Jan Müller-Wieland und die fünfzigjährige Unmöglichkeit der Langeweile
Jan Müller-Wieland ist vor wenigen Tagen – vollkommen überraschend für alle die ihn kennen – 50 Jahre alt geworden. Zu seinem Geburtstag habe ich ihm – meinem langjährigen Freund – einen kleinen Text geschrieben, den ich hier auszugsweise wiedergebe…
Erinnerungen sind immer sehr individuell, und nachdem Du auf meinem letzten Geburtstag, der zuffälliger- und unmöglicherweise auch ein runder war, Deine Erinnerungen an mich geteilt hast, möchte ich dies umgekehrt auch tun.
Unsere erste Begegnung im legendären Hilchenbach hast Du schon treffend beschrieben. (…)
Aber an was erinnere ich mich – zuerst einmal an einen hochgewachsenen und vollkommen skurrilen Hanseaten mit lauter Stimme und schlaksigen Bewegungen, der ein Orchesterstück über eine Tanzszene in seinem Lieblingsfilm „Frühstück bei Tiffany’s“ geschrieben hatte, und dies in einer Zeit des allgemeinen Adorno-Duckmäusertums auch ganz offen zugab. Wofür er natürlich von Killmayer sowie auch mir – eigentlich nur Zaungast in diesem Kurs für begabte und aufstrebende Komponisten – sofort aufs intensivste bewundert wurde, denn andere kamen dafür in die Verbannung.
Ich kann mich noch genau an Dein Stück erinnern, lieber Jan, an diese quasi fruchtig aufschäumenden Streicherakkorde, das rumpelnde Schlagzeug (das ich größtenteils bedienen musste) und Deine ungehemmte aber irgendwie auch beeindruckend ent-hemmte Benutzung von Tonalität, die aber jederzeit in komplexe Dissonanz umschlagen konnte. Ich war überwältigt – so konnte man also auch komponieren!
In den folgenden Jahren hielten wir zu meiner großen Freude – und das war in den Zeiten vor Internet nicht selbstverständlich – regelmäßigen Kontakt. Grund dafür gab es genug, denn in unserer dann doch sehr kleinen Szene hat man in einem bestimmten Alter immer miteinander zu tun auf diversen Kursen und Festivals.
An unsere nächste Begegnung bei der Darmstädter Frühjahrstagung kann ich mich gut erinnern: Direkt hintereinander stellten wir dem gestrengen Johannes Fritsch und dem jovialen Diether de la Motte unsere jeweiligen Werke vor. Du hattest ein wildes und verrücktes Klavierstück geschrieben, dass vor allem, also wenn ich ehrlich bin eigentlich NUR aus Cluster-Tremoli bestand. Des verknöcherten Altavantgardisten Johannes Fritsch‘ Gesicht schrumpfte beim Hören immer angewiderter auf die Größe einer Briefmarke, während Du gut gelaunt den interessierten Hörern etwas über Deine Musik erzähltest. Irgendwann unterbrach Fritsch Dich und fragte verärgert: „Können Sie mir irgendeinen Grund sagen, warum Sie in Takt 193 ausgerechnet exakt eine Oktave nach oben transponieren, aber es ist dieselbe Musik wie vorher?“
Du antwortetest ohne zu Zögern mit dem Satz, der uns heute als Kompositionsprofessoren die Zornesröte ins Gesicht steigen lässt: „Herr Fritsch, mit Verlaub: Ich habe das einfach so gewollt!“. Auch dafür habe ich Dich bewundert.
(…)
Selbst in München nahmen wir bald wahr, dass Du Dir als Komponist zunehmend einen Namen machtest und erstaunlich oft in unserer heimlichen Hauptstadt auftauchtest. Das war nicht zuletzt unserem gemeinsamen Mentor Henze zu verdanken, der die Stadt ins Biennale-Fieber versetzt hatte. Biennale hieß ab nun die nächsten 12 Jahre: mindestens eine Opernaufführung von Jan Müller-Wieland, und ich denke, das war eine gute Entscheidung.
An die allererste Oper von Dir können wir uns alle gut erinnern: Claus Guth inszenierte, am Schlagzeug unter anderem Peter Sadlo, am Klavier Michael Endres, Martin Zehn und ich. Aber vorher gab es endlose Proben unter Deinem Dirigat in der damals noch gar nicht fertig gestellten Muffat-Halle, die mit riesigen Heizluftrohren künstlich geheizt werden musste. Wir waren als Musiker immer sehr froh, wenn Du als Dirigent auftauchtest, denn erstens hatte man dann eine super Probenstimmung und vor allem konnte man Dich im Gegensatz zu anderen immer gegen das laute Gebläse verstehen.
Bei Deinem Stück hatten wir damals alle einen Riesenspaß – ich weiß noch, dass die Hauptrolle von einem Sänger gesungen wurde, der dem musikalisch gängigen Begriff der „al fresco“-Interpretation eine gänzlich neue Dimension verlieh. Um es genau zu sagen: Er sang eigentlich keinen einzigen Ton den Du geschrieben hattest, sondern irgendetwas anderes, mehr oder weniger wann und wie er wollte. Irgendwann fragte ich Dich schüchtern, ob Dir das denn gar nichts ausmachte, und Du antwortetest einfach nur: „Aber der spielt doch so toll!“. Hier sprach der Vollblut-Theatermensch der Du immer warst und der Du immer sein wirst!
Das Stück forderte auch die Pianisten – so waren bestimmte Passagen und schwarze Tasten-glissandi nur unter Einsatz von Hilfsmitteln wie Brettern und Bleistiften spielbar, ansonsten riskierte man schwere Handverletzungen. Das „pièce de resistance“ war eine unschuldig mit „Reggae“ betitelte Passage, bei der alle 6 Musiker durchgehend in 7fachem forte alle Töne ihres jeweiligen Instruments anschlagen mussten, und das gefühlte 10 Minuten lang. Dazu sang der oben genannte Sänger, aber man hörte ihn gottseidank nicht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals wieder eine solche entgrenzte Musik gehört zu haben, und es ist für Dich typisch, dass Du extreme Dynamiken in der Partitur auch mit extremen Anweisungen verbindest, den Exzess also auch verbal herausforderst.
Bei der Premiere im Großen Saal im Gasteig waren wir sehr aufgeregt. Ich hatte mir vorgenommen, meine Bleistifte nach dem letzten Glissandi mit einer großen Geste in Richtung des damaligen Bürgermeisters Kronawitter zu schleudern, der in der ersten Reihe neben Henze saß. Aber o weh: ich hatte vergessen, die Bleistifte mit auf die Bühne zu nehmen! Den Schmerz meiner zerstörten Hände ertränkte ich später auf der Premierenfeier mit viel Alkohol…
(…)
Dass wir jetzt Kollegen sind und Du sogar in derselben Stadt wohnst, ist auch für mich ein Glück, über das ich jeden Tag aufs Neue dankbar bin. Und immer wieder bringe ich meinen Studenten Deinen wichtigsten Lehrsatz bei: „mf ist die langweilligste Dynamik überhaupt“.
Und dass Du nie, nie, nie langweilig bist und warst, das kann man Dir auf jeden Fall attestieren. Der unschuldige Name Müller-Wieland gehört einem Giganten der Fantasie, einem furchtlosen Gipfelstürmer, der seine Töne links und rechts in die Ebene des Durchschnittlichen schleudert, dass es nur so kracht. Deinen letzten Blitz mit dem wunderbaren Klaus-Maria Brandauer konnten wir gerade erst erleben, Riesenchor, Riesenorchester und Riesensolisten waren immer noch fast zu wenig für Deine Phantasie, es hätten noch ein paar hundert Mann mehr sein können. Beim nächsten Mal, lieber Jan, beim nächsten Mal.
Alles Liebe und erdenklich Gute zum…Geburtstag!
Dein
Moritz
Komponist