50 Jahre ABBA „SOS“

 

Als vor kurzem beim Grand Prix in Stockholm Demonstrationen gegen die Teilnahme einer Sängerin stattfanden, nur weil sie aus Israel kam, konnten ältere Popfans ein Déjà-Vu erleben. Denn vor etwa fünfzig Jahren wurde in Stockholm ebenfalls groß demonstriert – damals gegen ABBA! Als diese kurze Zeit später berühmteste Pop-Band der Welt 1974 den Grand Prix mit ihrem Hit „Waterloo“ gewonnen hatten, löste dieses in Schweden durchaus keinen Jubel aus. Im Gegenteil. Da der Name „Abba“ in Skandinavien bereits bekannt war als Firmenname von Fischkonserven, wurde ihre Musik in Presse und Öffentlichkeit als „fischig“ geschmäht, als „reiner Kommerz“, dem es nur ums Geld gehe, als seelenlose Oberflächlichkeit. Ihre Bühnenkleidung galt als albern, die freundlich korrekte Haltung der beiden verbandelten Paare als angepasst und stromlinienförmig. Und als Schweden in Folge des Triumphs von ABBA den Grand Prix 1975 selbst ausrichten sollte, wurde dieses durch Großdemonstrationen, an denen damals 200 000 Menschen teilnahmen (!) verhindert. Frei nach dem Motto: „Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen“ wurde auch damals in Schweden  von den beteiligten demonstrierenden MusikerInnen der „PROGG“-Bewegung nur das Beste gewollt: Engagement gegen den Putsch in Chile, Engagement gegen den Krieg Amerikas in Vietnam, Engagement für eine politische Folk-, Pop- und Rockmusik, sie sich sowohl textlich als auch musikalisch einmischen soll. Aber, in der Rückschau betrachtet, wie konnte sich das bloß gegen PopkünstlerInnen wie ABBA richten? Wie konnten ihre Gegner sich soweit versteigen, dass zum Beispiel Jazzmusiker wie Janne Schaffer, die auf Aufnahmen von Abba mitspielten, deshalb von Festivals ausgeladen wurden? Die Rückschau sollte uns als Warnung dienen.

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In meiner Generation haben eigentlich die meisten im Nachgang ein  eher zärtliches Verhältnis zu ABBA. Sie waren in meiner Kindheit und Jugend schlichte Gegenwart, überall waren ihre Melodien, sie haben uns begleitet durch unser ganzes Leben hindurch, sie waren immer da. Es ist klar, als pubertierende Jungen waren wir manchmal nach außen hin eher für „härtere Bands“ wie Status Quo oder Kiss usw., und ABBA galt dann als zu „soft“ und „clean“, als „etwas für Mädchen“, aber im Stillen und Geheimen hörten wir ja auch gebannt zu, wie immer wieder ein neuer toller Hit von ABBA herauskam und sich bei uns breitmachte.

 

Wie sehr ihre Melodien sich ins kollektive Gedächtnis gesetzt haben, wurde mir erst kürzlich wieder deutlich, als ich den bezaubernden Musical-Film „Mamma Mia“ mit Meryl Streep in der singenden Hauptrolle angesehen habe. Mich erfasste während des gesamten Films eine tiefe Rührung, als mithilfe von fulminanten SchauspielerInnen und großangelegten Massen-Chor-Szenen die ABBA-Songs noch einmal auf eine völlig neue dramatische Höhe gehoben wurden, die sehr nah an die OPER herankam. Etwas in mir klang die ganze Zeit mit und resonierte auf tiefem Grund.

 

Um dieser Verzauberung nachzugehen, muss ich mich sehr weit zurückerinnern. Ich war noch ein Kind  und gerade in die 5. Klasse auf das Gymnasium meiner Hamburger Vorstadt gekommen, also etwa elf Jahre alt. Bei einem Schulfest wurde in allen Räumen der mich überwältigenden, großen Schule etwas veranstaltet, zum Besten gegeben, ausgestellt. Im achteckigen Musikraum der Schule, der später für mich weiter große Bedeutung haben sollte, war alles verdunkelt, und ein Filmprojektor wartete auf uns als ZuschauerInnen. Ja, wurde mir gesagt, Jan aus der Oberstufe drehe selbst Filme und werde uns gleich was vorspielen. Und dann, als die unbeholfen wackelnden, flimmernden Super-8-Bilder den Raum zu erleuchten begannen, als der Film mit seinen LaiendarstellerInnen loszitterte, prallten sie gleichzeitig urplötzlich auf mich hernieder, diese hämmernden Klavierakkorde, die den Song „SOS“ von ABBA einleiten. Die Bekanntschaft mit diesem Song, diesem Meisterwerk, wie ich heute sagen würde, die ich damals zum ersten Mal machte, war sofort absolut überwältigend. „SOS“ mit seiner Mischung aus leidenschaftlicher Wehmut und euphorisch-inständigem Aufbruch verband sich in diesem Moment für mich nicht nur mit sehnsüchtigen Super 8-Filmszenen, sondern mit meiner Gesamtsituation an dieser neuen Schule. Ich ging danach in den nächsten Wochen durch die großen Flure, umgeben von größeren Jugendlichen und Erwachsenen, und immer blieb in mir diese „SOS“-Melodie präsent, sie wurde für mich zum Markenzeichen meiner neuen Schule, zur Melodie meines Aufbruchs ins Ungewisse, ja eigentlich von der Kindheit in meine Jugend hinein.

 

 

Die gehämmerten Klavierakkorde dieses Anfangs, diese in d-Moll von der Quinte a absteigenden Terzen, sind die Signatur des Liedes. Auf der ganzen Welt erkennt es fast jede/r sofort an diesen Einleitungstakten. Sie entfalten einen einmaligen Sog. Dieser entsteht zum einen maßgeblich dadurch, dass im dritten Takt das Metrum auf einen 3/4-Takt reduziert wird und so in den vierten Takt mit seiner tiefgründig zwischen a, b und f pendelnden Klaviergirlande wieder nach d-Moll quasi hineingezogen wird:

 

Zum anderen wird hier auch gleich vorgestellt, was dann eine der größten Errungenschaften von ABBA für die Popmusik bleiben sollte: der Klang des Klaviers ist auf höchst raffinierte Weise synthetisch verfremdet. Sei es, dass ein altes Kneipenklavier benutzt wurde, sei es, dass ein neues Keyboard mit eben diesem Klang benutzt wurde, sei es, dass ein Klavier mit neuartigem Studioklangeffekt derartig verfremdet wurde … ich weiß es im Moment nicht, dieses war zu dem damaligen Zeitpunkt der Aufnahmetechnik noch alles in der Schwebe, und vieles wurde noch aufwändig händisch hergestellt und hingefummelt  – der Effekt jedenfalls ist, dass die Klavierakkorde etwas Künstliches, etwas Synthetisches bei sich führen, dass sie umso pathetischer in uns hinein hämmern lässt. Und im vierten Takt wird das Pathos aufgehoben durch vollends einen Synthesizer-Klang auf der Drehfigur. Verantwortlich bei ABBA war für diese Klänge ihr „fünftes Mitglied“, der legendäre Tonmeister Michael B. Tretow.

 

Zweimal klingelt der Synthesizer, dann gibt es den nächsten „Aha“-Effekt: Das Lied wechselt komplett seine Klangebene. Der Gesang von Agnetha Fältskog übernimmt gebieterisch die Szene: „Where are those happy days? They seem so hard to find…“ Die klagende Melodie pendelt im Stil eines frühbarocken Lamentos um die Moll Terz f . Die auf d-Moll folgende Dominante erscheint in mit der Terz im Bass und Umspielungen in einer an den verminderten Septakkord angenäherten  Form, was den Eindruck von barocker Harmonik verstärkt. Der begleitende Klang des Klaviers wechselt vom hämmernden Pathos des Anfangs auf atmosphärisch weiche Umspielungen. Ein wichtiger Bestandteil dieser neuen Klangebene, der ebenfalls in Richtung Barock oder Folkmusic zielt, ist auch eine später mitspielende Blockflöte. Die Melodie schwingt sich mit der Tonikaparallele F-Dur zum Ton a empor: „Whatever happened to our love? I wish I understood.” und fällt zurück zur Mollterz f: „it used to be so nice, it used to be so good.”

 

Mit geringsten Mitteln, oder vielmehr maximal geschärften, reduzierten Elementen wird hier, dargestellt von einer großartigen Sängerin der größte Ausdruck erzielt.  Dieses ist etwas, was die  heutige sogenannte E-Musik viel stärker aus der Popmusik übernehmen könnte. Mit großer Stringenz werden in dem Song nur die in der oben abgebildeten Klaviereinleitung vorgestellten Zentraltöne f, a, – begleitet von d, g, b und e angesteuert und mit je verschiedener Bedeutung versehen. Es liegt hier ein beeindruckender Minimalismus vor.

 

Nachahmenswert finde ich auch, dass nach der „kondensierten Ausdrucksbombe“ der Strophe, sofort eine nächste Überraschung folgt! Mit einer quirligen Synthesizer-Girlande stolpert das Lied holterdiepolter in seinen Refrain hinein. Und der steht plötzlich in F-Dur, und ebenso plötzlich setzt massiv die gesamte Band mit Gitarren, Orgeln, Schlagzeug und vor allem dem Chorgesang ein: „So when you´re near  me / Darling, can´t you hear me / SOS!“ Hier begannen wir früher zu tanzen. Hier ist sehr deutlich der Einfluss des „wall of sound“ von Phil Spector oder Brian Wilson zu hören. Ein gewitzter Einfall ist die Wiederverwendung des Drehmotivs aus dem vierten Takt der Klaviereinleitung, das  nun in Dur wie eine gewandelte „Idee fixe“ den im Song geschilderten Vorgang nach jedem Ruf „SOS!“ quasi verkörpert. Alles ist höchst durchdacht und sublim komponiert.

 

Und noch eine weitere Steigerung erfährt der Song jetzt im zweiten Teil des Refrain: Plötzlich und unvermutet wird der obere Melodieton a zur Blue Note as umgewandelt, passend zum Ruf des Textes „When you´re gone, how can I even try to go on“, auf dem viermal die absinkende Geste as-g-f repetiert wird. Die Harmonik bietet hierzu die Akkordfolge Bb7 – Db – Eb – F auf, bringt also plötzlich mediantische und modale Färbungen, die in Kontrast zu dem Minimalismus des Anfangs größte Kraft entfalten. Verstärkt wird diese Wirkung durch den plötzlichen Einsatz eines Moog-Synthesizers für die Bass-Linie (…ein damals neues Verfahren, das ich in diesem Blog schon einmal für die „Love You“-Platte von Brian Wilson herausgestellt hatte…). Diese Figur ist in Folge so stark, dass sie im weiteren Verlaufe des Songs häufiger wiederholt und gesteigert wird, wie ein gesamt angelegtes Fazit. Jedes Mal nach dem Abschluss „even try to go on“ kommt eine anfeuernde, kämpferische Figur in f mit dem Moog-Synthesizer hinterher.

 

Wir haben in dem Song also vier bis fünf Grundabschnitte, Grundelemente: die Klavierakkorde des Anfangs, die Drehfigur des vierten Taktes, die Strophe, den Refrain in Dur, den Höhepunkt des Refrains mit seinen pathetischen Akkordfärbungen und Anfeuerungen, die alle im perfekten Gleichgewicht gehalten sind und zusammen die gut drei Minuten des Songs ausfüllen. Bei jedem Hören kann das Ohr weiter hineintauchen in die innige Verbindung dieser einzelnen Elemente. So ist zum Beispiel der geschilderte Höhepunkt des Refrains mit der Blue Note eine Anknüpfung an die d-Moll Strophe: was in F-Dur eigentlich positiv umgewandelt war, das a, wird sozusagen wieder zunichtegemacht durch dieses as usw. usf.

 

Es sind diese Zusammenhänge, die viele musikalische HörerInnen, auch wenn sie zunächst dem Image von ABBA eher fern stehen, einfach auf die Dauer schlagend von ihren Songs überzeugen. So hat Pete Townsend von „The Who“ „SOS“ mal als den „perfektesten Popsong, den es gibt“ bezeichnet.

 

In mir hat der Song im zarten Alter von elf Jahren ein Bild von künstlicher Vollkommenheit – reden wir davon nicht in der Kunst? – hinterlassen, eine Verbindung von Hoch und Tief, von Depression und Euphorie, von Einsamkeit und Gemeinsamkeit, himmelhochjauchzend und  zu Tode betrübt.

 

Und am Ende senken sich die pathetisch hämmernden Klavierakkorde auf  das a hinunter: SOS!

 

( Jobst Liebrecht 19.5.24 )

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