Schönberg und die Taliban
Ein Gastbeitrag von Bernhard König
Schönberg und die Taliban
„Land, aus dem ich kam
bist erschöpft von Qual, Verfolgung
Land, aus dem ich kam
bist verstummt, bist ohne Lieder
Land, aus dem ich kam
wer gibt deinem Leiden Stimme?
Land, aus dem ich kam“
So lautet eine frei übersetzte deutschsprachige Version des Refrains zu „Sarzamine Man“, einem Lied in persischer Sprache, das zur informellen Hymne der afghanischen Exilant:innen geworden ist. In andere Regionen der Welt werden Heimatlieder gesungen, die eine realitätsferne Idylle heraufbeschwören. Sarzamine Man hingegen benennt den Schmerz, eine Heimat verloren zu haben, die vor einem halben Jahrhundert zum Spielball geopolitischer Machtspiele wurde und sich nie ganz davon erholt hat, um vor zwei Jahren dann schließlich der Diktatur der Taliban überlassen zu werden.
Seit Ende August diesen Jahres hat Deutschland wieder begonnen, in dieses „Land, aus dem ich kam“ abzuschieben. Derzeit scheint sich diese Regelung allein auf solche Asylsuchende zu beschränken, die wegen besonders schwerer Straftaten verurteilt wurden. Doch wird es bei dieser Einschränkung bleiben? Noch vor wenigen Jahren genügte ein Ladendiebstahl oder ein Verstoß gegen den Paragraphendschungel des Ausländerrechts, um nach Afghanistan abgeschoben zu werden.
Dass diese Praxis vor zwei Jahren beendet wurde, hatte einen guten Grund. Der kurzfristige Abzug der NATO von 2022 hatte nach vielen Jahren der Besatzung ein Machtvakuum hinterlassen, das umgehend von den Taliban gefüllt wurde. Tausende von afghanischen Ortskräften, die den ausländischen Besatzern – darunter auch der Bundeswehr – jahrelang als Übersetzer und zivile Helfer zugearbeitet hatten, mussten um ihr Leben fürchten. Doch das schlechte Gewissen angesichts dieses Desasters hielt nicht lange vor: Zwei Jahre später wird ausgerechnet dieses gebeutelte Land als Exempel auserkoren, um in den hiesigen Wahlkämpfen zu punkten und im Wettstreit mit der AfD Härte zu demonstrieren. Keine Frage: Die Messerattacke von Solingen war entsetzlich. Doch wer dieses Verbrechen mit dem Thema „Asyl“ verknüpft und im gleichen Atemzug vom „Schutz unserer Werte“ spricht, verschließt die Augen davor, dass diese Werte und dieses demokratische und menschliche „Uns“ im vergangenen Jahrhundert überhaupt nur deswegen überdauern konnte, weil seine Verteidiger:innen Zuflucht im Ausland fanden.
Was dies alles mit Neuer Musik zu tun hat? Für die Geschichte der deutschsprachigen Neuen Musik ist die kollektive Erfahrung von Verbot, Unterdrückung, Vertreibung und Heimatverlust geradezu konstitutiv. Hätten Adorno, Hindemith, Korngold, Krenek, Schönberg, Toch, Weill und viele andere damals nicht ins Exil gehen können, dann würde diese Musikkultur heute nicht existieren. Gerade wir als ihre Nachfahren sollten also wissen, wie geschichtsvergessen und grundfalsch es ist, schrittweise das Asylrecht auszuhöhlen.
Im Deutschland von damals galten Jazz, Swing, Neue Musik sowie alles aus jüdischer Feder als „entartet“. Im Weltbild der Taliban (das in tiefem Widerspruch sowohl zum Koran als auch zur kulturellen Vielfalt in der restlichen islamischen Welt steht!) gilt nicht nur diese oder jene, sondern jegliche Musik als „haram“ und unislamisch. Seit ihrer Rückkehr an die Macht ist der Besitz von Musikinstrumenten wieder strafbar. Alles, was in den Jahren zuvor an Strukturen entstanden ist – darunter eine Musikschule in Kabul mit einem gemischten Jugendchor und einem Mädchen- und Frauenorchester – wurde zerschlagen. Auch die islamisch geprägte und mündlich überlieferte traditionelle Kunstmusik, in der sich arabische, persische und indische Einflüsse begegnen, kann nur noch im Untergrund oder im Exil überdauern.
Am schlimmsten trifft es, wie so oft, die Frauen. Das seit August 2024 gültige „Tugendgesetz“ zwingt sie, gänzlich stumm zu bleiben. Frauen, die in der Öffentlichkeit laut sprechen oder gar singen, müssen damit rechnen, von der Sittenpolizei aufgegriffen zu werden und in Untersuchungshaft zu kommen. Bei mehrfachen Verstößen werden sie vor Gericht gestellt.
Auch in Deutschland leben afghanische Musiker:innen, die vor den Taliban geflüchtet sind. Nur sehr wenige von ihnen haben es geschafft, sich die Musik dauerhaft zum Broterwerb machen. Und natürlich gibt es darüber hinaus auch noch viele weitere wunderbare Musiker:innen aus vielen weiteren Ländern, die vor Kriegen, verbrecherischen Diktaturen oder zunehmend unerträglichen klimatischen Bedingungen fliehen mussten.
Angesichts unserer eigenen jüngeren Musikgeschichte, die an einem ihrer entscheidenden Wendepunkte eine Geschichte der Flucht und des Exils war, sollten uns diese Kolleg:innen nicht gleichgültig sein. Warum nicht, statt im eigenen Saft des altgewordenen „Neuen“ zu schmoren, noch viel häufiger und viel aktiver auf unsere neuen Nachbar:innen und ihre altehrwürdige Musik zugehen? Warum nicht viel mehr Studien- und Sendeplätze für sie schaffen, viel mehr Fördermittel und Festival-Slots für sie freiräumen? Nicht, um sie zur „Partizipation“ einzuladen oder ihnen irgendetwas „vermitteln“ zu wollen, sondern um Ressourcen und ein Stück Definitionsmacht an sie abzutreten – auf dass sie ihre Musikkulturen im Exil beheimaten, neu erblühen lassen und weiterentwickeln können.
Die deutschsprachigen Exilanten der 1930er Jahre, ohne die es unsere heutige „Neue Musik“ nicht gäbe, haben in den USA nicht nur Schutz gefunden, sondern auch viele produktive Spuren hinterlassen. Weil sie nicht müde wurden, in ihrer neuen Heimat von „bei uns in Berlin“ oder „bei uns in Wien“ zu erzählen, verpasste man ihnen den hübschen Spitznamen „Bei-Unskis“. Als Unski-Erben sollten wir zu denen halten, die „bei uns“ in Europa Zuflucht suchen und deren eigenes, verlorengegangenes „Bei uns“ nur noch in einem traurigen Heimatlied nachklingt.
Bernhard König