Leben haben, das diese Bezeichnung verdient, Leute geben wird, die etwas hören wollen, was man anderswo nicht zu hören bekommt, und es zu jedem Mainstream eine Gegenbewegung geben wird.
@Benjamin,
Deine Argumentation ist wie immer sehr durchdacht und schlüssig, und sicherlich kann man das mit ein bißchen Optimismus auch so sehen (und es spricht nichts dagegen, auch mal optimistisch zu sein).
Es geht mir auch nicht darum, hier den Unkenrufer zu machen oder Dir zu widersprechen, ganz im Gegenteil, ich wäre sehr froh, wenn sich Deine Vermutungen (ok, bis auf die ökologischen :-) bestätigen würden. Ich glaube in den 80er Jahren, wo alles Doom und Gloom war und es schon einmal eine ähnliche Diskussion über das Nischendasein von Neuer Musik gab, hätte ich Dir aus vollem Herzen recht gegeben. Und tatsächlich war die Entwicklung in den 80er Jahren dann sehr gegenläufig zum Erwarteten, es ist sehr viel entstanden, was man nicht gedacht hätte (Biennale, Ensemble Modern, etc.).
Stutzig macht mich allerdings, dass heute diese Frage wieder gestellt wird, und wieder dieselben Antworten gegeben werden, das kann aber irgendwie nicht stimmen, denn allein kulturpolitisch ist die Situation heute eine ganz andere. Es ist unbestreitbar, dass der Druck auf die kulturfördernden Institutionen heute ein ganz anderer als damals ist – es gab noch keine Bedrohung der Rundfunkanstalten, kein Theater/Orchestersterben, es war nicht so, dass wichtige stützende Bestandteile der „Szene“ allmählich wegbrachen, was heute definitiv der Fall ist. Daher konnte auch noch etwas entstehen.
Was mich heute im Gegensatz zu früher stört ist, dass die meisten sich entweder a) damit abfinden oder sogar stolz darauf sind, randständig zu sein, oder b) die Schuld daran anderen zuschieben (Musikunterricht in der Schule, Verdummung der Menschheit im Ganzen, Verrohung der Sitten, etc.).
Mit a) geht einher eine gewisse Spezialistenarroganz und -ignoranz, die man bei „uns“ (ich benutze immer „wir“ als Form, damit ich nicht in die psychologische Falle tappe: „Die Anderen sind schuld“) immer wieder antrifft (und die es auch in anderen musikalischen Szenen gibt, nur da nervt sie mich genauso). Mit b) einher geht das übliche Lamentieren und die Schuldzuweisung, die auch nichts wirklich voranbringen. A la „Wenn ihr meine Musik nicht versteht, muß man es euch beibringen, sie zu verstehen“.
Wenn wir der Argumentation a) für einen Moment folgen, also dass wir quasi das Nischendasein umarmen und als Folge einer historischen Konsequenz sehen, wie argumentieren wir dann gegenüber einer kulturfördernden Institution , dass unsere Nische förderungswürdiger ist als zum Beispiel eine andere musikalische Nische? Sind wir „besser“, weil wir uns aus klassischer Musik ableiten, aus einer akademischen Ausbildung? Der Jazz, eine andere Nische, hat diese Legitimationen nicht und daher bekanntermaßen noch wesentlich weniger Geld als die Neue Musik, aber was genau ist hier noch der Unterschied? Jazz ist ebenso eine Spezialistenszene mit stets vielversprechenden Talenten, hat auch sein begeistertes 80-jähriges „Donaueschingenpärchen“, das zu jedem Festival anreist, und dennoch sicherlich noch eine wesentlich schwierigere Position als Neue Musik, die viel von einer Art wissenschaftlichem Nimbus zehrt, an dem Komponisten wie Schöngerg, Boulez und Stockhausen ein Leben lang gefeilt haben. Aber wie gerecht ist das? Müssten wir nicht nach der Nischenargumentation absolut jeder musikalischen Nische gleichviel Geld zugestehen? Manche Kommentare zu diesem Blog fordern dies ja sogar dezidiert.
Kunst entsteht immer auch aus einem Mangel heraus – man versucht eine Leerstelle zu füllen, die man vielleicht fast schmerzlich empfindet, und dem man einen schöpferischen Impuls entgegensetzt. Daher sind a) wie auch b), eben einfach Selbstzufriedenheit oder Selbstherrlichkeit die größten Feinde von guter Kunst. In so einem Umfeld ist es schwierig, dass Interessantes entsteht oder sich behaupten kann.
Deine Beispiele mit den 80jährigen Donaueschingenfans sind zwar sehr schön (und glaube mir, ich höre bei solchen Diskussionen immer wieder solche Beispiele), aber gerade weil diese Ausnahmen so auffallen und charmant sind, sind sie eben nicht der Regel gleichzusetzen. Für jeden dieser authentischen Fans gibt es hunderte die sich entweder zunehmend abwenden oder bei denen Neue Musik ein so schlechtes Image hat, dass eine Beschäftigung damit überhaupt nicht vorstellbar ist. Natürlich gibt es auch ausverkaufte Neue Musik-Konzerte, aber für jedes dieser Konzerte gibt es eine Neue Musik – Reihe, die irgendwo wieder mangels Publikum oder Förderung eingeht. Auch in der Wirtschaft kennen wir das Phänomen, dass eine Branche gleichzeitig eingeht und dennoch manche Firmen darin boomen, eben weil die Konkurrenz dezimiert wird. Inzwischen ist zu beobachten (wie hier von einigen richtig bemerkt), dass vordergründig positiv klingende Initiativen wie „Netzwerk Neue Musik“ eher sogar dieses Sterben beschleunigen, als es aufzuhalten, da sie wenige grössere Geldmengen ausschütten anstatt weiter zu streuen.
Laß mich einen Vergleich zu anderen Künsten ziehen, z.B. Theater. Wer sich mit der aktuellen Theaterszene beschäftigt, weiß, dass es dort inzwischen schon lange nicht mehr als konservativ gilt, bestimmte selbstverliebte Exzesse des Regietheaters zu kritisieren oder dem Gegenentwürfe entgegenzusetzen. Gerade viele junge Regisseure gehen inzwischen wieder ganz andere Wege, und ja, auch die Ansprache des Publikums spielt dabei eine Rolle (was jahrelang verpönt war). Ähnliches ist aus der Bildenden Kunst zu berichten – figürliche Malerei wurde schon tausendmal von der Kunstkritik für tot erklärt und ersteht dennoch immer wieder neu auf. Und kein ernstzunehmender Kunstkenner würde sagen, dass jemand der zum Beispiel figürlich malt, automatisch auch ein Spiesser ist, will sagen die Materialdiskussion (die in der Neuen Musik nach wie vor das Denken vieler dominiert) ist nicht mehr so verkrampft wie früher. Mein Eindruck ist, dass Theater, Kunst, Literatur da einfach schon weiter und offener sind als die Neue Musik.
Unser beider Diskussion ist ein bißchen wie die Diskussion um ein halbleeres bzw. halbvolles Glas – man kann in der jetzigen Situation einerseits pessimistisch sein wie auch Hoffnung sehen. Und Du sagst ganz richtig, dass es zu jedem Trend auch Gegentrends gibt, auf letztere hoffe ich sogar besonders, deswegen versuche ich ja diese ganze Diskussion aufrechtzuerhalten. Tatsache ist aber, dass gerade junge Komponisten heute sehr viele NEUE Fragen stellen und sich nicht mehr auf die Antworten der alten Moderne verlassen sollten. „Jede Zeit kann sich nur selbst erlösen, da sie allein an sich leidet“ (Kurt Schwitters). Die Antworten, die die Avantgarde gegeben hat, sind nicht mehr stimmig für heute. Und meine Vermutung ist, dass sich die Szene wie sie sich uns heute darstellt eben auch nicht die letzte Antwort auf die Frage ist, welche gesellschaftliche Rolle Neue Musik spielen kann oder soll. Wenn dies schon die letzte Antwort gewesen sein sollte, befinden wir uns schon in dem Atrophierungsprozess der letztlich in der Irrelevanz endet. Daher bin ich eher für das halbleere Glas – die unnötige Dramatisierung würdest Du vielleicht sagen – weil uns eben dies wachsam sein lässt, und relevante Kunst braucht diese Wachsamkeit ganz unbedingt.
Könnten wir uns so vielleicht in der Mitte treffen? Dass unserer Kunst erhöhte Wachsamkeit gut tun würde, eine Reibung am Ringen um Relevanz? Dass aber Verzweiflung fehl am Platz ist? Da bin ich mit Dir ja vollkommen d’accord…
Kurz zurück auf Start also „Carmina Burana“ und „Bolero“:
War es Darius Milhaud (?), der seinen Schülern empfohlen hat: „Ihr könnt komponieren, was ihr wollt, es müssen nur 4 Takte darunter sein, die jeder mit Leichtigkeit nachpfeifen kann“
Das führt uns weiter zu Smetana und seinem bekannten Welthit „Die Moldau“
(Kurzer Schlenker: „Smetana“ bedeutet übersetzt „Sahne“)
Seit diesem Welthit (kann man ja nicht mehr hören – eben ein Ohrwurm(!)) wissen wir, dass „Alle meine Entchen“ keine schlechte Melodie ist, auch wenn sie zunächst in Moll erscheint.
Das führt uns zu Brahms und seinem kolportiertem Spruch „Komponieren ist Arrangieren“, wobei wir jetzt wieder beim „Bolero“ und bei „Carmina Burana“ sind.
(Kurzer Schlenker: Auch ein Lied ist nichts anderes als ein Textarrangement – schaut auf euere GEMA-Abrechnung)
Kernthese: In Zeiten, als es noch keine Tonträger gab, war das einzige (musikalische), was die Leute vom Konzert mit nach Hause tragen konnten die Melodie, die sie „still“/leise vor sich herpfeifen konnten (oder kann jemand schnell aus dem Kopf singen, was beim Erklingen des Hauptthemas der „Moldau“ die 2. Geigen, Celli etc. spielen ?).
Diesen Umstand haben die Klassiker, angefangen von Papa Haydn bis zu Ravel und Orff schamlos ausgenutzt, und haben die Melodie, nicht permanent aber dennoch penetrant, bei allen ihren Kompositionen in den Vordergrund gestellt. Zudem haben sie die Nebenstimmen durch Vorschriften und Regeln an die Melodie gekettet und geknechtet, und damit das geschaffen, was allgemein als „Tonalität“ bezeichnet wird. (Vom Rhythmus und Takt will ich gar nicht sprechen – nur so viel: beim Nach-Hause-Gehen wird wohl eine Melodie im 2-er Takt besser sein, um diese mitzupfeifen – in Wien auch ein 3-er Takt, das hat weniger mit Wein zu tun als mit der hier typischen Glückseligkeit im Unbestimmten).
HEUTE gibt es Tonträger, JA und die Öhrstöpsel mit eingebauten Lautsprechern nicht zu vergessen(!), d.h. die Leute können sich das gesamte Werk mitnehmen (also auch alle Nebenstimmen etc.) – super(!), sage ich – wir befreien uns von den tonalen Fesseln (dieses Einhämmern der Melodie ist im Pop-Bereich noch aktuell, obwohl da auch im Abklingen begriffen), denn diese sind jetzt dank technologischem Fortschritts nicht mehr notwendig.
Und um die Sache perfekt zu machen: Stoßen wir doch diese alte Hure „Melodie“ endlich von unserer Bettkante.
Einen schönen Tag wünscht
wechselstrom
@wechselstrom:
Die „alte Hure“ Melodie endgültig von der Bettkante zu stossen scheint mir genauso unsinnig wie dem fetten Luden Rhythmus einen Arschtritt zu verpassen, weil sich ja jetzt jeder selber seinen eigenen Techno-Beat mixen kann, oder die olle Schabracke Harmonie zu schmähen, weil ja jetzt schon jeder seine eigenen sphärischen Klingeltonsounds „komponieren“ kann.
Grundelemente von Musik für tot zu erklären – und dazu gehört die Melodie ebenso wie alles mögliche andere auch – klingt immer erst mal markig, bleibt aber letztlich nur leere Behauptung, die sich schnell ad absurdum führt.
Wenn man sich die große melodische Krise in der Popmusik seit mehr als 20 Jahren so anschaut, dann merkt man, wie sehr gute Melodien einem fehlen.
Musik funktioniert ähnlich wie Sprache, und Melodik ist ein Teil seiner Grammatik, wird Sprache besser wenn ich die Grammatik weglasse?
Und außerdem: „tonale Fesseln“ und Melodie sind zwei vollkommen unterschiedliche paar Schuhe – letzteres geht auch ohne ersteres, oder?
@ eggy:
ich möchte die alte Hure von der Bettkante stoßen und Sie unterstellen mir Totschlag –
ts,ts,ts …
Den fetten Luden gibt es nur im Sinnzusammenhang mit der alten Hure, das haben Sie jedenfalls richtig erkannt.
Hier wäre ich mir nicht so sicher, denn jetzt gehen wir vermutlich von zwei verschiedenen Melodiebegriffen aus:
Ich meine die „alte Hure“ und Sie meinen vermutlich eine magersüchtige 16-jährige (!?!)
Dieser Vergleich greift nicht.
Auch hier wäre es zunächst zu erforschen, was Sie unter Grammatik verstehen (vermutlich meinen Sie Sprachgrammatik und nicht musikalische Grammatik ?)und zum anderen greifen Vergleiche Musik-Sprache aus viel tieferen und vielleicht auch interessanteren Gründen nicht:
Wir können uns zwar über Sprache mittels Sprache unterhalten (dass das geht ist eigentlich schon bemerkenswert) jedoch unterhält sich niemand über Musik mittels Musik, anders ausgedrückt: Beschreibung von Musik geschieht nie mit Musik selbst.
Um zum Abschluss zu kommen: Melodie, Harmonie und Rhythmus sind Begriffe, über die man im 19. Jahrhundert versuchte musikalisches Geschehen zu beschreiben. Dabei gab es immer eine Harmonielehre, eine Melodielehre wurde nie wirklich entwickelt – schon dieser Umstand zeigt, dass es mit „Melodie“ als „Grammatik der Musik“ nicht so weit her sein kann.
Man kann diese Begriffe heute weiter diskutieren – keine Frage – aber man läuft dann auch in seinem kompositorischen Schaffen den Stratifikationen des 19. Jahrhunderts hinterher.
Möchte Sie gerne im 21. begrüßen dürfen
wünscht sich
wechselstrom
Liebe Blogger
Finde einige Vorstellungen, wie hier über Melodie
und ihren angeblichen 1:1-„Sprachcharakter“ und über die Frage philosophiert wird, wie man wieder neue GEMA-Hits von morgen schreiben und an „klassiker der Moderne“, die dann 2040 (vorher schlägt Apophys auf der Erde auf und wie kriegen eh keine Rente mehr…)frei werden, ran kommen kann etc.nicht gerade weiter bringend.
Solcherlei Tendenzen gab es in der Musik schon immer eigentlich: „zurück zur Melodie, Zurück zur Harmonie etc. im Sinne von Zurück zu Tonalität oder sagen wir zum „Gefälligen“ oder sagen wir, der alte Traum, zurück zu einer Versöhnung mit dem Publikum, oder was auch immer-
Diese Sehnsucht kann sich ja in ALLEN Parametern zeige.
Zeichen einer reinen Publikumsorientierung bzw. dass es leider einigen eben NICHT mehr um Authentizität o.ä. oder um das Entdecken neuer Erfahrungen (bei sich selbst wie bei den Hörern) leider mehr geht sondern nur darum, wie man „gut ankommen“ kann…
Übrigens: finde,da kann man sich fast ein Beispiel an
kommerziellen, neoliberalen, Pseudo-Soft-Rappern
wie Fox neuem Hit „Haus am See“ nehmen…. Die kommen ohne jede geistreiche Melodie aus und werden trotzdem millionenfach verkauft.
Was zeigt, dass Melodie nicht das Wesentliche ist,
um einen Verkaufsschlager zu landen.
Verrohung und Primitivisierung sind „in“. BZw. so manche heutige, junge Radiohörer bzw. Mp3-Bediener können auf Grund ihrer medialen Verblödung und Zumüllung mit PC-Spielen etc. oft gerade mal noch 3 Töne nachsingen oder den Knopf ihres MP3-Players finden. Und daraus macht man heute dann die „Hits“.
Und dann heißt es noch oft in eigenen Reihen: Neue Musik-Komponisten, Ihr seid selbst dran schuld, dass Ihr da eingehen werdet, müsst Euch halt dem Niveau anpassen und die Leute da abholen wo sie (leider) stehen…
Und man solle nicht schwarz Malen bzgl. Bildungspolitik
und Volksverdummung und dem Desinteresse, was leider in vielen Schulen bzgl Vermittlung von Neuer Musik statt findet. Und „wir“ hätten es selbst verschuldet, die Isolation der Neuen Musik gegenüber einem Publikum, das immer ungebildeter wird (ohne selbst was dafür zu können, betone ich!) Und wir seien es selbst schuld, die GEMA-Krise und dass es keine „Neue Musik-Hits“ gebe (zum Glück gibt es sie nicht!)… und darum – unken nun einige – solle man doch am besten direkt alles „gleich setzen“ .
Sogar vor Petitionen im Bundestag, man möge doch die ganze GEMA reformieren und alles gleich schalten… schrecken manche Sich-Selbst-den-Ast-Absäger oder sagen wir besser „Arrangeure“ und Pseudo-Komponisten nicht mehr zurück.
Wechseltrom hat Recht: die „schöne Melodie“
ist eine Hure- und der Spruch kommt nicht von mir…
Gute nacht.
E.Janson
Äh Leute, lest doch mal bitte, was ich oben geschrieben habe – nirgendwo steht da etwas von „Melodie“ im Zusammenhang mit „Hits der Moderne“, das Thema hat der gute Wechselstrom aufgebracht, und ich habe ihm nur insofern widersprochen, weil er Melodik grundsätzlich für nicht mehr notwendig und obsolet erklärt hat.
Nirgendwo steht bei mir „zurück zu irgendetwas“, für mich ist einfach nur das verbraucht erklären von egal welchen Parametern einer Kunstform wenig ergiebig, das ist so wie wenn man in der Kunst die Farbe Blau für überkommen erklärt oder in der Literatur den Buchstaben „e“ als altmodisch diffamiert und fortan weglässt. Ok, Perec hat letzteres in „Voyls Fortgang“ genial getan, aber schulbildend wars jetzt nicht direkt…
Wie man mit Melodik umgeht, muß jeder als Komponist selbst entscheiden – jeder der ernsthaft damit umgeht, weiß, wie verdammt schwer interessante Melodik ist, gerade deswgen ist es ja so reizvoll. Und ich muß – und das ist eine ganz persönliche Meinung – gestehen, dass es mich freuen würde, wenn sich wieder mehr Komponisten interessant und neu mit diesem Thema auseinandersetzen würden. Ich habe zu viele entsetzliche Stücke für Soloflöte gehört, in denen einfach der handwerkliche Mangel des Nichtmelodischinteressantschreibenkönnens zutage tritt, und stattdessen einfach nur irgendwelche Spuckeffekte aneinandergereiht werden. Oder irgendwelche Wuschi-Wuschi-Klangwolkenstücke, bei denen das Ohr nur noch einen grauen Brei wahrnimmt.
Melodik ist ja nicht dazu da, um irgendwelche Trademarkspuren zur Wiedererkennung zu setzen, sondern macht auch in dem Moment des aktuellen Hörens sehr viel Freude. Der Erinnerungseffekt ist ein willkommener Nebeneffekt, aber gar nicht das Entscheidende.
Aber es ist genau wie mit der Oper – Melodik liegt nicht jedem.
Die Musikgeschichte zeigt, dass immer bestimmte Parameter im Vordergrund stehen und andere eine Zeitlang vernachlässigt werden. So ist das 20. Jahrhundert ganz sicher vor allem der Erforschung des Klangs und der Rhythmik gewidmet, dass Melodik nicht im Vordergrung stand heißt aber keinesfalls, dass sie nun für immer obsolet sei – auch nach dem Barock hat man keinesfalls für immer auf kontrapunktische Mehrstimmigkeit verzichtet, sie stand nur nicht mehr so im Mittelpunkt, nachdem sie lange Zentrum allen Bestrebens war (und erlebte letztlich in der seriellen Musik ihre Wiederauferstehung).
Also: nach vorne schauen (Wechselstrom) : ja, immer!
Melodik/Motivik/Melos/Hypermelos oder wir auch immer ihr das nennen wollt ächten: nein!
@eggy:
das habe ich gelesen:
bezeichnend ist, dass sowohl „carmina burana“ als auch „Bolero“ eine Bearbeitung von Altem ist (also Arrangement) und die jeweiligen Komponisten (Orff, Ravel) bestätigen das ja auch selbst.
Bezeichnend ist auch, dass dir eggy gerade diese beiden Titel in den Sinn kommen, und darauf bezog sich mein Reply.
Ich darf nocheinmal darauf hinweisen, dass es ein Unterschied ist, ob ich etwas auf der Bettkante sehe oder im Park oder im Schaufenster.
Alles klar mit der alten Hure?
wechselstrom
Liebe Blogger,
habe jetzt alles Obige gewissenhaft (und zeitaufwändig) durchgelesen und in allen Beiträgen Bemerkenswertes vorgefunden. Dabei erscheinen mir die eggy-Statements doch am fundiertesten (soviel Wertung muss sein…), da sie auf den Grundfehler der Neue-Musik-Szene (NMS) der letzten 60 Jahre eingehen: Nach dem 2. Weltkrieg hat sich die NMS im Laufschritt auf einen sehr sehr hohen Elfenbeinturm verzogen, unten standen Adorno und die ihm willfährigen Hochschulprofessoren und haben die hinaufhastenden Kompositions-Eleven mit der Verheißung, zwölftöniges sei demokratisches Komponieren, angefeuert. Oben angekommen, gab es nur noch die politisch gefärbte und sattsam bekannte Materialdiskussion. Das war damals ja auch nur zu verständlich; man musste sich von allem Vorausgegangenen reinigen – und das war auch zunächst gut so.
Unverständlich erscheint mir jedoch, dass diese Diskussion um die Grundstoffe, aus denen wir Komponisten Musik destillieren, bis heute als Pfahl im Komponistenfleisch steckt. Wie anders wäre es zu erklären, dass auch in diesem Blog schon wieder „Authentizität“ gefordert wird, das bedeutet für mich (oder verstehe ich etwas falsch?), dass jeder nur ja darauf achten sollte, nichts schon mal Dagewesenes zu wiederholen und nur das – vermeintlich – absolut Neue zuzulassen. Aber: Wer vor lauter Angst vor „Abgedroschenheit“ nur noch mikrotonal komponiert und schon Schnittkes Werke als Pasticcio abtut, der wird nie aus dem Elfenbeinturm herauskommen und darf dann auch nicht lamentieren, dass Leute den Saal verlassen, weil das Orchester so unerträglich falsch klingt (natürlich hat er dann die Mikrotonalität auch nicht besonders intelligent eingesetzt…). Wer demgegenüber (wie eggy) Toleranz gegenüber der Materialwahl des Einzelnen fordert (und sich aber dann leider mit der geradezu Brahms-bärtigen Diskussion über richtige und falsche Melodik befassen muss…), ist eben nicht ein Ewig-Gestriger, der in allem „zurück zu…“ will, sondern er hat einen höheren Freiheitsgrad im Umgang mit den Tönen erreicht (hervorragendes Beispiel aus der 1. Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist übrigens der Däne Rued Langgaard, der jetzt langsam entdeckt wird und zu Lebzeiten als Spinner galt; visit his website!). Warum darf denn nicht eine Rachmaninoffsche oder auch Bachsche Wendung neben einem Unterarmcluster (in der Klaviermusik) stehen, wenn beides der jeweiligen Ausdrucksintention sinnvoll dient? Oder, anderes Beispiel: Cantus arcticus von Rautavaara, wo Vogelstimmen einen Orchestersatz begleiten (die Liste ist unvollständig…). Also brauchen wir doch nicht unbedingt stilreines neues Material, sondern eher eine ungewöhnliche MaterialZUSAMMENSTELLUNG (=Komposition)!
Dann klappt’s übrigens auch mit dem Publikum, so jedenfalls meine Erfahrung. Es gilt halt die alte Weisheit: Die Leute müssen sich was vorstellen können, denn dem musikalisch Normalgebildeten (Typ Abokonzertbesucher) bleibt ein Titel wie „Hörfenuter“ (A.Hölszky) und wahrscheinlich auch die sich dahinter verbergende Musik aufgrund ihrer Überintellektualisierung rätselhaft. Und was nicht entschlüsselbar ist, interessiert halt nicht oder nur den Spezialisten, der sich auf Augenhöhe mit dem Verfasser befindet. Aus dem gleichen Grund hat die Bildzeitung auch mehr Leser als die Neue Zeitschrift für Musik. Diese Tatsachen sind sogar aus den Biowissenschaften ableitbar, vgl. z.B. M. Spitzer: „Musik im Kopf“ u.v.a.m.
Also: Ich finde, wer Musik schreibt, sollte wissen für wen. Und wenn seine Arbeit nur seine eigene peer group erreicht, dann sollte er das vorher gewusst haben und dazu stehen und nicht den Niedergang einer Musikkultur beklagen, die schon längst zum Marktsegment geworden ist wie viele andere Kulturinhalte auch. Wer ein Publikum haben möchte, das ihm (mindestens) den Lebensunterhalt in die Kasse bringt, muss eben aus dem Elfenbeinturm heraus und Erwartungshaltungen befriedigen – oder Taxi fahren. Auch wenn er die intellektuellen Zähne fest zusammenbeißen muss, wenn er hört, was Hans Zimmer verdient: Face the facts! Und in von eggy ganz richtig erkannter „Avantgarde-Arroganz“ dürfen sich solche Neidgefühle schon gar nicht sublimieren (s.o.), vielmehr sollten alle an der Musik Beteiligten dazu finden, möglichst vielen Herangehensweisen an Musik wohlwollende Toleranz oder besser wohlwollendes Interesse entgegenzubringen.
Danke für die anregende Diskussion und beste Grüße,
Uwe Strübing
@ Hallo Herr Strübing,
eigentlich wollte ich hier nicht wieder rein schauen, da Zeitmangel aber auch in mancher Hinsicht (weil sich solche Online- Diskussionen im Kreise drehen) Zeitverschwendung. Jedoch gebe ich zu Ihrem Kommentar und zu ihrer Sicht des „Alterns Neuer Musik“ (welches übrigens sehr wohl schon Adorno selbst auch fest stellte und bereits gegen den Material-Fetischismus wetterte) folgendes zu bedenken (ich kenne Sie nicht und weiß nicht, wie sorgfältig sie hier im Blog die Diskurse verfolgten: wie ich sehe sind Sie „Eggy“-Fan – sind Sie Konzerthörer?):
1. mit Authentizität war hier von den meisten Bloggern
keineswegs „Materialfetischismus“ oder „Über-Intellektualismus“ oder ähnliches gemeint, sondern diese
Negativ-Terminu wurde hier vielmehr nur gewissen Leuten im Zusammenhang mit dem Authentizitätsbegriff unter geschoben (u.a. auch mir). Authentizität meint NICHT „Materialfetischismus“ oder „Überintellektualisierung“ oder dergl., sondern etwas Neues, anderes, zumindest für mich, nämlich: Gewissenhaftigkeit beim Umgang mit Material, eben nicht: alles „klauen“ oder alte Muster – die z.B: beim Publikum gut ankommen, weil sie „fasslich“ sind – einfach BENUTZEN, ohne dass MIR das als Komponist entspricht.“Authentisch“ meint: als Komponist ehrlich zu sich selbst sein und sehr wohl auch weiter nach Originalitäten Ausschau halten und beim Komponieren nicht primär auf Publikumserfolg oder „direkt Verstanden-Werden“ zu schielen.
2. Was ist gegen „intellektuelle“ – ich würde besser sagen – aufregend zu enträtselnde Werktitel (wie Ihrem Bsp. von Hölszky) einzuwenden?
Muss ein Publikum immer gleich beim ersten Hören alles „verstehen“? Wieso soll überhaupt Neue Musik „verstanden“ werden?
Was heißt überhaupt „Überintellektualisierung“? Immer wieder wird dieses nichts sagende Klischeewort im Zusammenhang mit nicht direkt eingäniger Neuer Musik verwendet. Was soll dies besagen oder bringen?
Sollen sich denn die zeitgenössischen Komponisten immer nach dem (Klassik)Abo-Publikum richten? (N.B., selbst der konservative Abo-Hörer, der z.b. auch ein Konzert mit Neuer Musik abonniert, dem unterstelle ich auch zunächst mal, dass er NEUES bzw. auch nicht direkt beim ersten Hören „Fassliches“ oder „Verständliches“ erfahren WILL und auch mal Musik, die nicht in Kategorien wie „neue Melodik“ ..Harmonik“ oder wie immer denkt!)
Wissen Sie, es gibt zunehmend „Abo-„Hörer, die froh sind,
wenn mal was Zeitgenössisches neben Mozart, Strauss, Bach steht, was eben NICHT nach „neo“ klingt oder krampfhaft die Rückbesinnung auf Klassiker oder Romantiker sucht.
Mir sagte vor Tagen ein Musiker (er spielt bei den Wiener Symphonikern, wo bekanntlich viel Gängiges gespielt wird und wo bestimmt viele Abo-Besucher ein und aus gehen): Was wollen manche Leute immer an der Neuen Musik „verstehen“? Solche Leute verschließen sich
von vorne herein neuen Erfahrungen, wenn sie von Neuer Musik gleich erwarten, die direkt zu „verstehen“.
Und – noch was Bemerkenswertes, dem ich nur zustimmen kann, sagte mir der Musiker: Wenn ich Romantisches oder Klassisches oder Altbekanntes hören will, dann höre ich mir lieber die ORIGINALE (z.B: eben Brahms etc.) an, und nicht die neuen Aufgüsse davon.
Die Gleichung: „Fasslichkeit beim Komponieren schon einkalkulieren“/ Naturstimmen einbauen/ Konkrete Werktitel und „fassliche Musik“/ z.B. (fassliche) Melodien, Harmonien o.ä. = Publikumserfolg bzw. „dann klappt es mit dem Publikum“, dies sind Losungen, die nicht mal zu Zeiten VOR der Hofmusik (bzw. vor
Den Menschen wird so die Möglichkeit genommen, neue, auch unerwartete Hör- und Lebenserfahrungen zu machen beim Musikhören, wenn Komponisten nur nach „Bloß nicht mehr-Widerborstig-Sein“ oder „immer-gleich-verstanden-werden“ schielen würden. Die Sensibilitäten und Offenheiten der Wahrnehmungskanäle würden schrittweise abgetötet bzw. abgestumpft. Das Ergebnis wäre eine langweilige, neoliberale Art Einheits-Musik (wie ja man sich nur größtenteils schon im U-Bereich bei den Pop-Charts anschauen kann, die verkaufsmäßig gut „funktionieren“). Und dies tun – nach meiner Erfahrung – die Hörer zunehmend GERNE, sich auf Neues einzulassen.
Man muss ihnen nur GELEGENHEIT dazu geben und nicht ständig immer wieder z.B. auch Bestrebungen von Konzerthäusern, mal Unbekannteres und auch „Schwieriges“
auch dem Abo-Publikum „vor zu setzen“ gleich im Keim
ersticken. Inden gleich gewisse Konservative gleich wieder anfangen zu maulen.
Schauen Sie nur mal z.B: KINDER an, wie kreativ Kinder im Erfinden von NICHT VERSTÄNDLICHEN Fantasie-Namen und Spielen sind…
Haben Sie darüber einmal nachgedacht?
Aber es passt vielleicht auch dazu, dass unsere neoliberale Gesellschaft
Und nehmen Sie nur mal Beethoven, Mozart und die vielen „gut gehenden“ Klassiker zu IHRER ZEIT. Vieles wurde von denen auch damals nicht verstanden und verschloss sich dem Publikum.
Und was bringen uns hier Schlagworte wie „Avantgarde-Aroganz“ oder die Unterstellung von „Neidgefühlen“
gegenüber denjenigen, die Werte wie Originalität und die Suche nach Experimentellen weiterhin nicht aufgeben möchten. Dies ginge an jeglicher, ernst zu nehmender Ästhetik-Diskussion vorbei, weil es die ewig gestrigen polemischen und diskriminierenden Gegenargumente sind gegenüber Leuten, die nicht mit dem „Neo“- oder „Wir-wollen-primär-geliebt/verstanden werden“-Strom mit schwimmen möchten.
Auf Ihre anderen platten Statements wie z.B. „Erwartungshaltungen befriedigen oder Taxi fahren“
brauche ich wohl nichts mehr kommentierend zu sagen:
Zudem gibt es ja auch noch vieles ZWISCHEN Komponieren
und Taxi-fahren… Und was ist an Taxifahren so schlimm?
Und wenn ich mir das hier so ansehe, dann erreicht
gerade dieser NMZ-Blog eben jenes Bildzeitungsniveau, das Sie, Herr Strübe, scheinbar als vorbildlich für die Neue Musik-Szene darstellen oder sich wünschen. Nur mit dem Unterschied, dass der Blog hier eben NICHT hohe Leserzahlen erreicht, auch wenn er noch so „reißerisch“, polarisierend und neoliberal in manchen Statements daher kommt. Wie ich erfahre von vielen Kollegen – kennen sogar immer weniger Leute aus der Szene diesen Blog überhaupt – oder ignorieren ihn mittlerweile, weil die meisten schockiert über die hier sich selbst feiernden Neo-Konservativismus und Marktgesetz-Verherrlichungen sind.
Und so sag ich nun auch: ignorieren statt füttern.
Meint,
Erik Janson
Lieber Erik Janson,
In aller gebotenen Kürze möchte ich mich doch nochmal zu Wort melden, da natürlich Ihr Rundumschlag, der so harmlos anfängt und mir zum Schluss dann Platitüden unterstellt, nicht unwidersprochen bleiben kann. Einige wenige Anmerkungen seien mir deshalb bitte gestattet, und ich werde dabei chronologisch vorgehen.
1. Ich bin Konzerthörer. Ich heiße nicht Strübe, sondern Strübing. Ich bin übrigens auch Komponist. http://www.uwemusic.de
2. Ein Publikum muss selbstverständlich nicht „immer beim ersten Hören alles verstehen“. Es muss aber einen Zugang zum vorgetragenen Werk angeboten bekommen. Wenn uns unsere Zuhörer egal sind, dann betreiben wir mit unseren Werken lediglich geistige Selbstbefriedigung. Für mich dient Musik nicht der Nabelschau des Komponisten, sondern erfüllt eine qualitätvolle Funktion erst dann, wenn Komponist, Ausführende(r) und Zuhörer zufriedengestellt sind. Deshalb sind für mich Fasslichkeit und Verständlichkeit keine Schlagworte, sondern conditio sine qua non für ein gelingendes Komponieren. Das heißt nicht, dass meine Musik nie widerborstig oder schwierig wäre, aber ich denke beim (und vor dem) Komponieren bereits über mich selbst hinaus – an die, die’s spielen und hören wollen/müssen. Das bezieht den sozialen Aspekt von Musik in höchstem Maße mit ein, und da gehört schon ein gehöriges Maß an Chuzpe dazu, mich in irgendeine „neoliberale“ Ecke stellen zu wollen J!
3. Natürlich soll man den Hörern Gelegenheit geben, „neue“ Hörerfahrungen zu machen;
Neue Musik gehört auf jedes Konzertprogramm, da sind wir uns völlig einig! Aber bei dessen Gestaltung sollten keine Instanzen vorgeschaltet sein, die Partituren, welche aus den oben geschilderten Gründen die eine oder andere traditionelle Wendung enthalten, aussondern und der „Ablage P“ überantworten (soviel zum Thema Arroganz der Avantgarde!). Dies meinte ich mit „wohlwollende Toleranz / wohlwollendes Interesse“ am Schluss meiner erstmaligen Ausführungen.
4. Am Taxifahren ist überhaupt nichts schlimm. Auch ich verdiene nicht primär mit Komponieren mein Geld (das hat den Riesenvorteil, dass ich eben keine „neoliberale Einheits-Musik“ schreiben muss, sondern meinen eigenen Stil finden konnte und mir Stellungnahmen wie die vorliegende leisten kann, ohne auf irgendeinen Ruf achten zu müssen). Wer durch Taxifahren sehenden Auges den Preis für seine (echte oder vermeintliche) Originalität zahlt, hat meine allerhöchste Hochachtung! Er muss dann aber auch die Marktgesetze (dummes, neoliberales Wort, aber sachlich richtig) anerkennen und darf nicht darüber jammern, dass er nicht vom Komponieren reich wird oder die GEMA ach so böse ist. Über den intellektuellen Überbau dieser Marktgesetze gibt es übrigens ein überaus lesenswertes Buch: Christine Bauer-Jelinek: „Die geheimen Spielregeln der Macht“ /ecowin-Verlag. Ich gebe zu, dass der Titel abstoßend ist, aber der Inhalt vermittelt heilsame Einsichten!
Meint Uwe Strübing