Muss man das Deutschsein lernen? Gedanken nach dem Amoklauf von München.

https://www.youtube.com/watch?v=Tbdb1eWFaho

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Auf einem der schrecklichsten Videos des Amoklaufs von München ist der Mörder auf dem Dach des Olympiaeinkaufszentrums zu sehen. Er läuft ziellos umher, mit der Waffe in der Hand, während ihn ein Anwohner vom sicheren Balkon eines Hochhauses in tiefstem Münchnerisch als „Wichser“ und „Arschloch“ beschimpft.

Einerseits kann man diesen Anwohner verstehen, ist in gewisser Weise sogar froh über seine Frechheit, denn in diesem Moment lenkt er den Amokläufer ab, verhindert vielleicht sogar weitere Tode. Aber im selben Moment schämt man sich für ihn, denn ausgerechnet im Angesicht von unschuldigen Opfern die gerade eben aus heiterem Himmel abgeschlachtet wurden entspinnt sich ein kurzer Dialog über…das Deutschsein.

Der Anwohner beschimpft den Amokläufer als „Kanake“, dieser wehrt sich „Ich bin Deutscher! Ich bin in Deutschland geboren!“. In wenigen Worten enthüllt sich ein ganzes Schicksal, ein endlos schwelender Konflikt in unserer Gesellschaft. Ein Iraner ist in Deutschland geboren, fühlt sich dennoch als Fremder, als Ausgegrenzter, schlecht und ungerecht behandelt. Dafür muss er sich jetzt rächen. Es beleidigt ihn sichtlich, nicht als „Deutscher“ zu gelten, und damit unterprivilegiert zu sein. Inwieweit das tatsächlich stimmt oder nur einem Wahn entspringt ist hierbei unerheblich, die Empfindung ist real.

Das alles ist nicht in geringstem eine Entschuldigung für den Amoklauf. Frustration gekoppelt mit narzisstischer Selbstüberschätzung ist ein erbärmliches Motiv für Mord. Niemand ist direkt an den Hassgefühlen, am Frust des Killers schuld, aber dennoch weiß man schon jetzt, dass der Nachhall der ganze Geschichte in neuen Ausgrenzungen, Freiheitsverlusten für uns alle (Seehofer!) und neuen Frustrationen münden wird. Schrecken gebiert Angst gebiert Hass, die wiederum neuen Schrecken generiert. Es ist ein ewiger Kreislauf, und die Rollen des „Fremden“ und des „Deutschen“ werden stets neu definiert und vergeben.

Aber was ist eigentlich „deutsch“? Weder der Münchener Grantler vom Balkon noch die schrecklichen Taten des Killers können darauf eine Antwort geben. Diese Antwort ist – vielleicht – eine Angelegenheit der Kultur.

Um eine Antwort ringt dieser Artikel in der WELT, skurrilerweise fast zeitgleich zum Amoklauf erschienen. Tilman Krause versucht hier alle Fallstricke zu vermeiden, die ihm als „national“ oder „rassistisch“ ausgelegt werden könnten, heischt darum, dem Begriff des „Deutschseins“ etwas Positives abzugewinnen, tappt aber dabei in andere Fettnäpfchen. Da ist z.B. die Rede davon, dass man sich gefälligst „anstrengen“ soll, um Deutscher zu sein. Arbeit macht frei, äh deutsch?

„Deutscher sein im vollen umfassenden Sinn des Wortes heißt (…) sich ein historisches sowie kulturelles Erbe anzueignen, das sich von anderen europäischen Nationen unterscheidet“.

Well, fuck me right now, hätte der Amokläufer nur brav seinen Goethe gelesen und sich mal so richtig angestrengt, dann wäre er als Deutscher vielleicht „willkommen“ gewesen. Nur hat der bayerische Schimpfgrantler ganz sicher auch noch nie Goethe gelesen, fühlt sich aber definitiv als „Deutscher“ gegenüber dem „Zugroasten“ Perser, der frecherweise auf Menschen schießt.

Weiter geht es in Tilman Krauses bemühtem Artikel, der letztlich zum Schluss kommt, dass wir vor allem – und hier kommt der Bezug zum Bad Blog – wegen unserer geilen MUSIK geliebt werden sollten:

„Was die deutsche Musik so einzigartig macht, ist eine bestimmte Gefühlskultur, die in ihr zum Ausdruck kommt. Und wer mit der nichts anfangen kann, wer für sie unempfänglich ist, der sollte sich in der Tat mal fragen, ob er wirklich in einem tieferen Sinne Deutscher ist“.

Vor 70 Jahren hätte dieser Satz – Achtung Ironie! – vielleicht so ausgesehen:

„Was die deutsche Musik so einzigartig macht, ist eine bestimmte arische Überlegenheit, die sich in ihr manifestiert. Und wer mit der nichts anfangen kann, den sollten wir in der Tat mal befragen, ob er wirklich ein echter Deutscher ist.“

Wahnsinnig viel musste ich hier nicht ändern, der Inhalt ist fast gleich.

Ich weiß nicht, in diesen Tagen versuchen mir ständig Hinz und Kunz und Krause zu erklären, was „Deutsch sein“ bedeutet.  Ich will es nicht mehr hören. Mir geht es am Arsch vorbei, ob ich einem Volk angehöre, dessen (erneut Tilman Krause) „wesentlicher intellektueller Impuls spirituelle Existenzbewältigung“ ist, da ich weiß, dass der Schritt von der spirituellen Existenzbewältigung zur maschinellen Existenzvernichtung nur ein ganz kleiner ist.

Egal wohin man in Europa schaut, es gibt überhaupt keine „Deutschen“, keine „Österreicher“, keine „Franzosen“. Vielleicht gibt es Europäer, aber selbst die sind sich darüber leider nicht einig. Die Briten wollen keine sein, vergessen aber dabei, dass sie schon längst aus postkolonialer Historie heraus keine „Briten“ mehr sind.  Ich habe ein Jahr in London gelebt und kannte exakt einen, der vielleicht als „Brite“ durchgehen würde, der Rest waren Italiener, Inder, Pakistani, Australier, Afrikaner, Franzosen, Schotten, Iren, und und und. Sie alle waren „Londoner“. Und wollen nun anscheinend keine „Europäer“ mehr sein, die sie ja auch vorher nicht waren.

Ich für meinen Teil bin kein „Deutscher“. Meine Vorfahren waren zum Teil Hugenotten, also Franzosen, denen man noch vor gar nicht allzu langer Zeit „jeder Stoß ein Franzos‘“ entgegenrief, und das auch in die Tat umsetzte. Dann gab es mütterlicherseits Preußen, die aber vielleicht auch Polen waren. Das weiß man nicht so genau. Und väterlicherseits gab es noch eine Urgroßmutter, von der eigentlich keiner so richtig weiß, was sie war, entweder Jüdin oder „Zigeunerin“, man kann sie leider nicht mehr fragen, weil sie sehr früh verstarb. Auch ihre Gene habe ich in mir, und darauf bin ich genauso stolz wie auf die verschissenen „deutschen“ Gene.

Es ist doch alles Kokolores – irgendwo rotten sich irgendwelche Menschen zusammen, nennen irgendein Gebiet ihre „Heimat“, aber vorher war das die Heimat irgendeines anderen Volkes, das aber vielleicht auch irgendwann mal vertrieben worden war und andere verdrängt hat.

Ein Münchener erzählt einem Perser, dass er Deutscher, der Perser dagegen ein „Kanake“ sei, dabei wollten die Bayern selten zu „Deutschland“ gehören und sind selber ein wilder böhmischer alpenländischer Mix aus unterschiedlichsten Völkern.

Ein Freund von mir kommt aus dem bayerischen Wald. Irgendwann ging er zum Zahnarzt und erfuhr, dass sein Gebiss „asiatisch“ geformt sei, und er eindeutig mongolische Vorfahren habe. Dschingis Khan kam auch durch den bayerischen Wald und hinterließ dort seine Spuren. Genetisch ist er Mongole, aber dennoch „Deutscher“. Was ist er?

All dies zeigt, wie lächerlich der Gedanke an die Bedeutung einer Einzigartigkeit oder Überlegenheit einer „Rasse“ oder eines „Volkes“ sind. Ich kenne Perser, die in Deutschland leben, und „deutscher“ sind als manche Deutschen, da sie – durchaus in Tilman Krauses Sinne – deutsche Kultur in-und auswendig kennen. Ich kenne einen Professor aus Ägypten, der ein besseres Deutsch spricht als alle seine „deutschen“ Universitätskollegen. Das sind für mich genauso „Deutsche“ wie der Dönerbudenmann an der Ecke und die Kopftuchträgerinnen die Blumen am Ort des Amoklaufes niederlegen. Das sind immerhin „Münchener“, die sind hier geboren, hier zur Schule gegangen. Sie sind Fans von Bayern München oder 1860. Sie gehen zum McDonalds, der wiederum aus den USA kommt. Und sie alle hätten dort niedergeschossen werden können. Eines der Opfer war angeblich „türkischer Grieche“ (und allein schon in dieser Kombination liegt Sprengstoff), war aber eben auch „Münchener“. Und deswegen mein Nachbar um den ich genauso trauere wie um die „deutschen“ Opfer.

Natürlich müssen wir hier keine Multikulti-Worthülsen bemühen. Wir denken nicht alle gleich, wir SIND anders, kennen andere Traditionen, andere Weltbilder. Wir können eine geeinte Welt nicht mit proto-faschistischer politischer Korrektheit und Scheintoleranz herbeireden, sind davon auch meilenweit entfernt.

Ich liebe Tradition. Ich liebe die europäische Musik. Ich liebe Volksmusik (keine „volkstümliche“ Musik). Ich liebe aber auch „exotische“ Musik, die nichts weiter ist, als die „Volksmusik“ der anderen. Ich respektiere, dass Menschen „anders“ sind. Ich wünsche mir, dass an dem Ort an dem ich lebe viele Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund friedlich zusammenleben, und dass sie sich alle einigermaßen auf gemeinsame „Werte“ einigen können. Aber ich muss niemandem vorschreiben, was er zu denken hat. Ich muss niemandem sagen, was er tun muss, um „Deutsch“ zu sein. Wenn im Deutschland des Jahres 2100 hunderttausend Moscheen stehen, soll es mir Recht sein, Hauptsache die Bewohner dieses Deutschlands tun niemandem was zuleide und sind friedlich. Vielleicht sind die dann die „Guten“ und es gibt katholische Selbstmordattentäter, who knows.

Es gibt überhaupt keine Deutschen. Schon jetzt sind wir nicht mehr die „Deutschen“, die wir vor hundert Jahren waren. Und in hundert Jahren werden sich die Deutschen der Zukunft – wenn es sie denn überhaupt noch gibt und wir vielleicht in den Vereinten Mormonischen Nationen von Liechtenstein leben – fragen, über was man sich heute alles erregt hat.

Das gilt auch für die Musik. Ich sehe vor mir, wie ein Mensch des 22. Jahrhunderts Partituren aus dem heutigen „Deutschland“ in die Hand nimmt (vielleicht eine Partitur von Helmut Lachenmann oder Claus-Steffen Mahnkopf), und nicht einmal mehr ansatzweise verstehen wird, dass es sich angeblich hier um „einzigartige“ deutsche Musik mit einer „bestimmten Gefühlskultur“ handelt. Vieles wird vergessen sein, man wird alles anders bewerten. Höchstwahrscheinlich wird es keine „Neue Musik“ mit großem „N“ mehr geben. Man stößt im Netz auf irgendwelche uralten Artikel aus dem Bad Blog und versucht mühsam zu rekonstruieren, um was es da überhaupt ging. SWR-Symphonieorchester? Was ist ein Symphonieorchester?

Ich finde diesen Gedanken nicht erschreckend und es ist auch nicht kulturpessimistisch gemeint. Nichts geht unter, auch wenn etwas anderes an seine Stelle tritt. Alles besteht fort. Und das Leben geht weiter. Irgendwann wird es Menschen auf diesem Planeten geben, die keine Ahnung haben, wer Goethe war, was Beethoven mit seinen Symphonien wollte, was Symphonien sind und who the fuck Christian Thielemann oder Richard Wagner waren. Dafür wird es Platz geben für Neues, und das ist nicht das Schlechteste.

Wir sind keine „Deutschen“ mehr, und sollten es vielleicht auch nicht mehr versuchen, andere darüber zu belehren. Wir sollten erst einmal lernen, „Menschen“ zu sein.

Das wäre ein Anfang.

Moritz Eggert

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4 Antworten

  1. Abgesehen von den letzten Paragraphen, ein sehr guter Text, und bemerkenswert: etwas seriöses von Herr Eggert. Er trifft an die wichtige heutige Fragen der Zeit.

    Man kann in eine Kultur, sei sie auch noch so lokal entstanden, hereinwachsen, absorbieren, mit den Kulturwerten identifizieren. Aber das bedeutet nicht, dass es keine ‚Deutsche Kultur‘ gibt – am Ende entgleisst Eggert’s Predigt. Was Krause wahrscheinlich gemeint hat, und vielleicht selber nicht so klar empfunden, ist dass die verschiedene Europäische Kulturen nur verschiedene Betonungen sind von irgendwelche Eigenschaften die alle zusammen Europäisch sind, in der Urzeit aus Griechisch/Römischer und Christlicher Zivilisation entstanden und die sich weiterentwickelt haben, offen nach aussen und nach der eigenen Vergangenheit, und inklusive universellen humanistischen Werten, wovon man heute überall in der Welt Reflektionen sehen kann.

    Ich habe als ‚Holländische Kulturdeutscher‘ in Frankreich und England gelebt, habe Freunde in Madrid, Budapest und Wien, und es ist klar dass man sich überall in Europa ‚zu Hause‘ fühlen kann, falls man die unterliegende, gemeinsame Werten versteht und fühlt. Der Ausdruck ist oft verschieden, den menschlichen Temperamenten gemäss, wie die Interpretationen eines Musikwerkes verschieden sein kann und wo doch die Identität dieselbe bleibt. In diesen Sinn kann man doch wohl von typisch-Deutschen Kulturwerten sprechen, die bestimmte menschliche Eigenschaften betonen in einem Klima das diese Eigenschaften nährt. Als typisch-Deutsche Kultur-Identitätseigenschaften sind es z.B. Innigkeit, philosophische (selbst-)Analyse, Gründlichkeit, Kultivierung emotioneller und spiritueller Tiefe, Abkehr von Oberflächlichkeit, usw. – also, traditionelle Eigenschaften die seit sehr lang, auch von nicht-Deutschen, als typisch-Deutsche Betonungen empfunden wurden und werden. Und man findet sie auch in Italien, Frankreich, England, und – mit einiger Mühe – in Holland. Aber dort sind sie weniger betont, und sind es andere Eigenschaften die in einer anderen Kombination sich über längere Zeitstrecken gebildet haben.

    In die Musik findet man die Kulturidentitäteigenschaften, wie Grandiosität, durch-gearbeitete Komplexität, die Neigung zur längeren Wortbildung, zurück. Deshalb ist ein Klangkünstler wie Lachenmann gar nicht für die Deutsche Kultur typisch, er ist eine Nachkriegsbewältigungspflichterscheinung. Die ‘moderne Szene’ in Deutschland scheint mir volkommen anti-Deutsch zu sein, eine Karikatur der Deutschen Musik – eine von Berührungsangst bedingte Verneinung der Eigenschaften die doch durch und durch Europäisch sind. Die neue Musik in Deutschland steht in starken Kontrast mit den Deutschen klassischen Aufführungskultur die zu den besten der Welt gehört, und es ist beschämend wie die etablierte Deutsche Komponisten und die ‘neue Musikfestivals’ ihre eigene Kulturidentität leugnen und z.B. einen Clown wie Johannes Kreider Raum bieten.

    Ich denke oft: ‘Deutschland, erwache!’ – kann ich als nicht-Deutscher ohne Nachkriegsbewältigungspflicht sagen – ‘…. zu deiner eigenen Kultur!’ Es ist einfach nicht möglich, dass es in diesem Lande keine Komponistentalenten gebe, die sich über die Brücke der Kriegsperioden die eigene, Europäisch-bedingte Grundlage neu-erfinden könnten. Die nihilistische Ironie die man in der Deutschen neuen Musik oft sieht (hören ist am meisten stark ab zu raten), und die Versuche, bei trendy Amerikanismen an zu knupfen, sind nur als Reaktionen der Ratlosigkeit zu verstehen…. während es so vieles gibt, das man als positives Deutsches betrachten kann, und womit Komponisten sich nähren könnten. (Aber selbstverständlich sind alle diese Gedanken, wie von der Aussenseite geträumt, nur Einladung zum Hohn der Hoffnungslosen.)

  2. Lieber Moritz, die Londoner stimmten ja gegen den Rest Englands: die würden wie die Schotten, oder um Deinen Duktus aufzugreifen, die abstimmenden Menschen in Schottland, gerne in der EU bleiben. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan brachte sogar ins Spiel, dass Greater London seine Unabhängigkeit von England/UK erklären könnte, um dann, so Schottland es doch wahr machen würde, wie diese in der EU zu bleiben. Die Tendenz zur kleineren politischen Struktur als der Einheit und dennoch das Gefühl zu einer kontinentweiten Vereinigung scheint eine Möglichkeit des 21. Jhds. zu sein.

    Ganz neu ist dies allerdings nicht! Schweizer zum Beispiel zerfallen in ihre Sprachregionen und Kantone. Das spiegelt sich auch im Bürgerrecht wider: zuerst hat man das Heimatrecht seines Kantons, der per Zufall Teil der Confoederatio Helvetica ist. Das führt dann zu dem biedermeierlichen Umstand, dass in einigen Kantonen auf Gemeindeebene über jede Person abgestimmt wird, die Neubürger werden will. Schweizer wird dann der, wer nett zu den Nachbarn ist und zurückhaltend, höflich ist sowie Müllsäckchen richtig faltet und schnürt. Gelinde gesagt, sehr skurril. Und dazu sich zur Kantonssprache und Verfassung bekennt. In anderen Ecken des Landes ist es dafür wieder anders, eher eine Verwaltungsentscheidung.

    Auch in Deutschland war es einmal ähnlich: zuerst war man Braunschweiger, dann Bürger Deutschlands. Die traurige Posse um die Deutschwerdung des Österreichers Hitler wirft ein interessantes Licht auf den damaligen Weg, Deutscher zu werden: Ende 1929 versuchte man es in Bayern. Doch das scheiterte noch, da man sich hier noch allzu gut auch auf konservativer Seite an den Hitlerputsch erinnerte. Durch ein Staatsamt, nämlich eine Beamtenstelle als Kunstprofessor in Weimar versuchte man es 1930. Aber auch das scheiterte an Verfassungshürden. Im gleichen Jahr sollte er dann Polizeibeamter in Hildburghausen, auch Thüringen werden. Seine Ernennungsurkunde dazu zerriss dann nach Überreichung, da der Posten ihm zu unbedeutend erschien. 1931 gab es dann erst drei Versuche, die alle steckenblieben, auch weil trotz Regierungsbeteiligung der Nazis noch das Parlament mit Oppositionsparteien funktionierte und es sogar einen Untersuchungsausschuss zu einem dieser Braunschweiger Einbürgerungsversuche gab. Hauptgrund war, dass diese Scheinjobs immer als solche aufflogen. Dann fand man das hohe Amt, dass auch dem Einzubürgernden gefiel: man ernannte ihn im Februar 1932 zum Regierungsrat des Braunschweiger Landeskultur- und Vermessungsamtes. Da es ein politisches Amt war, hievte ihn die NSDAP mit Verbündeten per Parlamentsbeschluss hinein. Somit war er Beamter, automatisch Inhaber der „Staatsangehörigkeit im Freistaate Braunschweig“ und da Braunschweig per Zufall Bundesstaat des Deutschen Reiches war, Deutscher (Reichsbürger). Er hatte sogar kurzzeitig offiziell seinen Wohnsitz dort. Doch ließ er sich 2 Tage später beurlauben, im Herbst 1932 unbefristet. Als er am 26.2.33 dann zum Reichskanzler ernannt worden war, ließ er sich aus dem Braunschweiger Staatsdienst entlassen. Die heutige Form der Staatsangehörigkeit, also dass man deutsche Eltern haben muss und nicht zählt, ob man Bayer oder Bremer ist, und dann erst durch die Mitgliedschaft dieser Staatssubjekte in der Bundesrepublik Deutscher Staatsangehöriger ist – heute modifiziert, dass ein Elternteil Deutsche/r sein muss oder bei ausländischen Eltern einer von denen eine gewisse Zeit einen Aufenthaltstitel hat – , wurde durch den NS-Staat 1934 mit der „Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit“ eingeführt.

    Ich will damit sagen, dass sehr wohl das Lokale eine Art Prägung, „Naturalisierung“, wie man diese Art von Staatsbürgerschaftserwerb auch z.B. im 19. Jhd. nannte, beinhalten kann. So prägen erlernte Bestandteile der Kultur-vor-Ort durchaus, angefangen von Leibspeisen bis hin zum Opernabonnement. Wer einen Kulturberuf ausübt, der aus der Tradition dieses Landes kommt, was in Bezug auf die klassische Musik aber eben auch in vielen Standards europäisch-russisch-nordamerikanisch ist, der taucht im Spezifischen dann doch noch tiefer in die Kunst, Literatur oder Musik dieser Gegend ein. So spielen manche Orchester hierzulande doch eher deutschsprachige Namen (Mozart – ein Österreicher oder Augsburger oder Salzburger?), russische russische, usf.

    Aber es geht auch anders! Denn sehr wohl gibt es Orchester, die mit dem gesamten Repertoire der nördlichen Hemisphäre arbeiten, so dass z.B. eher französische, italienische, angelsächsische, russische, skandinavische, etc. Namen genauso wie deutschsprachige auftreten. Also der Querschnitt durch viele der Nationen, die die klassische Musik teilen, ist Realität, weniger das Homogene. Es sei denn, jemand programmiert dann doch wieder traditioneller. Nur: Bruckner, Schubert, Mozart, Mahler – die waren nicht Deutsche im Sinne des Jahres 1934, sondern Vertreter eines deutschsprachigen Raumes, mit vielen Ästen und Erfahrungen in viele Musikstile Europas.

    Merkwürdig dabei: sehr wohl sprach man ja von a la francese, a la tedesca, a la inglese, a la polacca, „im italienischen Styl“. Musikalisch spielte die Verortung von Stilmerkmalen nach Staaten wie England/Frankreich oder doch eher Kulturräumen wie „deutsch“/“italienisch“ eine wichtige Rolle. Es war auch wichtig, diese Stile bei Benutzung einwandfrei zu beherrschen. Und doch auch wieder, zuerst vorsichtig, später mutiger, zu vermischen. Die „nationalen Schulen“ des späten 19. Jhd. dräuen wieder eher altbacken. Aber auch dies eben nicht nur ein nationales Phänomen, sondern ein europaweites. Dies mündete dann in der Erforschung der Volksmusik, womit es ganz eindeutig wieder ein regionaler Begriff wurde.

    Paradoxerweise ist ja selbst unser derzeitiger Neo-Populismus, der zwar national tut, doch auch vor allem ein europäisches Phänomen, organisieren sich auch die härtesten Europasketiper europaweit. Süffisant ja auch die angebliche Frage von Herrn Farage, wie denn nach dem Brexit der Status seiner deutschen Gattin in Britannien aussehen wird.

    Und bevor nun jemand die Sprüche der Zwölftöner der 2. Wiener Schule herunterbetet, dass diese damit die Vorherrschaft der „deutschen Musik“ sichern wollten: die Dodekaphonie war ja kein nationales Ereignis, sondern fand in Nischen von doch durchlässigeren Kulturräumen statt, als es deren Vertretern damals vielleicht bewusst war: Neben Schönberg und Hauer gab es in Russland Golyscheff und Roslawetz. Jeder sein eigenes System. Der Weg dahin begann schon viel früher bei unterschiedlichen Komponisten. Also ein europaweites Phänomen in einigen Nischen. Auch der Neoklassizismus ergriff eben wiederum zumindest in Anwendung von Suiten oder ähnlichen Formmustern selbst die Zwölftonkomponisten. Ja, weniger nischenhaft als die Dodekaphonie.

    Um zum Amoklauf zurückzukehren: der Täter rief ja was von Rückkehr in die Hartz4-Gegend. Der Deutschiraner ermordete vor allem Menschen aus anderen Ländern. Die trafen sich eben gerne an jenem Olympia-Einkaufszentrum, wie sich andere eben in Philharmonien begegnen. Das Verrückte: das Publikum einer Shopping-Mall ist eindeutig internationaler als heute noch so manches altbürgerliche Philharmonienpublikum. Nicht dass die Musik in Konzertsälen nun auf Shopping-Mall-Niveau sinken müsste. Aber gerade wenn es sich nicht nur durch besonders „deutsches“ Repertoire, dass ja auch meist eher österreichisch ist, dann öffnet es sich, dann zieht es auch neues Publikum.

    Es gibt ja von Moritz Hämmerklavier 6, das sich auf Oum Kaltoum/Kalsoum bezieht. Nach dem ersten Hören dieses Klavierstücks vor vielen Jahren bin ich tatsächlich zum ersten Mal auf Umm Kulthum (wie man sie heute schreibt) gestossen. Neulich erst spielte ich ein nicht endendes Konzert von ihr als Youtube-Video ab. Es hörten arabische Securitymitarbeiter mit aus dem Irak, Syrien, Libanon, Ägypten, Tunesien. Der Tag gehörte dann mir!

    Wie wäre es nun, diese Melodien relativ 1:1 für Orchester zu arrangieren? Ein wenig das Rauschen der Originalbänder a la Filidei rauschen lassen, instrumentiert zwischen Chatschaturjan und Kyburz, ein paar Einsprengsel a la Huber, ein wenig Video a la Kreidler, Vokalartistin mit Oudbegleiter trifft auf Pianist mit Radiergummi, alles amalgamiert: Die Bude wäre voller denn je…

  3. Ach, grins: und wer gibt mir zum Kulthumstückals sozusagen als orientalisch-okzidentales Kultstück den Auftrag?

  4. @Moritz: Danke für diesen emotionalen Text, der viele wichtige Punkte anspricht :-)
    Die Idee, dass ein Staatsgebilde auf ethnischer Homogenität basieren sollte, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Im Grunde keine schlechte Idee, aber eben eine aus dem 19. Jahrhundert. Das ethnisch mit Abstand homogenste Land im 21. Jahrhundert ist übrigens Nordkorea. Supi.

    In seinem Alternate-History-Roman „The Man in the High Castle“ von 1962 hat Philip K. Dick ebenso brilliant wie diabolisch ein mögliches Szenario nach dem Sieg Hitlers beschrieben, in dem dessen Menschenzuchtprogamm an *biologische* Grenzen stößt, weil aufgrund des stetig ansteigenden Mangels an genetischer Varianz immer weniger geistig und körperlich robuste „Arier“ zur Welt kommen. Das Streben nach „Reinheit der Rasse“ produziert letztlich eine Menge von „Erbkranken“, die dann selbstverständlich der „Euthanasie“ zugeführt werden müssen. So schafft sich der Nationalsozialismus sozusagen aus seiner inneren Logik heraus selbst ab.

    Natürlich gibt es spezifische Eigenschaften, die bei Menschen in einer bestimmten Region überzufällig häufig auftreten, das zu leugnen wäre sinnlos.

    Aber *welche Schlüsse sollte man daraus ziehen*?

    Nun, die einen picken sich aus diesen Spezifika diejenigen heraus, die ihnen am besten gefallen, leugnen alle anderen, eher peinlichen, aber nicht minder häufig zutreffenden Eigenarten, und erklären das, was übrigbleibt, zum „Nationalcharakter“ (heute heißt es etwas softer „Mentalität“). Eine eigentlich reichlich realitätsferne Abstraktion (bei Luhmann hieße sie vermutlich „Leitdifferenz“, man darf sie aber auch ruhig „Wunschvorstellung“ nennen), die aber den Vorteil hat, reale Komplexität auf einen Schlag zu binarisieren (auch dies ist Luhmannsprech, ich weiß, passt hier aber ganz gut): Vor Einführung der Leitdifferenz „deutsch/undeutsch“ gab es einen unübersichtlichen Haufen von „Leuten“, „Typen“, oder „Bürgern“, danach gibt es nur noch „Deutsche/Nicht-Deutsche“. Im Zweifelsfall wird per Gesetz festgelegt, wer wohin gehört, basta. Und so wird aus einer geschönten statistischen Abstraktion die gedankliche Grundlage eines Gebildes namens „Nationalstaat“. So mehrfach geschehen im Europa des 19. Jahrhunderts.

    Die anderen lassen diese spezifischen Eigenschaften sozusagen „rechts liegen“ und entwickeln erst mal einen konkreten, realistischen Wertekatalog, dem sich alle, unabhängig von ihrer Ethnizität, unterwerfen müssen. Total utopisch? Nee, denn so ist, vereinfacht gesagt, das Gebilde entstanden, das wir bis heute U.S.A zu nennen pflegen. Dort gibt es zwar jede Menge Rassismus, aber selbst der übelste Redneck käme nicht auf die Idee, ein Afro-Amerikaner sei „eigentlich“ kein Amerikaner.

    Sagt der Deutschtürke zum Afro-Amerikaner: „Du bist *so* amerikanisch!“, wird dieser dies vermutlich als Kompliment auffassen. Sagt dagegen der Afro-Amerikaner zum Deutschtürken: „Du bist *so* deutsch!“ [bzw. zum Franko-Algerier: „Du bis *so* französisch!“], kann es schon mal böses Blut geben.

    Ich denke mal, das eigentliche, aber nur selten direkt angesprochene Problem *aller* Menschen des 21. Jahrhunderts ist, dass sie es mit bislang für unmöglich gehaltenen Freiheitsgraden zu tun haben. Viele überfordert das und sie verfallen in einer sog. „Optionsparalyse“, also eine innere Erstarrung aufgrund von zuviel Wahlmöglichkeiten, von denen sich aber keine wirklich aufdrängt. Andere wiederum leugnen einfach, dass es diese Freiheiten überhaupt gibt. Wieder andere kriegen einen tüchtigen Schreck und suchen ihr Heil in den Ideen der Vergangenheit. Nur relativ wenige versuchen wirklich ernsthaft, im 21. Jahrhundert zu leben. An die versuche ich mich zu halten.