Amerikanisches Tagebuch, 7. Tag

Diesen Sommer verbrachte ich im August 2 Wochen in den USA, diesem seltsamen Land der Widersprüche, Abgründe und dennoch immer wieder auch Hoffnung. Der Grund: Musik. Ich besuchte sowohl die Musikfestivals in Tanglewood als auch in Staunton, Virginia, nur eine halbe Stunde von Charlottesville entfernt. Diese Aufzeichnungen sind eine Fortsetzung meines Komponistentagebuchs, Tag für Tag aufgezeichnet, nun schon in der Vergangenheit, aber nicht sehr weit entfernt von der Gegenwart.

Tag 7

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Wagner

Heute probe ich mit 3 weiteren Pianisten ein Arrangement von Wagners „Meistersinger“-Ouvertüre für 2 Klaviere zu 8 Händen. Uns allen fällt auf, dass diese Art von Arrangement dafür prädestiniert ist, gewisse Schwächen in der Wagnerschen Kompositionstechnik zu offenbaren. Man kann es nicht anders ausdrücken: ein paar Kontrapunkte in diesem Stück sind einfach seltsam oder führen nirgendwo hin oder klingen einfach scheiße. Wenn das ganze Orchester röhrt und rauscht klingt das alles durchaus wesentlich besser, man kann also Wagner nicht absprechen, sehr genau um die tatsächliche Wirkung seiner Musik gewusst zu haben. Aber im exponierten Detail ist das zum Teil richtig doof. Allen fanatischen Wagnerianern kann ich also nur empfehlen, täglich diese Musik auf dem Klavier zu spielen, am besten in einer möglichst durchschnittlichen und kunstlosen Bearbeitung aus dem 19. Jahrhundert, nicht etwa in einer rauschend virtuosen Showbearbeitung. Wer weiß – vielleicht wären sie bald geheilt?
Von dem (schrecklichen) Arrangement der „Meisterswinger“ gibt es auch eine „Vollversion“ des gesamten Stückes für 8 Hände – inklusive aller Arien, Dauer 3 Stunden. Danach Einlieferung in die Psychiatrie garantiert. Nein danke.

Kleidung

Wir alle wissen, dass Amerikaner legere Kleidung lieben. Diese hat auch eine gewisse Normiertheit – im Sommer sind das kurze Shorts und T-Shirt, weiße (the horror!) Socken und Sandalen oder Turnschuhe. Dieser Dresscode ist bei Frauen und Männern vollkommen gleich, zum Teil kann man Frauen und Männer aus der Ferne kaum unterscheiden, vor allem wenn sie … sagen wir Mal ein gewisses Gewicht nicht unterschreiten. So laufen schonmal 99% der Menschen hier herum. Wenn man also wie ich gerne Kleidung aus einer Zeit trägt, in der die Menschen tatsächlich schick waren (die 60er Jahre) fällt man hier auf wie ein bunter Hund. Tatsächlich werde ich ständig angesprochen darauf – man hält mein Outfit (das in einer europäischen Großstadt kaum auffällt) für nicht nur ungewöhnlich sondern für vollkommen bizarr. Dabei sind viele der Menschen die mir dies sagen über 70 und sollten sich daher gut an die Zeit erinnern, als sie selber alle noch so rumliefen, wenn man einer typischen Episode von „Mad Men“ glauben darf. Und auch noch früher als die 60er gab es Style. Der alte amerikanische antirassistische Aufklärungsfilm „Don’t be a sucker“ – der gerade wegen Trumps unsäglichen Äußerungen zum Charlottesville-Mord in aller Munde ist – zeigt alleine gut angezogene Menschen. Was ist also mit unserer Welt passiert seitdem? Ist die sogenannte „Casual“-Modendiktatur nichts als eine kapitalistische Diktatur von Konzernen, die uns ihre billigen und meistens hässlichen Sachen aus dem Sweatshop aufdrängen? Früher gab es an jeder Ecke Schneidereien, auch normale Menschen konnten sich maßgeschneiderte Sachen leisten – heute gibt es allein Massenware.
Andererseits würde ich immer bedingungslos verteidigen, dass man sich so anziehen kann wie auch immer man will, I don’t mind. Aber ein bisschen bunter und individueller könnte es in den USA schon sein, gerade wenn man immer so viel Angst vor gleichgeschalteten Diktaturen wie Nordkorea hat.

Ernährung

Es ist kein Geheimnis – die amerikanische Ernährung ist ganz und gar kapitalistisch geprägt und daher auch weitestgehend gesundheitsschädlich. Ich mache mich nicht lustig über die vielen übergewichtigen Amerikaner – wenn man hier eine irgendwie auch nur ansatzweise gesunde Lebensweise führen will, braucht man einen eisernen Willen um den Myriaden von täglichen Versuchungen zu entgehen. Überall sind Unmengen von Zucker drin (oder Schlimmeres), die durchschnittlichen Portionen wären selbst für Bodybuilder die den ganzen Tag trainieren zu viel und zudem wird man überall mit ungesunden Schokoriegeln oder ähnlichem Schrott mürbe gemacht. Wenn man – wie ich – hier empfindlich und verführbar ist, wünscht man sich manchmal Scheuklappen oder einen personal motivation trainer, der einen 24 Stunden am Tag begleitet. In den USA gesund zu leben braucht viel Geld und man muss auf jeden Fall in einer Großstadt leben um Zugang zu gesundem Essen zu haben.
Allerdings wäre es ungerecht von mir, dieses Problem anhand von Staunton festzumachen, denn im Gegensatz zu vielen anderen Orten gibt es hier durchaus nette Cafés mit frisch zubereiteten Lebensmitteln, die auch erschwinglich sind. Aber die Bevölkerung von Staunton ist auch vergleichsweise wohlhabend und gesundheitsbewusst.
Letztlich ist das für mich immer das beste Argument gegen massenproduzierte Musik – die Idee, dass überhaupt irgendetwas „gut“ sein will, das allein auf Profit und große Verbreitung hin konzipiert wird, dass man den „Massengeschmack“ treffen muss, dass man den geringsten gemeinsamen Nenner bedienen muss, um eine größtmögliche Publikumsschicht zu erreichen – all dies wird auf wunderbare Weise durch das amerikanische Essen (und natürlich nicht nur dieses) dokumentiert und ad absurdum geführt.
Ein kapitalistisch produziertes Produkt will nicht gesund sein, da dies der Idee von Profit entgegenläuft, denn der entsteht wenn man große Mengen eines möglichst billig herzustellenden Produktes wesentlich teurer verkauft als es in der Produktion kostet.
Wenn also der Massengeschmack beschworen wird, redet man nie von tatsächlicher Qualität. Denn es wäre absurd zu glauben, dass irgendjemand mit Coca Cola oder einem Marsriegel den Menschen irgendetwas Gutes tun will.

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