Reden mit den Verstorbenen, mit den Kommenden – ein musikalischer Redeversuch mit meinem Lehrer Hans Zender und meinem Kollegen Jakob Stillmark durch ein neues Werk
Heute werden Ensemble Recherche und Trio Abstrakt mein neues Stück „Frei nach Derrida: Mit Marx‘ Gespenstern reden“ uraufführen. Das Stück ist einerseits meinem Kollegen Jakob Stillmark gewidmet, der mich andererseits in Aspekten seines Denkens und Schreibens an meinen Kompositionslehrer Hans Zender erinnert, bei dem und kurzzeitig auch bei Isabel Mundry, ich in Frankfurt/M. von 1998-2001 nach meinen Münchner Studien (bei Hans-Jürgen von Bose) nochmals intensiv studieren durfte. Ein Werk Zenders inspirierte mich nun 2022/23 zur Komposition des neuen Stückes: „4 Enso (LO-SHU VII)“ für 2 Instrumentengruppen. Das besondere daran: 2 Gruppen musizieren durch eine Tür getrennt, wobei die Türe mal offen, geschlossen, nur halbgeöffnet ist. Zender stimmte zudem die Gruppen unterschiedlich ein, um die Räumlichkeit zu unterstützend zu verdeutlichen. Ich gehe hier nun einen anderen Weg, lasse die Türe geöffnet, verdeutliche das Räumliche eher gestisch.
Das Trio Abstrakt im Rückraum spielt reduzierte, einfache Gesten, als poltere ein Geist der Vergangenheit an der Türe unserer Zeit rüttelnd. Das Ensemble Recherche im Hauptraum spielt dagegen viel spielerischere Dinge, wobei die drei Streicher in Mikrotönen dem Holzbläsertrio eine Art Schatten sind. Wie in Derridas „Marx‘ Gespenster“ geht es um die Frage der möglichen Kommunikation zwischen der Vergangenheit und uns heute. Die Vergangenheit spricht zu uns, wir können aber nicht mit den Personen der Vergangenheit reden bzw. hören sie uns nicht. Irgendwann schleicht sich das Motiv von Robert Schumanns letztem Werk ein, das der Geistervariationen, komponiert und Fragment geblieben, bevor er nach Endenich eingewiesen wurde. Dies erscheint nach einer Phase, als beide Ensembles doch zu kommunizieren scheinen, sich aber dabei eigentlich nur anschreien.
Vielleicht ist es auch mein Versuch mit meinem verstorbenem Lehrer zu reden, der nicht richtig gelingen will. Vielleicht rufe ich auch meinem verstorbenem Vater etwas zu? Ich kann es so richtig auch nicht sagen. Was bleibt, den Vergangenen, den Lebenden, den Kommenden: Worte und Musik. So versucht man zumindest ähnlich und doch durch Gebrauch und Zeit verändert, abgenutzt, ähnliche Worte und Klänge über die Epochengrenzen hin immer wieder zu singen. Als sei man in einer Höhle, allein, aber da war doch etwas, ein Schatten, ein Licht. Man singt sich Mut an, weiß aber auch, dass die Ehemaligen und Werdenden allein waren, sein werden, sich mit ähnlichen oder gleichen Gefühlen befassen und solchen wie meinen Klängen, Melodiefetzen Mut machen werden.
Sie werden an sich denken, an unbekannte Kommende, unbekannte und bekannte Verblichene, wie diese auch einst. Man will den Alten sagen, so Vieles, was man hätte anders machen können, man will den Kommenden sagen, was man doch alles verbessern wollte, ihnen als Warnung oder Hoffnung mitgeben wollte, wie uns die Alten. Doch es war nicht möglich, wird nicht möglich sein – die Zeit trennt uns unerbittlich voneinander. Es bleiben Worte und Klänge, gleichartig und doch getrennt. Mal sehen, ob es nun heute Abend doch zusammenkommt. Eigentlich wollte Derrida mit seinem Buch, auf das ich mich beziehe, auch eine Art Reset, Neudenken des gemeinschaftlichen, globalisierten Handelns. Das scheint heute mehr denn je herausgefordert. Doch stellt es sich ganz anders dar, als von den Postmodernen erhofft: statt sich kontinuierlich zu verbessern, gilt es heute Menschenrechte, Freiheit, Fortschritt, Umweltrettung mehr denn je immer wieder neu zu verteidigen. Vielleicht hilft da eben: in der Höhle singen, wie die Vergangenen, die Neuen, immer wieder neuen Mut fassen, die Türe zwischen den Zeiten, den Anderen und uns selbst immer zumindest einen Spalt, besser komplett geöffnet zu lassen.
Komponist*in