118 Jahre opus 9
118 Jahre opus 9
eine tiefe Verbeugung von Jobst Liebrecht
( am 13. September, Arnold Schönbergs Geburtstag )
Vor 118 Jahren im Jahr 1905 begann Arnold Schönberg mit der Komposition seiner Kammersinfonie Nr. 1 op. 9“. 118 – eine Zahl wie aus einem Märchen oder einer Tolkien-Fabel. 118 ist teilbar durch 2: zweimal 59, was dann eine Primzahl ist. Zwei musikalische Primzahlen, der ehemalige Bankangestellte Arnold Schönberg und der ausgebildete Musikologe Dr. Anton von Webern beugten sich häufig über die Notenblätter dieser Kammersinfonie und werkelten weiter daran herum. Anton Webern, der der Meinung war, bei diesem Werk handele es sich eher um Kammermusik, erstellte von opus 9 eine Fassung für Klavierquintett. Schönberg, der verzweifelt nach einer Lösung für mehr Aufführungsmöglichkeiten suchte, arbeitete dagegen immer wieder, zuletzt in Amerika, an Orchesterfassungen. Letzte Meldung an Webern :“Die klingt jetzt vollkommen klar und plastisch, vielleicht ein bisschen zu laut“
Kurz vorher schrieb er resümierend in seinem Selbstbericht von 1937 mit dem lakonischen Titel „Wie man einsam wird“: „Nachdem ich die Komposition der Kammersymphonie beendet hatte, war es nicht nur die Erwartung des Erfolgs, die mich mit Freude erfüllte. Es war etwas anderes und Wichtigeres. Ich glaubte, daß ich jetzt meinen eigenen persönlichen Kompositionsstil gefunden hätte, und erwartete, daß alle Probleme […] gelöst wären, sodaß ein Weg aus den verwirrenden Problemen gewiesen wäre, in die wir jungen Komponisten durch die harmonischen, formalen, orchestralen und emotionalen Neuerungen Richard Wagners verstrickt waren.«
Und er führt weiter aus: „Ich glaubte Wege gefunden zu haben, Themen und Melodien zu bilden und auszuführen, die verständlich, charakteristisch, originell und expressiv waren trotz der erweiterten Harmonik, die wir von Wagner geerbt hatten. Es war ein ebenso schöner Traum wie enttäuschender Fehler.“
Aber es IST dieser schöne Traum , für immer aufbewahrt, Herr Schönberg, es war eben KEIN enttäuschender Fehler, sondern eines der begeisterndsten Werke des 20. Jahrhunderts ist da durch Ihre Hand entstanden! – so möchte man zurückrufen. Die packenden Melodien SIND verständlich, charakteristisch, originell und expressiv! Was für eine Freude hätten Sie, wenn Sie sehen könnten, wie schon die jungen polyglotten Auszubildenden der Berliner Philharmoniker heute Ihr Werk spielen ( mit leicht erweitertem Streichersatz, mitten in der Corona-Zeit )
Oder wenn Sie dabei gewesen wären, wie ich selbst vor Jahren eine der höchsten künstlerischen Freuden meines Lebens erlebte, als ich 15 MusikerInnen des Leipziger Gewandhauses durch Ihre Partitur lotsen durfte – allein die Begeisterung in den Augen des D-Klarinettisten hätten Sie sehen sollen, oder Sie hätten hören sollen, wie sich die Bratsche und das Cello zusammen in die Kurven Ihrer ungestümen Melodien legten! Und insgesamt diese immerfort höchste Aufmerksamkeit und Achtung und Gespanntheit dieser bravurösen Solisten!
Es war das alles wert, die Skandale, das Schreien der Unverständigen, die schnöden Ablehnungen der Arrivierten, Saturierten – alles, was Sie abbekommen haben schon damals 1906. Der von Ihnen damals bewunderte Richard Strauß befand, ob zu Recht oder Unrecht, man könne dieses Werk unmöglich in einem großen Saal spielen, er würde nur in kleinem Rahmen funktionieren. Die 15 Solisten, die Sie benötigten, die mussten erst noch erfunden werden, möchte man heute dazu sagen. Und sie wurden dann ja auch erfunden und erzogen und herangebildet über das ganze Jahrhundert hin.
Diese 15 SolistInnen sind ein hoch elitärer Zirkel von Freaks. Ich erkläre es immer mit dem Vergleich zu Forschergruppen, die die größten Fortschritte der Menschheit gemeinsam herausfinden, wie etwa bei Marie Curie. Oder wie im Silicon Valley. Es herrscht dort eine teils chaotische Gruppenintelligenz. Jede und jeder der Beteiligten ist hochbegabt, jede und jeder kann hochkomplex reden und Gedanken entwickeln. Sie reden teils monologisch, teils durcheinander, es ist häufig zuerst nicht verständlich, wie einer auf den anderen reagiert. Aber wer Ohren hat zu hören, der höre, und wird dann auch verstehen.
DÜRFEN DENN HEUTE NOCH KOMPLEXE GEDANKEN IN DER MUSIK DARGESTELLT WERDEN? Aber ja, bitte, ja, unbedingt!
In dieser Schwarmintelligenz, die in der Kammersinfonie stattfindet, bekommt jedes hochexpressive Thema, das an sich schon wunderschön und hochintelligent ist, mehrer Gegengedanken, Kontrapunkte, Begleitgedanken der anderen beigesellt. In einem 20minütigen Dauer-Komplex von Komplexität gehen sie gemeinsam voran.
Denn wie bei einem Brainstorming in einer Kreativfabrik haben doch alle 15 MusikerInnen EIN THEMA, um das es geht.
Und alle MusikerInnen, die diese Musik gemeinsam spielen, werden von diesem Thema erfasst, ohne es explizit benennen zu können. Es ist der ganze starke „FEEL“ dieser Musik, wie Brian Wilson es immer nennt, das grundlegende Gefühl, das von vorn bis hinten hinter alle Noten dieses Werks durchglüht. Es ist ein inneres Glühen, es hat FEUER – so wie man es ruppig in der Musikerschaft , wenn man darüber überhaupt redet, zu benennen pflegt. Aber es ist mehr noch auch glasklarer Intellekt, eine Freude an komplizierten, vertrackten, verschlungenen MOTIVEN und ihren Strukturen – an plötzlichen, unversehens abbiegenden Wendungen und Volten von kleinen Figuren – einige davon fast jenseits der Wahrnehmbarkeit, so können sie dahin flitzen , so zacken sie mitunter von oben in die Landschaft hinein wie Blitze.
WER WIRD JEMALS WIEDER SO PRÄGNANTE MOTIVE ERFINDEN?
Und es ist auch da – das kann heute im Medienzeitalter ruhig mal lamentierend gesagt werden – eine große ZEIT, eine DAUER. Die Menschen sollen hier in Ruhe eine ganze Weile zuhören, denn es wird Ihnen in zwanzig langen Minuten alles erschöpfend und gleichzeitig gepresst und kondensiert dargeboten:
Allein der Anfang – später immer wiederkehrend – die magische taktweise Abfolge von 1. OFFENE DISSONANZ ( Quarten, verloren im Raum, „vagierend“ wie Schönberg es nannte) -2. STREBENDE DISSONANZ ( alteriert, Wagner-sehnend, spannungsvoll , „schwülstig“ )- 3. KONSONANZ ( F-Dur , „poppig“ wie später bei „Hey Jude“ der Beatles )
Daraus könnte man, übersetzt, heute noch ganze Musikstücke gestalten.
BLEIBEN WIR DENN BEI DER HARMONIE ALS SPRACHMITTEL? Ja, wer will denn darauf verzichten, wenn man dann wie hier hört, wie der erste Seitengedanke von f-moll nach Des-Dur hinabtaucht, und dann von fis nach D…
Auch später, Herr Schönberg, haben Sie diese Freuden durchaus aufgesucht. Denken Sie an das Fertigstellen Ihrer 2. Kammersinfonie op. 38 in Amerika.
Oder die Themen, die taktweise mit sich selbst im Kontrapunkt stehen können. Hier müssen wir auch bewundernd über Ihr HANDWERK sprechen. Aber es ist immer ein Handwerk, dass Sie, verehrter Herr Schönberg, an jeder Persönlichkeit höchst individuell verorten. Für mich ein Kardinalssatz des Kompositionsunterrichts. Denn auch Sie haben sich ja, mit Unterstützung von Freunden, dieses Handwerkszeug im Wesentlichen verbissen und ganz allein beigebracht. Von MOZART haben Sie gelernt, schreiben Sie in Ihren wunderbaren Aufsätzen „Stil und Gedanke“, und von BRAHMS. Von M die Periodenbildung und Themengestaltung und auch schon die entwickelnde Varaition, von B die Dichte der Faktur, die rätselhafte Logik, die aus der geordneten Verknüpfung und Durchdringung von Tongebilden, Tonstrukturen entsteht.
Und daraus entsteht dann eben insgesamt dieser Ihnen eigene Gradmesser gegen musikalische Blödheit, diese bange Frage bei Neue Musik-Konzerten: wie klingt mein Stück nach dem von Schönberg? Ist es, so wie Morton Feldman mal bemerkt hat, alles nur „BABY-MUSIK“ verglichen mit Ihnen?
Demutsvoll und schüchtern grüße ich von Ferne. Ich kann nur versuchen, mich bang zu verlassen auf die Absolution, die Sie mit Ihrem sowohl kaustischen als auch gelegentlich liebevollen Humor den Komponisten erteilten, die getreu ihrer inneren Person mit mehr Einfachheit und Naivität sich ausdrücken müssen:
„ Man verlange von einem Zwetschgenbaum, dass er gläserne Zwetschgen oder Birnen oder Filzhüte hervorbringt:
ich glaube, dass sogar mindere Zwetschgenbaumsorten es ablehnen werden.“
Und ich stelle die Frage in die Runde heute an Ihrem Geburtstag und 118 Jahre nach op. 9
SOLLTEN WIR NICHT ALLE ETWAS MEHR NACHDENKEN IN DER MUSIK?
Jobst Liebrecht 13. September 2023