Ossia – Wir können auch anders

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  • kurze Glosse über eine unterschätzte Möglichkeit.

 

Die Opernpraktiker gehen häufig damit um: wenn ein Ton nicht in der Gurgel ist, ob zu hoch oder zu tief, muss eben ein anderer Ersatzton her. Manchmal wird diese Version von den Komponisten vorsorglich notiert: ein „ossia“,  in kleiner Notenschrift über die betreffende Stelle gesetzt.

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Bei den InstrumentalkomponistInnen gibt es das etwa seit dem 19. Jahrhundert auch: notierte „ossia“-Vorschläge. Sofort fallen mir Beispiele von Johannes Brahms in seinen Klavierstücken ein. Tante Helene oder Eduard  Moosleitner von der Siemens AG am Feierabend oder ich selbst auf meinem schütteren Pianola dürfen getrost auf diese meist deutlich leichtere „ossia“-Fassung einer perlenden Stelle zurückgreifen.

„Ossia“ = „oder auch“ – schon das Wort steht einer Ästhetik entgegen, die in dem Kunstwerk die Logik, das So-und-nicht-anders feiert. Notentreue ist ja im Allgemeinen verbindlicher Maßstab heutzutage. Bei hochvirtuosen Stücken wird das „ossia“ manchmal stillschweigend vollzogen, ebenso in der Neuen Musik, Stichwort dann: „unspielbar“.

Man kann natürlich  nicht einfach alles irgendwie ersetzen. In klassischen Musikstücken ist zum Beispiel eine Änderung an der Harmonik ein tiefer Eingriff. Ebenso Änderungen an den Taktgruppierungen sind häufig tabu – aber auch hier gibt es durchaus Ausnahmen. Und auch  in einer 12-Ton-Reihe kann man nicht einfach einen Ton durch einen anderen ersetzen . Oder doch? Schönberg hat das ja auch manchmal gemacht…?

Als Komponist, der Tongestalten erfindet, ist man nämlich  immer wieder erstaunt, wieviel dann doch ersetzbar ist an einem Thema. Es geht manchmal soweit, dass man sich fragt, was genau dieses Thema eigentlich ausmacht. Und landet dann bei dem „feel“, wie Brian Wilson es nannte, oder bei dem „Ort hinter den Noten“, wie ich es gelegentlich unbeholfen bezeichne – eine ominöse innere Bewegung oder auch Stelle des Aufenthalts, die zum Ausdruck kommen will.

Ein Meister des Ossia war Wolfgang Amadeus Mozart. Immer mal wieder wurde ihm im Nachhinein  fast vorgehalten, dass seine Tonfiguren so schablonen-,  ja formelhaft wären, dass sie  austauschbar würden, dass bei ihm im Grunde jede Figur auf die andere folgen kann. Ich würde es auch so beschreiben, dass bei ihm die Fähigkeiten der Kombinatorik derart genial ausgebildet waren, dass ihm immerfort neue Möglichkeiten in einer bestehenden Situation einfielen, er um Lösungen nie verlegen war. ( in der „prästabilierten Harmonie“, die dann auch immer zitiert wird )

Im Grunde führt Ossia also in die Welt des Spiels. Wenn das nicht geht, dann geht eben das – oder geht noch was anderes?

Oder auch in die Welt der menschlichen Demut. Wenn eine Sache wirklich nicht geht, muss ich mich von der ursprünglichen Idee eben lösen.

Ich habe einmal eine ganze Ossia-Version eines Liedes geschrieben. Das hatte aber keine innermusikalischen Gründe, sondern rechtliche. Die vertonten Gedichtzeilen stammten von einem bekannten verstorbenen deutschen Dichter, der noch nicht rechtefrei war. „Ausgeschlossen“ war die erste Auskunft bei seinem Verlag. „das können Sie glatt vergessen“. Der weitere Weg führte über seine Witwe, die mir dann doch Vertonungen erlaubte, allerdings nur von kompletten Gedichten. Ich hatte aber bereits lediglich einen Ausschnitt vertont. In meiner Not bediente ich mich nun des schon von Bach praktizierten Parodieverfahrens. Ich blätterte alle Gedichte des Autors durch, nur allein auf der Suche nach einem Gedicht, dessen Text mit seinen Silben auf das bereits bestehende Lied passen würde. Weiter sage ich jetzt nichts dazu , nicht, welches Lied es ist, nicht, welches Gedicht, und auch nicht, welcher Autor.

In diesem Fall blieb bei meinem Ossia im Hintergrund für mich selbst immer die Ursprungsidee präsent. Manchmal singe ich den Liedanfang noch mit seinen Urspungszeilen vor mich hin. Manchmal allerdings drängt ein Ossia auch so stark ins Leben, dass es die ursprüngliche Version anstandslos ersetzt, sie vergessen macht.

Im Theater gibt es ganze Figuren eines Stückes, die eine Art Ossia darstellen, irgendwann reingerutscht sind in die Handlung und nun dort ihr Unwesen treiben.

Und ist nicht letztlich unsere ganze Kunstausübung eine Art Ossia? Haben wir Künstlerinnen und Künstler nicht alle eine Art Behinderung, wodurch wir die Notwendigkeit verspüren, die Welt an gewissen Stellen zu Recht zu modeln?

„Tut mir leid, die Welt ist wie ein zu hohes C für mich, ich muss mir das etwas anders zurecht legen, kann ich auch A singen?“

 

( Jobst Liebrecht, 24.8.2025 )

 

 

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