Bayreuth in Berlin
Bayreuth in Berlin
Wälseschrei und Wagnerwucht im Silvesterkonzert
Es ist wie ein schwerer Traum.
Sie haben´s geschafft. Die Wagnerianer haben jetzt auch noch die Scharoun-Philharmonie übernommen! Während andere die Champagner-Korken knallen lassen, lassen sie ihre verklemmt-brünftigen Laute sogar im SILVESTERKONZERT erklingen!!
Die Berliner Philharmoniker sind begeistert tätig, teils selig lächelnd , teils irre entrückt oder mit hochrotem Kopf . Dass die Instrumentation Richard Wagners bekanntermaßen so hervorragend ist, wird durch ihr Orchesterspiel noch hervorgehoben. Jedes kleine Solo wird gebührend beleuchtet und auch so gefilmt. Dann wieder ist Fülle markigen Wohllauts angesagt. Prägnante Hochkultur, wo sich edel gekleidete Paare am Sylvesterabend aufgeladene Strindberg -Szenen statuarischer Dialoge liefern. Bis er sein Wälse-Ding herausholt…ich wälze mich herum: WILL MAN DAS IM MOMENT WIRKLICH WISSEN?
Denn was ist das für ein Zeugnis in der heutigen Zeit, in der heutigen Weltlage, wenn auf einem Podium, das in ebendiese ganze Welt übertragen wird, nach stundenlangem Gefasel vom Herausziehen eines heiligen Schwertes aus einem Baumstamm, untermalt von einer ganzen Armada golden gepanzerter Blechblasinstrumente , der Dirigent am Ende entschuldigend lächelnd uns allen „etwas mehr Frieden in der Welt“ ( wörtlich! ) wünscht? Es brandet Szenenapplaus im inbrünstigen Publikum auf…wie in einer Echokammer…mein Nacken schmerzt.
Ich träume sentimental und erinnere mich an ein Sylversterkonzert der Phliharmoniker unter Abbado vor vielen, vielen Jahren, bei dem die AUFKLÄRUNG in Form eines kompletten Mendelssohn-Programms gespielt wurde. Das ist EUROPA, das ist MODERN das ist FRIEDLIEBEND- das hat UTOPIE! Wo ist das hin verschwunden??
Je schlimmer die Lage, desto unterhaltsamer oder erbaulicher sei die Kunst. AUS RESPEKT. Die Kapelle auf der Titanic hat auch weitergespielt. Oder die Comedian Harmonists oder die Weintraub Syncopators. Ich rufe flehend: Macht es uns allen doch etwas leichter, bitte! Oder spielt wenigstens BEETHOVEN oder HINDEMITH!
Danach bin ich auf einer Silvesterparty mit einfachen, geraden Menschen. Aus dem Lautsprecher kommt irgendwann Johnny Cash, wie ehrlich klingt das dagegen:
„Your own, personal, Jesus
Someone to hear your prayers
Someone who cares
Your own, personal, Jesus
Someone to hear your prayers
Someone who’s there
Feeling unknown
And you’re all alone
Flesh and bone
By the telephone
Lift up the receiver
I’ll make you a believer
Take second best
Put me to the test
Things on your chest
You need to confess
I will deliver
You know i’m a forgiver
Reach out and touch faith
Reach out and touch faith
Your own, personal, Jesus
Someone to hear your prayers
Someone who cares
Your own, personal, Jesus
Someone to hear your prayers
Someone to care
Feeling unknown
And you’re all alone
Flesh and bone
By the telephone
Lift up the receiver
I’ll make you a believer
I will deliver
You know i’m a forgiver
Reach out and touch faith
Reach out and touch faith
Reach out and touch faith
Reach out and touch faith.“
Ich erwache am Neujahrsmorgen.
Einige Tage später in der Kantine der Staatsoper. Mechanische Klänge durch die Luft: Paul Lincke. Bedienung: „O mein Handy! ( kurze Pause, begeistert:) Ja, dit is Musik!“. Ich: „“Sie haben WAGNER gespielt im Silvesterkonzert!“ – „Das is nun wirklich eine blöde Idee!“
( Jobst Liebrecht 6.1.2024 )