Münchener Biennale 2016 I – Sweat of Audience

Der… Der Anfang…. lösch… Der Beginn…. lösch lösch… Das Anfangen… lösch lösch lösch lösch. So ähnlich beginnt „if this then that and now what“, die zweite Biennale-Premiere in München. Drei Stunden vorher ging es aber mit „Sweat of the Sun“ nach „Eroberung des Nutzlosen“ von Werner Herzog los. Komponist David Fennessy wollte damit die Mythologisierung, den Traum der erneuerten Dschungeloper in Manaus am Amazonas aus Herzogs „Fitzcarraldo“ an die entgegen allen Gewittern zur Zeit gemächlich plätschernde Isar holen, ins Muffatwerk zu Füssen des Gasteigs. Eigentlich eine interessante Idee. Eine schlicht uninteressante Idee war dagegen, die Premiere, überlaufen von der Musik-Haute-Volée Münchens, die die erste Opernproduktion der neuen Biennaleära Tsangaris-Ott hautnah miterleben, nicht mit fixen Sitzplatzkarten zu füllen, sondern freie Platzwahl zu ermöglichen. Das seit Jahrzehnten Muffathallen-erfahrene Publikum erwartete die übliche aufsteigende Tribüne oder eine lockere Sitzverteilung. Allerdings war der Raum ein schräg in die Halle hineingebautes Tribünenbecken, mittendrin das Münchener Kammerorchester. Mittelaufgänge wurden zuerst von Personen, die sich später als Sänger entpuppten gesperrt, so wurde man zu Seitenaufgängen zurückgescheucht. Alles nahe dran, ins Chaotische zu kippen, denn man musste durch das Becken, wollte den auf den ersten Blick akustisch und optisch besten Platz erwischen, konnte aber am eigentlichen Aufgang zuerst nicht weiter, stolperte weiter, wieder zurück. Das mag die eigene Unruhe gewesen sein. Die Koproduktion mit dem Theater Osnabrück war aber nahe dran, diese ins Versicherungsgefährliche kippen zu lassen.

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Was für ein Spiesser bin ich doch! Aber darin doch ein seiner alten Gewohnheiten zu entwöhnender Biennalegänger? Allerdings werde ich lieber durch Szene und Musik geschockt als durch Einlasschaos.

Die Einlasssituation war wohl schon mittement im Stück. Denn von allen Seiten hörte man Tischgitarren lange Töne spielen, an den beiden freien Wänden waren Videoausschnitte aus dem die herzogschen Dreharbeiten begleitenden Dokumentarfilm zu sehen. Bis weit ins Stück hinein immer wieder Loops von hängengebliebenen Caruso-Schellackplatten. In der Mitte sass zuerst das zusammengeballte Streicherensemble, in der Mitte der Klaus Kinski evozieren-sollende Schauspieler (Dennis Pörtner). Wilde Glissandi, von den oberen Tribünen, später von der Beckenseite Posaunenattacken. Wirklich ins nasse Becken war wohl der Assistent des Kammerorchester-Dirigenten gesprungen, denn Alexander Liebreich sass anfangs im Becken seitlich auf einem Kontrabassstuhl. Derweil dirigierte Sebastian Schwab, eigentlich Komponist und Geiger, sein Debüt im anspruchsvollen ersten Teil der Partitur, die Musiker an allen Ecken um sich herum, Schauspieler und Sänger im ganzen Raum verteilt, im Prestissimo zusammenzuhalten. Mit dem danebensitzenden Kammerorchesterchef wirkte das wie eine Dirigierprüfung. Sehr gut gemacht, Sebastian!

Auf dem nun sicheren Tribünenplatz vermittelte sich der Raum als das Beste dieses Musiktheaters. Nach dem wilden Anfang wurden die Musikerpodeste samt Musikern auseinandergefahren und gaben so die Mitte für die szenische Aktion frei. Könnte es wie Ruhrtriennale werden? Wurde es aber nicht! Die Mitte überließ man der wunderbaren Altistin Annette Schönmüller. Als Fitzcarraldo-Molly schwebte sie in einer Klarinettenarie herein. So schön Carusosamples sind: im Literaturopernduktus singende Sänger, ja total böses Zeugs, ich weiß, wo sich der Komponist trotz aller Vorbilder „auf den Hosenboden setzte“ (sage ich wie ein Monokel-Onkel) und sich durch das Subjektive einer Rolle (die doch nur ein abstraktes Konstrukt ist – wie kann das interessant zu komponieren sein – ist es aber!) zu einer Vokallinie inspirieren lässt, also so was altbackenes wie „Auktorialität im Vokalen“ zu Tage tritt, dann wird es irgendwie „schön“. Allerdings ließ das Ende dessen nicht lange auf sich warten – ein Belcantozitat setzte dem ein Ende. Molly-Kostüm runter! Übrig blieb eine Sängerin in T-Shirt und Unterhose. So widerfuhr es dem ganzen Ensemble. Immerhin führte das zum grössten Rätsel des Abends: manche trugen Turnhosen mit den drei Streifen aus Herzogenaurach, manche nur mit zwei Streifen. Hatte man da beim Einkaufen nicht genau hingesehen oder beim Umnähen im Münstlerland Franconiakomplexe?

Sofern im weiteren Verlauf der Blick nicht auf der Gegentribüne versuchte, die Besucheranzahl zu ermitteln, verfiel man im Urwaldklang der Sciarrino-basierten Streichersounds in Erinnerungen an Schedls „Tilt“ in der Reithalle, an die Bühne von Ruth Berghaus in Schweinitz „Patmos“ in der Kongresshalle, an „Snatched by the Gods“ von Param Vir – dem ersten Stück überhaupt in der Muffathalle – , gefolgt von „Marco Polo“ von Tan Dun und „Solaris“ von Michael Obst, an Komödie ohne Titel, an Gramma, Wasser, Jude von Malta und was noch alles. Und an den Film von Werner Herzog musste man auch denken. Denn als der Kinsiki-Schauspieler dann endlos auf Englisch rezitierte, ärgerte ich mich dann ziemlich über die fehlende Abstraktionsfähigkeit der Produktion: warum enthielt man mir in der Kinsiki-Partie einen handbag-throwing Countertenor vor oder eine Mikrowellen-Koloratursopranistin a la Kassandra vor? Einzig der Raum entschädigte ein ganz klein wenig: riesige Metallzithern (von Zoro Babel?) segelten herab, die Kontrabassisten improvisierten auf deren Flügelsubbasssaiten herum. Aus.

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