Wiedersehen mit Mahler 3
Gestern – am Donnerstag, den 12. Juni 2014 – hörte ich wieder die Berliner Philharmoniker mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 3 d-Moll – es dirigierte Gustavo Dudamel (als Ersatz für den leider wieder erkrankten Mariss Jansons; meinem weltweit am meisten geliebten Musiker überhaupt…). Zuletzt hatte ich das Orchester mit diesem allumfassenden Werk am 20. Dezember 2008 unter Zubin Mehta erlebt. Und auch drüber geschrieben.
Ich glaube nicht an Gott. Aber in letzter Zeit passieren Dinge, die mich an meinem Atheismus zweifeln lassen. Bedeutungen, „Zufälle“, Übereinstimmungen… Ähnliche Erlebnisse haben Menschen vor unglaublich vielen Jahrtausenden mal religiös werden lassen. Ein heftiges – nie erlebtes – Unwetter, ein Komet, eine Sonnenfinsternis: und Bumms, musste das Ganze eine Bedeutung haben – und von jemandem „da oben“ geschaffen sein. Weil wir ja so wahnsinnig wichtig sind hier unten – und alles, was passiert natürlich nur uns gilt! Was für eine Unverfrorenheit. Die Natur schert sich einen feuchten Erdendreck um uns! Aber ich finde das süß an der Menschheit, dass wir immer so bedeutungsschwanger sind – und alle „Wunder“ auf uns beziehen. Und dann einfach mal lecker eine Religion draus machen (mit den ganzen Folgen: Menschen- und Tieropfer, Religionskriege mit Millionen von Toten, Intoleranz gegenüber anderen Religionen, Homosexuellen, Atheisten… im Gegensatz dazu lässt sich positiv für die „Erfindung Religion“ verbuchen: die Musik von Johann Sebastian Bach, ohne die es beispielsweise den Protestantismus heute schon nicht mehr gäbe).
In jedem Fall dachte ich mir („zufällig“): schauen wir doch (nach Jahren) wieder mal auf diesen Online-Tagesrechner. Der kann nämlich beispielsweise ausrechnen, wie viele Tage ich schon lebe: es sind 12844.
Wie viele Tage sind also seit dem 20. Dezember 2008, seit dem letzten Mahler-3-Erlebnis mit den Berliner Philharmonikern vergangen?
Es sind exakt 2000 Tage.
Ich glaube nicht mehr an Zufälle. Aber 2000 ist eine schöne und seltsam rund wirkende Zahl.
Zwischen 2008 und gestern habe ich Mahlers Dritte noch zwei Mal gehört. Einmal mit Ingo Metzmacher und dem DSO und Anfang 2012 mit Iván Fischer und dem Konzerthausorchester Berlin.
Gestern also unter Dudamel, dem ich ja – aus irgendwelchen „kritischen“ Gründen – immer mal wieder skeptisch gegenüber stand. Aber was er gestern mit den Philharmonikern machte (und die Philharmoniker mit mir/uns): das muss mit ihm zu tun haben. Dudamel (auswendig dirigierend) nahm sich ganz zurück, keine Sunny-Boy-Show, sondern viel Respekt und Freude.
Die Philharmoniker spielten um ihr Leben. Ich habe dieses Orchester noch nie so aus sich herausgehen sehen. Der wunderbare (aber durchaus auch mal gelangweit dreinblicken könnende) Emanuel Pahud pfoff mich mit seinen Flötenkollegen so expressiv und ohne Kompromisse an, dass man sich körperlich angenehm beschädigt sah.
Der Solo-Posaunist – in seinem ganz persönlichen Solo-Konzert (dem 30-minütigen ersten Satz der Sinfonie…) – knarzte, bröppelte und sang auf seiner Saupone so rein und erdentöchtergleich… ein Geschenk. Der Solo-Hornist spielte mit so viel Stolz, einer Präsenz, mit einem Volumen und mit einer dreisten Sicherheit: ich wurde – wie immer bei guter Musik – zum Kind…
Die Knaben des Staats- und Domchors Berlin hätten ihr „Bimm-Bamm“ fieser, doller, jungenhafter singen dürfen. Sensationell dafür die Solo-Sopranistin Gerhild Romberger. Zum ersten Mal in meinem Mahler-3-Leben war ich vollends überzeugt. Endlich sag mal eine Mahler-3-Solistin nicht zu Beginn gleich „Oh Mönch!“, sondern (richtig): „Oh Mensch!“
Wobei es natürlich lustig ist, „Mönch“ mit „Mensch“ zu verwechseln…
„Alle Mönche werden Brüder“
„Mönch bleiben!“
„Von Mönch zu Mönch“
„Aktion Mönch“
„Mönch ärgere dich nicht“
Herbert Grönemeyer: Mönch
„Die Würde des Mönchs ist unantastbar.“
Stiftung Mönch und Umwelt
Mahlers Dritte wird mich weiter begleiten.
Und nein: ich habe keine Minute des anschließenden Fussballspiels gesehen.
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.
@Arno Lücker: Deine Mahler-Verehrung in allen Ehren, aber was hat sie in einem Blog für zeitgenössische Musik zu suchen (zumal sich dein Text zudem auch noch hauptsächlich mit den Interpreten beschäftigt)?