Die Utopie vom Singen Elektroakustischer Musik
Vor einiger Zeit landete ich während einer Online-Recherche zufällig auf der Website einer Sängerin, die, auf ihre musikalische Vielseitigkeit hinweisend, in ihrer Vita schreibt, sie sänge neben der klassischen und Neuen Musik auch Elektroakustische Musik. Da kam ich natürlich spontan erstmals ins Schmunzeln… Wie soll man denn bitte Elektroakustische Musik SINGEN?? Mir ist natürlich klar, was die Sängerin ausdrücken will. Sie möchte damit sagen, dass sie auch Musik interpretiert, in der elektronische Klänge vorkommen. Ich finde es jedoch etwas kompliziert, in diesem Zusammenhang den Terminus „elektroakustisch“ zu verwenden.
Schwieriges Terrain
Da ich die Formulierungsidee dieser Sängerin aber durchaus ernst nehmen wollte, brachte sie mich dazu, doch noch einmal reflektierter mit diesem Begriff umzugehen, denn tatsächlich befinden wir uns bei einer Definition von Elektroakustischer Musik auf recht schwierigem Terrain. Grundsätzlich wird damit eine Musik bezeichnet, deren Klänge elektronisch bzw. elektromechanisch erzeugt und von Lautsprechern wiedergegeben werden. Dabei kann es sich sowohl um konkretes Klangmaterial, wie z.B. Field Recordings, als auch um elektronische Klänge handeln, wie z.B. Sinustöne oder gefiltertes Rauschen.
Allerdings existiert auch der Begriff „Elektronische Musik“, der per definitionem auf die gleiche Art der Klangerzeugung zurückgeht. Musikhistorisch gesehen trifft dies ebenso auf die „Akusmatische Musik“, die „Musique Concrète“, die Computermusik und die Algorithmische Komposition zu. In gewisser Weise ist die Elektroakustische Musik also ein Sammelbegriff für verschiedene Formen elektronisch erzeugter Musik. Und im weitesten Sinne könnten auch Kompositionen aus der Zeit archaischer Musikinstrumente wie Theremin, Trautonium oder den Intonarumori zu diesem Sammelbecken gezählt werden. Was all diese Formen jenseits ihrer musikhistorischen Entstehung vereint, ist die maschinelle bzw. mechanische Klangerzeugung und -Wiedergabe.
Egal ob fixierte Tonbandmusik, additiv synthetisierte Klänge aus Sinusgeneratoren, analoge Klangmanipulationen oder computergestützte, digitale Klangsynthese (in Echtzeit oder vorproduziert), eines bleibt immer gleich: Es wird ein Ton erzeugt, der 100% in der selben Form wieder rekonstruiert werden kann und soll. Dies ist zugleich das charakteristischste Merkmal Elektronischer bzw. Elektroakustischer Musik und auch Ausgangspunkt aller frühen kompositorischen Bestrebungen auf diesem Gebiet. Spieltechnische Limitierungen und Ungenauigkeiten traditioneller Instrumente sollten mit dem Verfahren elektronischer Klangerzeugung überwunden werden. Ferner sah man z.B. in den 1950iger Jahren in der systematischen Organisation von Klangstrukturen die Chance, serielle Kompositionsprinzipien bereits beim Konstruieren von Klang und Klangfarben anwenden zu können.
Täglich neu und unberechenbar
Die menschliche Stimme ist jedoch, bei all ihrer vielseitigen Einsetzbarkeit, herausragenden Individualität und ihrem Alleinstellungsmerkmal als Instrument im Inneren des menschlichen Körpers, so ziemlich das letzte Instrument, welches im Sinne der eben beschriebenen Bestrebungen zu einer hundertprozentig kontrollierbaren Klangproduktion und -Reproduktion geeignet ist. Denn gerade der letzte Punkt ist mit der Eigenschaft verbunden, dass der Klanggenerator „Kehlkopf“ und der Resonator „Körper“ täglich veränderlichen Beschaffenheiten ausgesetzt sind, die von zum Teil nicht kalkulierbaren physischen und psychischen Befindlichkeiten abhängen. Schon ein für eine Gesangstimme komponierter Einzelton wird jedes Mal anders klingen. Die Stimmlippen sind unterschiedlich stark oder schwach befeuchtet, die Schleimhäute reagieren auf veränderte Klimabedingungen, auf das Immunsystem, muskuläre Bewegungen sowie die gesamte Körperhaltung einer Sängerin / eines Sängers sind täglich variabel.
Der menschliche Körper ist nun Mal keine Maschine aus starren Einzelteilen mit immer gleichen Bewegungsabläufen oder Rechenoperationen. Und auch die Verbindung von Stimme und Live-Elektronik lässt die Stimme – im Sinne einer streng traditionellen Definition von Elektronischer / Elektroakustischer Musik – sozusagen an den Eigenheiten ihrer selbst „scheitern“. Das Instrument Stimme ist bildlich ausgedrückt etwa wie eine Geige, die ihre Korpus-Form und Saiten-Beschaffenheit täglich neu und unberechenbar gestaltet. Und so kann letztlich nur die Computermusik, fixed-media oder mit Echtzeit-Klang-Generierung, eine immer haargenau gleiche Rekonstruktion von Klangstrukturen erzielen.
Nachahmung
Was man allerdings versuchen kann, ist eine stimmliche Nachahmung von elektronischen Klängen. Nachdem ich nun besagte Website mit besagtem Hinweis auf das Singen Elektroakustischer Musik entdeckt hatte, wollte ich diesen Gedanken gleich mal mit meiner Facebook -Community teilen, woraufhin einige KollegInnen sehr kreative Lösungsvorschläge anboten. Davon möchte ich an dieser Stelle zwei sehr schöne Beispiele von Vokalkünstlerinnen aufgreifen.
Darüber hinaus möchte ich vorab zwei sehr interessante Quellen zum Thema Elektroakustische Musik erwähnen:
Zum einen empfehle ich den ausführlichen Artikel „Wandlungen der elektroakustischen Musik“ von Karlheinz Essl (LINK: http://www.essl.at/bibliogr/wandlungen-elak.html )
Zum anderen möchte ich auf die von Folkmar Hein, dem ehemaligen Leiter des Elektronischen Studios der TU Berlin, initiierte und betreute Sammlung elektroakustischer Musik, „EM Doku“, hinweisen (LINK: http://www.emdoku.de/EMIntro-D.html )
Eine Sängerin, die sich unter dem Begriff „abstract vocal music“ der Herausforderung elektronischer Klanglichkeit auf sehr puristische Weise aussetzt, ist Agnes Hvizdalek. Mit ihrer Stimme produziert sie Klänge, mit repetierten Mustern, die an eine Pulsgeneratoren – Ästhetik erinnern. Hier ein Beispiel ihrer Arbeit:
LINK: https://www.youtube.com/watch?time_continue=638&v=xuHNeV8t_e8
Eine Sängerin, die ebenfalls kreativ mit der stimmlichen Erzeugung von elektronisch anmutender Klanglichkeit umgeht, ist Stíne Janvin. Hier ein Beispiel aus ihrem audio-visuellen Performance-Projekt „Fake Synthetic Music“, eine Hommage an aktuelle und frühere Generationen von Künstlern der Elektronischen Musik.
https://vimeo.com/192932642
Dennoch bleibt der künstlerisch gesehen äußerst spannende Versuch, Elektroakustische Musik zu singen, eine Utopie.
Julia Mihály definiert sich als composer-performer, sprengt mit Freude alle Schubladen, in die man sie stecken möchte, arbeitet gelegentlich als Radioautorin und engagiert sich im Vorstand der DEGEM.
Sehr schöner Beitrag, aber:
Die Utopie betrifft elektroakustische selbst; denn auch sie braucht Ohren, um wahrgenommen zu werden – und was gibt es da unterschiedliche mit verschiedenem Hörvermögen und unterscheidlichem Hörhorizont und unterschiedlichen Erwartungen und persönlicher Vernetzung im Gehirn! Und auch die Lautsprecher haben unterschiedliche Eigenschaften und die Räume, in denen sie stehen, haben verschiedene Eigenschaften, und die Kopfhörer natürlich auch, und eventuelle Mithörer greifen gewollt und ungewollt ein, und und und …
Die vollkommene Repetierbarkeit elektroakustische Musik ist utopisch.